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Mai 05/1999
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Ein Parlament wird erwachsen

Gemälde

Als der designierte Kommissionspräsident Romano Prodi Anfang Mai vor den Abgeordneten des Europaparlaments sein Programm vorlegte, da nannte er als eine der wichtigsten Aufgaben die "Neudefinition der institutionellen Rolle der Kommission im Verhältnis zu Rat und Parlament". Diese Feststellung ist bezeichnend: War es bisher immer das Parlament, das sich die Rechte, die es als demokratisches Kontrollorgan benötigt, mühsam erkämpfen muß, so gerät mittlerweile die Brüsseler Verwaltung angesichts einer selbstbewußteren Volksvertretung immer stärker unter Druck.

Ein hoher Beamter der Kommission faßte das "Dilemma" kürzlich noch deutlicher zusammen: "Wir haben über Jahrzehnte darum gekämpft, nicht nur ein Sekretariat der Mitgliedstaaten zu sein, jetzt müssen wir aufpassen, nicht zum Sekretariat des Parlaments zu werden". Diese Feststellung ist sicher überspitzt – auch die große Mehrheit des Parlaments will eine starke Kommission, die die europäische Einigung voranbringen kann. Auf der anderen Seite wird man sich aber auch in der Verwaltung daran gewöhnen müssen, daß man nicht länger im luftleeren Raum agieren kann, sondern sich einer immer stärkeren demokratischen Kontrolle unterwerfen muß. Genauso werden aber auch die Regierungen nicht um die Erkenntnis herumkommen, daß auch sie weitere Rechte an ein stärker werdendes Parlament abtreten müssen.

Dazu sind grundsätzliche Reformen in der EU nötig: Die Struktur der Kommission entspricht heute immer noch eher der einer internationalen Verwaltungsbehörde als der einer echten Regierung, die von einem Parlament eingesetzt und kontrolliert werden könnte. Dies zu ändern, würde jedoch bedeuten, die Union zu einem echten Staatsgebilde mit föderalen Strukturen weiterzuentwickeln – eine Grundsatzentscheidung, zu der viele Regierungen heute (noch) nicht bereit sind. Nur so könnte das Europäische Parlament aber die Rolle einer echten demokratischen Volksvertretung, wie sie in den Mitgliedstaaten definiert wird, erhalten. Bisher fehlt den Abgeordneten dazu neben der Mitwirkungsmöglichkeit an der gesamten Rechtsetzung und der Kontrolle über alle Teile des EU­Haushalts vor allem das Recht, eigene Gesetzesinitiativen zu ergreifen.

Mit dem Amsterdamer Vertrag, der vor wenigen Wochen in Kraft getreten ist, wurden allerdings, wie schon 1986 mit der Einheitlichen Europäischen Akte über die Schaffung des Binnenmarktes und 1991 mit dem Maastrichter Vertrag über die Gründung der Europäischen Union, die Mitwirkungsrechte der Parlaments erneut ein Stück vergrößert. Daß der Forderungskatalog der Abgeordneten dabei bei weitem nicht erfüllt worden ist, ist verständlich, bedeutete doch das Mitentscheidungsverfahren gleichzeitig, daß im Ministerrat durch ein Mehrheitsvotum entschieden wird, die einzelnen Regierungen also auf ihr Vetorecht verzichten müssen. Gerade in den sensiblen Bereichen nationaler Souveränität wie dem Steuerrecht oder Fragen von Asyl und Einwanderung sind einige Mitgliedstaaten bisher jedoch nicht bereit, sich Mehrheitsvoten der EU zu unterwerfen – auch, wenn dies bedeutet, daß damit auf der europäischen Ebene nur sehr mühsame Fortschritte erzielt werden können.

Dennoch ist festzustellen, daß die Befugnisse der EU­Organe und damit auch des Parlaments in den fast 50 Jahren der europäischen Einigung schrittweise weiter gewachsen sind. Das Ziel, nur noch Änderungen des EU­Vertrages der ausschließlichen Kompetenz des Rats zu unterwerfen, ist noch lange nicht erreicht, aber es wird heute immerhin formuliert. Dabei haben es die Abgeordneten sogar schon geschafft, bei der Erarbeitung des Amsterdamer Vertrages eine eigene Beteiligung durchzusetzen – wenn auch nur bei der Vorbereitungskonferenz für die eigentlichen Verhandlungen.

Seit seinen Anfängen hat das Europäische Parlament damit einen weiten Weg zurückgelegt. Als 1952 die "Gemeinsame Versammlung" der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl erstmals zusammentrat, da war sie ein reines Delegiertenparlament, das sich aus nationalen Abgeordneten zusammensetzte und kaum echte Kompetenzen hatte. Daran änderte sich auch nur wenig, als 1958 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) hinzukamen und die Versammlung den Namen "Europäisches Parlament" erhielt. Ihm wurden in den sechziger Jahren von Rat und Kommission einige Kontrollrechte eingeräumt, die jedoch nicht vertraglich verankert wurden. Den Anspruch, bei der Rechtsetzung der Gemeinschaften zumindest konsultiert zu werden, mußten die Abgeordneten schrittweise durch Urteile des Europäischen Gerichtshofes durchsetzen.

Dennoch kam das Parlament lange nicht über die Rolle eines "Diskussionsforums" hinaus, das zwar immer wieder Initiativen für die weitere Entwicklung der europäischen Einigung ergriff, sich damit aber bei den Regierungen kaum Gehör verschaffen konnte. Dies begann sich erst zu ändern, nachdem 1979 die Bürger erstmals zur Direktwahl ihrer europäischen Volksvertretung aufgerufen waren. Seither hat sich das Parlament im institutionellen Gefüge der Union eine Stellung erkämpft, die es zu einem wichtigen Mitspieler bei der europäischen Gesetzgebung macht: Es kann über sein Haushaltsrecht alle wesentlichen Aktivitäten der Union mitbestimmen und durch parlamentarische Anfragen, Untersuchungsausschüsse und Dringlichkeitsdebatten die Arbeit der anderen Organe beeinflussen.

Dabei haben die Abgeordneten immer wieder Fakten geschaffen und sich Kompetenzen angeeignet, die zunächst über ihre eigentlichen Rechte hinausgingen und erst nachträglich dann vertraglich verankert wurden. So mußte sich nach dem Maastrichter Vertrag, der den Abgeordneten das Recht einräumte, zur Ernennung des Kommissionspräsidenten "angehört" zu werden, der damalige Kandidat Jacques Santer einem Votum des Parlaments stellen und gleichzeitig zusichern, daß er im Falle eines Scheiterns auf die Kandidatur verzichten würde. Mit dem Amsterdamer Vertrag wurde dem Parlament dann auch offiziell das Recht eingeräumt, einen Kandidaten der Regierungen abzulehnen.

Robert Schuman
Robert Schuman, Präsident des Europäischen Parlaments 1958-1960

Die Zustimmung zur Santer­Kommission 1995 war gleichzeitig der Auftakt für eine Kampagne des Parlaments, seinen Einfluß in die Brüsseler Verwaltung hinein auszudehnen. Im Zusammenhang mit der BSE­Krise schreckte die Mehrheit der Abgeordneten allerdings noch vor der letzten Konsequenz, der Absetzung der gesamten Kommission durch ein Mißtrauensvotum, zurück. In der Öffentlichkeit mußte sich das Parlament danach einmal mehr den Vorwurf gefallen lassen, nur ein "zahnloser Tiger" zu sein. Anfang dieses Jahres wurde der Druck des Parlaments dann so stark, daß es die Kommission vorzog, durch geschlossenen Rücktritt einem Mißtrauensvotum zuvorzukommen.

Verschiedene Unregelmäßigkeiten innerhalb des Beamtenapparates und Vorwürfe der Vetternwirtschaft waren dabei nur der Auslöser einer Auseinandersetzung, von der auch einzelne Abgeordnete einräumen, daß sie vor allem ein Machtkampf zwischen den Institutionen war. Dabei ging es schon bald nicht mehr um die einzelnen Vorfälle – die zudem in den meisten Fällen auf die Zeit vor dem Amtsantritt der Santer­Kommission zurückgingen – sondern vielmehr um die Forderung des Parlaments, Zugang zu allen internen Unterlagen der Exekutive zu bekommen. Die Herausgabe dieser Dokumente wurden jedoch zum Teil aus juristischen Gründen verweigert. Dennoch konnte das Parlament mit einem "unabhängigen Weisenausschuß", der die Vorgänge innerhalb der Kommission untersuchte und dessen Bericht der Anlaß für deren Rücktritt war, zumindest einen Teilerfolg erzielen.

Dabei hatten die Abgeordneten ursprünglich nur den Rücktritt einzelner Kommissare erzwingen wollen – auch dies eine Forderung, die über ihre eigentlichen Kompetenzen hinausging. Inzwischen zeichnet sich aber bereits ab, daß dem Parlament bei einer nächsten Vertragsänderung diese Möglichkeit eingeräumt werden dürfte. Damit hätte es das Parlament einmal mehr geschafft, seine demokratischen Kontrollrechte durch die Schaffung von Fakten auszuweiten.

Durch den Erfolg in der Auseinandersetzung mit der Kommission selbstbewußter geworden, schrecken die Abgeordneten auch vor Kraftproben mit den Regierungen nicht mehr zurück. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit wurde zuletzt die Einigung des Berliner EU­Gipfels über die Finanzausstattung der Union in den kommenden Jahren noch einmal nachgebessert. Drei Milliarden Euro mußten die Regierungen zusätzlich zusagen, um die wichtigsten Forderungen des Parlaments zu erfüllen. Gleichzeitig konnten die Abgeordneten dabei dem Rat zusätzliche Kompetenzen abtrotzen: Aus dem Agrarhaushalt, der fast die Hälfte des EU­Budgets ausmacht und bisher nicht vom Parlament beeinflußt werden kann, wurden zumindest kleinere Teile seiner Kontrolle unterstellt.

Gemeinschaft in Maastrich
Bundesaußenminister Hans­Dietrich Genscher und Bundesfinanzminster Theo Waigel unterzeichnen am 7. Februar 1992 den Vertrag zur Wirtschafts­ und Währungsunion der Europäischen Gemeinschaft in Maastricht.

Vor allem aber ist es den Abgeordneten durch die Auseinandersetzung mit der Kommission rechtzeitig vor der Wahl gelungen, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen. Das begrenzte Interesse der Medien an seiner Arbeit und der auch dadurch bedingte geringe Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung war in der Vergangenheit stets eines der wichtigsten Hindernisse bei seinem Kampf um Anerkennung. Jetzt konnte ein Bewußtsein geschaffen werden, daß die Europäische Union tatsächlich über eine demokratische Kontrolle verfügt, die – so jedenfalls hoffen die Abgeordneten – bei der Beteiligung an den Europawahlen am 13. juni diesen jahres ihre Wirkung zeigen sollte.

Wählen gehen
SPANNENDE WAHL

Der Ausgang der Europawahlen verspricht vor allem auf europäischer Ebene spannend zu werden: Zum ersten Mal überhaupt könnte es die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) schaffen, stärkste Fraktion im Straßburger Parlament zu werden. Durch die Aufnahme zahlreicher konservativer Abgeordneter ist die Fraktion während der vergangenen Legislaturperiode stetig gewachsen und lag zuletzt mit 201 Sitzen nur noch knapp hinter den Sozialdemokraten und Sozialisten (SPE/214). Die restlichen 211 Mandate verteilten sich auf sechs Fraktionen sowie auf eine Gruppe der Fraktionslosen.

Die Konzentrationskampagne, mit der SPE und EVP zuletzt Abgeordnete der kleinen Fraktionen angelockt haben, war allerdings nicht unumstritten. Der belgische EVP­Vorsitzende und frühere Ministerpräsident Wilfried Martens verlor für die anstehende Wahl sogar seinen Listenplatz, weil er die Aufnahme der Abgeordneten der "Forza Italia" von Silvio Berlusconi in die Fraktion vorangetrieben hatte.

In Deutschland dürfte die Wahl vor allem zum ersten großen innenpolitischen Test für die Bundesregierung werden. Vor vier Jahren lag die SPD mit 40 Mandaten noch deutlich hinter CDU/CSU, die 47 Sitze eroberte. Die restlichen 12 deutschen Sitze gingen damals an die Grünen. Bei dieser Wahl hoffen aber auch F.D.P. und PDS auf den Einzug ins Europaparlament.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9905/9905006
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