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Juli 06/1999
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"Die gesetzlichen Kassen sind nicht dazu da, teure Placebos zu finanzieren"

Ärzte, Apotheker und Schwestern gehen auf die Straße, Mediziner drohen, ihre Patienten nicht mehr zu behandeln, Standesvertreter kündigen den Zusammenbruch des Gesundheitssystems an. Selten hat eine Gesundheitsreform zu derart emotionalen Auseinandersetzungen geführt. Nach der ersten Lesung der Reform im Bundestag trafen sich die beiden gesundheitspolitischen Sprecher von SPD und Union, Gudrun Schaich­Walch und Wolfgang Lohmann, zum Streitgespräch, moderiert vom Journalisten Axel Mörer.

Schaich-Walch und Lohmann

Blickpunkt Bundestag: Warum wird die Auseinandersetzung um die Gesundheitsreform so emotional geführt, verbunden mit oft persönlichen Angriffen?

Schaich­Walch: Weil es die Leute direkt betrifft. Jeder Abgeordnete wird in seinem Wahlkreis unmittelbar mit dem Problem konfrontiert. Es kommt niemand in mein Büro, um mit mir über den G­8­Gipfel zu diskutieren. Die Menschen wollen wissen, wie es mit ihrer Gesundheitsversorgung weitergeht, wieviel sie zuzahlen müssen und ob sie noch ihre gewohnten Behandlungen finanziert bekommen.

Offenbar zeigen aber doch die Horrorszenarien der Ärzte Wirkung, die unverhohlen mit dem Zwei­Klassen­Recht drohen und ankündigen, nicht mehr alle Patienten behandeln zu können.

Schaich­Walch: Es ist doch schon heute so, daß der Arzt entscheidet, welche Behandlung ein Patient bekommt und welche nicht. Das entscheidet er unter den Kriterien der Notwendigkeit und auch der Wirtschaftlichkeit. In diesem Punkt verändert sich überhaupt nichts. Natürlich sind Ärzte auch Unternehmer. Und da wir immer mehr Ärzte haben, hat das auch Auswirkungen auf die Kosten und die Art, wie Ärzte eine Praxis führen. Das Problem ist eher die Aufteilung der Honorare unter den Ärzten. Die starke Steigerung der Behandlungskosten läßt sich jedenfalls nicht plausibel begründen. Weder altern die Patienten innerhalb eines Jahres um zehn Jahre, verbunden mit hohen Behandlungskosten, noch explodiert der medizinische Fortschritt innerhalb eines Jahres. Bei gleichbleibender Patientenzahl wird das Globalbudget aufgrund der höheren Tarifabschlüsse sogar um etwa zwei Prozent im Jahr steigen. Über solche Zuwachsraten würde sich manches Industrieunternehmen freuen.

Lohmann: Beim Gesundheitsstrukturgesetz 1993 sind auch wir noch davon ausgegangen, daß die Lohnsummen und damit auch die Beiträge zu den Krankenkassen steigen werden. Inzwischen wissen wir, daß die Arbeitslosigkeit noch Jahre auf hohem Niveau bleiben wird und die Beiträge nicht wesentlich steigen. Deshalb führt das Globalbudget auf Dauer zur Rationierung. Da haben die Ärzte recht.

Seit Anfang der 90er Jahre ist die Zahl der niedergelassenen Ärzte um rund 25 Prozent auf 125.000 gestiegen bei gleicher Patientenzahl. Ist hier nicht ein wichtiger Grund für die Kostensteigerungen zu suchen?

Schaich­Walch: Das ist eines der gravierendsten Probleme. Dabei haben sich die Ärzte an einen jährlichen Honorarzuwachs so sehr gewöhnt, so daß sie jetzt um so lauter Kritik üben. Spricht man mit den Ärzten, sind sie sich des Problems aber durchaus bewußt. Der in die Reform aufgenommene Vorschlag, für Praxen, die nicht mehr gebraucht werden, Stillegungsprämien zu zahlen, kommt aus der Ärzteschaft.

Lohmann: Die Lösung des Problems der Ärzteschwemme ist auch der alten Regierung nur begrenzt gelungen, wie ich einräumen muß, weil häufig verfassungsrechtliche Probleme wie die Freiheit der Berufswahl im Wege stehen. Richtig ist, daß die Honorare für den einzelnen wegen des Zuwachses an niedergelassenen Ärzten in der Vergangenheit nur unwesentlich gestiegen sind. Das Einkommensproblem der Ärzte ist vor allem ein schweres innerärztliches Problem, das die Politik aber nicht zu verantworten hat.

Es stehen zwei Thesen gegeneinander: Die Ärzte sagen, bezahlt werden muß das medizinisch Notwendige, die Regierung führt ein Globalbudget für Gesundheit ein, das nicht überschritten werden darf. Ist die Formel vom medizinisch Notwendigen nicht eine Gummiformel, um ständige Kostensteigerungen zu rechtfertigen?

Lohmann: Im Sozialgesetzbuch haben wir die Formulierung, daß medizinische Leistungen wirtschaftlich, zweckmäßig und ausreichend sein müssen und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen. Nur: Kein Mensch weiß, was das ist. Auch die Mediziner nicht, die sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben. Über das medizinisch Notwendige wird es immer Streit geben. Aber klar ist, daß wir das heutige Niveau nicht mehr finanzieren können. Es sei denn, wir können dem System weiteres Geld zur Verfügung stellen. Wir sind uns einig, daß wir dies keinesfalls über steigende Beiträge wollen, die die Lohnnebenkosten erhöhen. Aber es gibt viele andere Vorschläge, wie die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage oder mehr Eigenverantwortung. Allerdings sehe ich keine Bereitschaft bei der Regierung, sich dazu mit uns an einen Tisch zu setzen.

Schaich­Walch: Ich sehe auf Ihrer Seite keine substantiellen Vorschläge. Sie haben nicht einmal einen eigenen Gesetzesvorschlag unterbreitet. Natürlich haben wir uns in der Reform damit beschäftigt, welche Leistungen noch finanzierbar sind. In diesem Punkt führen wir sogar die Prüfung der alten Regierung fort, ob der Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung auf dem neuesten Stand ist oder ob er Leistungen enthält, die nicht mehr angemessen und notwendig sind. Durch die Gesundheitsreform wird dieser Auftrag auf die Krankenhäuser ausgeweitet, so daß wir hoffen, insgesamt zu einem vernünftigen Leistungskatalog zu kommen. Wir werden sichern, daß das Notwendige auch verordnet werden kann. Alles, was darüber hinausgeht, kann in Zukunft nicht mehr die gesetzliche Krankenkasse finanzieren.

Lohmann: Hier kommen wir an einen wichtigen Punkt. Das Globalbudget ist der falsche Weg, weil es viele Menschen gibt, denen ihre Gesundheit mehr wert ist, als die gesetzliche Krankenkasse bezahlen kann. Wenn wir die Arbeitskosten nicht weiter belasten wollen, müssen wir doch fragen, ob die Menschen bereit sind oder sogar verpflichtet werden können, mehr Eigenleistungen zu übernehmen. Nun gibt es Dinosaurier auch gelegentlich noch in meiner Partei, die an der paritätischen Finanzierung der Gesundheit durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer kompromißlos festhalten wollen. Man muß aber einmal daran erinnern, daß die Erfinder der paritätischen Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme nur an die Finanzierung des medizinisch wirklich Notwendigen gedacht haben. Wir sind uns heute alle einig, daß wesentlich mehr von den Kassen übernommen wird. Wir wissen nur nicht genau, wo und wieviel. Deshalb haben wir entschieden, daß die Menschen mehr sozialverträgliche Zuzahlungen leisten müssen.

Schaich­Walch: Es geht nicht darum, immer mehr Geld ins System zu bringen. Vielleicht bin ich in dieser Hinsicht viel radikaler als Sie. Ich meine, daß das, was medizinisch notwendig ist, die Menschen durch ihre Kassen erhalten müssen. Alles andere müssen sie selbst finanzieren. Ich bin nicht bereit, denjenigen mit Zuzahlungen zu belasten, der etwas medizinisch Notwendiges erhält, um einem anderen eine Zusatzleistung zu finanzieren. Jeder Arzt wird Ihnen bestätigen, wieviel Unnützes verordnet wird. Das fängt damit an, daß Deutschland Weltmeister im Ultraschall ist, bis hin zum auch medizinisch bedenklichen, zu häufigen Röntgen.

Lohmann

Bis 2008 übernehmen die Krankenkassen die Verantwortung über die Krankenhäuser. Auch daran entzündet sich Kritik, weil die Länder diese Verantwortung abgeben sollen und damit ihr Einfluß auf die Krankenhauslandschaft sinkt. Ist es nicht trotzdem richtig, angesichts überflüssiger Krankenhäuser, den Ländern und Kreisen, die sich durch Klinikneubauten teure Denkmäler gesetzt haben, diese Verantwortung zu nehmen?

Lohmann: Ich bekenne, daß ich seit Jahren die Forderung unterstütze, Planung, Entscheidung und Finanzierung in eine Hand zu geben. Aber die Reform erfüllt einige Voraussetzungen nicht: Zum einen macht ein Teil der Länder nicht mit ...

... vermutlich unionsgeführte Länder ...

Lohmann: ... wie Bayern, das auch weiterhin die Investitionskosten für Krankenhäuser trägt. Zum zweiten aber steigen die Länder durch die Übertragung der Verantwortung auf die Kassen stufenweise aus der Finanzierung aus. Es ist völlig unklar, wie die Kassen diese zusätzlichen Investitionskosten von rund acht Milliarden Mark ohne Beitragserhöhung finanzieren sollen. Wenn es dann heißt, das müßten die Krankenhäuser aus ihren Etats durch Rationalisierung herausholen, dann wird klar, daß diese Reform vor allem Arbeitsplätze kostet.

Schaich­Walch: Sie werden doch nicht ernsthaft bestreiten, daß wir zu viele Krankenhäuser haben und Betten abbauen müssen? Ich habe gerade ein Gespräch mit drei Vertretern einer Kreistagsfraktion geführt, die in ihrem Kreis drei Krankenhäuser mit zusammen 400 Betten und einer Auslastung von 68 Prozent haben. Das Defizit betrug im vergangenen Jahr 2,3 Millionen Mark, Investitionen sind aber in Millionenhöhe erforderlich, die sich der Kreis nicht leisten kann ...

... und keiner ist bereit, ein Krankenhaus zu schließen?

Schaich­Walch: Richtig. Das ist ein gutes Beispiel dafür, daß wir künftig nach Bedarf und Wirtschaftlichkeit entscheiden müssen, und nicht nach politischen Rücksichtnahmen. Außerdem ist die Behauptung von Herrn Lohmann nicht richtig, daß die Kassen sämtliche Kosten tragen müssen. Die Länder übernehmen anstelle der Kassen ab 2008 Sterbe­ und Mutterschaftsgeld in einer Größenordnung von drei Milliarden Mark. Und auch an den prophezeiten Arbeitsplatzabbau glaube ich nicht. Die Krankenhäuser können künftig auch ambulant tätig werden und sich an Netzstrukturen integrierter Versorgung als Verbindung ambulanter und stationärer Behandlung beteiligen. Es wird zwar in Zukunft weniger im teuren Krankenhaus behandelt, aber die Arbeitsplätze, die in Krankenhäunsern wegfallen, werden im Bereich der ambulanten Versorgung neu entstehen. Denn wir streichen nicht Behandlungen, sondern verlagern sie in die kostengünstigeren ambulanten Bereiche. Und zugleich können die Krankenkassen als Leistungsträger künftig sehr viel leichter entscheiden, welche Abteilungen und Krankenhäuser geschlossen oder zusammengelegt werden. Es macht keinen Sinn, ist viel zu teuer und von medizinischem Nachteil, an jedem Krankenhaus ein bißchen Chirurgie und ein bißchen Geburtshilfe zu betreiben. Die Zusammenlegung müssen künftig die Beteiligten einer Region selbst gestalten.

Lohmann: Auch der von uns eingeleitete Bettenabbau im Einklang mit den Krankenhäusern funktioniert. In den letzten beiden Jahren wurden 17.000 Betten abgebaut. Die von Ihnen eingeleiteten Zwangsmaßnahmen durch die Krankenkassen sind einfach nicht nötig. Sie haben den Kassen mit dem Globalbudget, das ja auf Krankenhäuser und Ärzte aufgeteilt werden muß, einen Hammer in die Hand gegeben nach dem Motto: Friß Vogel oder stirb. Das ist kein Wettbewerb, sondern ein Diktat.

Schaich­Walch: Die Kassen können auch künftig Versorgungsverträge mit Krankenhäusern nur kündigen, wenn die von den Ländern festgelegten Mindeststandards gewährleistet sind, also die Erreichbarkeit von Krankenhäusern und die Vielfalt medizinischer Angebote. Können sich Kasse und Krankenhaus nicht einigen, liegt die letzte Entscheidung weiterhin bei den Ländern.

Heftig umstritten ist auch der neue Versuch, über eine Positivliste teure, veraltete oder weitgehend wirkungslose Medikamente auszuschalten ...

Lohmann: ... was eindeutig in die Therapiefreiheit der Ärzte eingreift. Dabei spielt das Kostenargument ja selbst bei der Regierung kaum noch eine Rolle. Vor wenigen Jahren noch hat sich SPD­Sozialexperte Rudolf Dreßler von einer Positivliste sechs Milliarden Mark Ersparnis erhofft, heute ist gerade noch von Qualitätssicherung die Rede. Dabei ist das Zulassungsrecht in Deutschland so scharf, daß davon ausgegangen werden kann, daß alle Medikamente in Ordnung sind. Sie reden so, als müßten die Menschen vor lauter unwirksamen Medikamenten mit schweren Nebenwirkungen geschützt werden.

Schaich­Walch: Es ist eine abenteuerliche Argumentation, die Therapiefreiheit werde eingeschränkt, wenn nur noch rund 25.000 von derzeit 40.000 Medikamenten zur Verfügung stehen. Sie verschweigen aber, daß rund 14.000 Medikamente noch unter alten, längst nicht so strengen Bedingungen zugelassen wurden. Die Positivliste wird vor allem hier regelnd eingreifen.

Lohmann: Ich wundere mich über den Argumentationswandel bei Ihnen. Wir waren früher ganz schlimme Leute wegen unserer Zuzahlungen bei Medikamenten. Jetzt muß der Patient, der ein Medikament wünscht, an das er gewöhnt ist, das aber nicht auf der Positivliste geführt wird, sogar zu 100 Prozent bezahlen. Das ist absolut unsozial.

Schaich-Walch

Schaich­Walch: Es kann doch nicht sein, daß wir Medikamente finanzieren, deren therapeutische Wirkung gering ist, an die die Leute aber gewöhnt sind. Bei Grünem Star ist zum Beispiel die einzig sinnvolle Behandlung die Operation. Die Augentropfen, die ein angenehmes Gefühl verursachen, bewirken ansonsten nichts, schon gar keine Heilung. Die gesetzlichen Kassen sind nicht dazu da, teure Placebos zu finanzieren.

Erreicht die Reform das Ziel der Kostenstabilität bei gleichzeitiger Sicherung der Standards?

Schaich­Walch: Ich glaube, diese Reform wird das erreichen.

Lohmann: Das glaube ich nicht. Spätestens im Oktober und November werden bestimmte Leistungen durch das Vorschaltgesetz nicht mehr erbracht werden können. Allein in diesem Jahr dürften mindestens fünf Milliarden Mark im Gesundheitsbereich fehlen. Deshalb werden wir Rationierungen von Leistungen und spätestens im Sommer 2000 Beitragserhöhungen der gesetzlichen Krankenkassen erleben.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9906/9906006
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