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Oktober 09/2000
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menschen im bundestag

14 Seiten sind ein Monat

Von der Kunst, festen Boden unter den Füßen zu behalten, und der Liebe zur hohen See

Silvia Koch arbeitet im Büro des Präsidenten des Deutschen Bundestages, einem Ort, an dem Tag für Tag Ordnung in verschiedenste Angelegenheiten gebracht wird und wo die Türen fast immer weit offen sind. "Ich gebe Ihnen nicht die Hand", sagt Silvia Koch und lächelt etwas müde. "Sie werden krank, wenn ich Ihnen die Hand gebe", erklärt sie und greift zu einer Packung Papiertaschentücher. "Das ist wirklich ärgerlich", gibt sie zu. "Wahrscheinlich habe ich mich bei meiner Tochter angesteckt. Die bringt so was aus dem Krankenhaus mit. Da arbeitet sie", fügt sie nach einer Pause hinzu, um die leichte Verunsicherung zu beseitigen, die gerade entstanden ist. Dann lacht sie. "Nur eine Erkältung. Suchen Sie sich einen Stuhl. Wir können hier reden."

Vor dem Präsidialbüro des Präsidenten des Deutschen Bundestages.
Vor dem Präsidialbüro des Präsidenten des Deutschen Bundestages.

So ist man im Büro des Präsidenten des Deutschen Bundestages gelandet, kurz und knapp: Präsidialbüro. Ein Büro ist natürlich immer viel mehr als seine Bezeichnung hergibt, egal wie gut sie ist. Ein Büro ist für Außenstehende zuerst einmal ein Geheimnis. Was wird dort gemacht, womit befassen sich die Leute hinter den Türen und an den Schreibtischen, auf welche Fragen gibt es hier eine Antwort und was ist eigentlich in der Mappe mit dem roten Stempelaufdruck "Sofort auf den Tisch zu legen"? Das wüsste man doch gern.

Silvia Koch hat einen ziemlich langen Schreibtisch – fast so lang wie eine ganze Zimmerwand. Es ist nur noch Platz für eine große rote Tür, die aber zugegebenermaßen sehr gewichtig aussieht. "Wir sind das Vorzimmer des Präsidenten und da hinter der Tür ist das Arbeitszimmer von Herrn Thierse. Rein formal könnte man sagen, ich bin seine Sachbearbeiterin." "Rein formal" klingt nach mehr, und so einfach kann es auch nicht sein, dass Silvia Koch nur "Sachen" bearbeitet. "Stimmt", sagt sie und lächelt. "Und Vorzimmerdame will ich auch nicht genannt werden. Das ist ein fürchterliches Wort." Sie sieht auch nicht wie eine Vorzimmerdame aus. Sie wäre für eine Vorzimmerdame viel zu viel in Bewegung. Fast könnte man sagen, Silvia Koch ist ein bisschen zapplig. Wenn ihr das Sitzen zu viel wird, telefoniert sie im Stehen, den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, wandert sie die Strecke ab, die die Telefonschnur gestattet, geht zu einer Ablage am anderen Tisch, knickt etwas in der Hüfte ein, steht bequem, wippt mit dem Bein ein wenig, blättert, redet, geht wieder zurück, lächelt die Besucherinnen an, schneidet gleichzeitig mit der linken Hand ein "Nein" durch die Luft, hört trotzdem weiter zu, setzt sich wieder, klärt die Frage, legt auf und ist wieder präsent. Ab und zu, wenn mal ein paar Minuten Ruhe sind, raucht sie eine Zigarette. So sind Vorzimmerdamen nicht.

Der Bundestagspräsident ist oberste Dienstbehörde der Angehörigen der Verwaltung, die sich in drei Abteilungen gliedert: die Zentralen Dienste, die Parlamentarischen Dienste und die Wissenschaftlichen Dienste. Dazu kommen – außerhalb dieser Abteilungen – das Präsidialbüro und die Büros der Vizepräsidenten, das Pressezentrum, das Protokoll-Referat und das Amt des Wehrbeauftragten. Im Präsidialbüro arbeiten 14 Frauen und Männer. Hier läuft auf und zusammen, was für den Präsidenten in seiner Funktion als oberster Dienstherr wichtig ist. Hier werden seine Termine gemacht, Anfragen nach Dringlichkeit geordnet und bearbeitet, Vorlagen erstellt, Briefe geschrieben. Hier werden aus losen Blättersammlungen ordentliche Ablagen, hier bekommen die Tage ein kluges Raster, ohne das ein Bundestagspräsident nicht agieren könnte.

Den Weg macht sie oft: Silvia Koch auf der Präsidialebene des Reichstagsgebäudes.
Den Weg macht sie oft: Silvia Koch auf der Präsidialebene des Reichstagsgebäudes.

Schließlich ist er Repräsentant nach innen und außen, hat er die Würde und die Rechte des Bundestages zu wahren. Ihm ist beratende Stimme in allen Ausschüssen gewährt – ein Recht, das allein schon eine Fülle von Terminen, Absprachen, Entscheidungen nach sich zieht. Füllte man einen Terminkalender allein mit jenen Gesprächen, die ein Bundestagspräsident in nur einem Jahr mit Gästen aus dem Ausland führt, wäre bereits viel Papier beschrieben.

Früher, erzählt Silvia Koch, war es noch möglich, einen Terminkalender, oder eher ein dickes Terminbuch, voll zu schreiben. Zu streichen, wenn neue, dringlichere Angelegenheiten dazukamen, zu ergänzen, zu ändern. "So geht's nicht mehr", sagt sie und rollt mit ihrem Bürostuhl ans hintere Ende des Schreibtisches. "Früher", sagt sie beim Rollen, "hat man sich einmal im Monat zusammengesetzt, abends von sieben bis elf alle Termine durchgesprochen und dann stand der Plan. Das geht so auch nicht mehr. Es reicht einfach nicht." Sie greift vom hinteren Ende des Tisches einen Laptop, rollt wieder nach vorn, klappt den Laptop auf und sagt: "Das hier. Das ist jetzt der Terminkalender. Hat ein größeres Fassungsvermögen als jede noch so dicke Kladde, kann immer aktualisiert werden, und jetzt", sagt sie und drückt auf die Tasten, "drucke ich Ihnen mal die Termine eines Monats aus. Sehen Sie. Vierzehn Seiten für nur dreißig Tage."

Bevor diese vierzehn Seiten so stehen und – vorbehaltlich neuer Entwicklungen – beschlossene Sache sind, haben Silvia Koch und ihre Kolleginnen und Kollegen alles geprüft, nachgefragt, Zusatzinformationen eingeholt. Aber jede Anfrage kommt erst einmal auf den Tisch des Bundestagspräsidenten – eine Empfehlung, ein Vorschlag aus dem Büro von Silvia Koch dazu. Dann entscheidet er, und dann kommt die weniger schöne Seite der ganzen Arbeit: die Absagen an all jene zu schreiben oder telefonisch weiterzugeben, für deren Anliegen im Moment keine Zeit ist. "Bei so vielen Anfragen", sagt Silvia Koch, "müssen drei von vier abschlägig beschieden werden."

Sie blättert die vierzehn Seiten eines Monats wie ein Daumenkino durch. Manche Stunden sind im Zehn-Minuten-Takt gerastert. Der Takt, in dem das Telefon im Präsidialbüro klingelt, ist kürzer. "Koch, Präsidialbüro, guten Tag", sagt Silvia Koch dann, und sie sagt es jedes Mal ganz beschwingt und heiter. Daran ändert auch eine Erkältung nichts. Sie sagt es so, dass man denkt, wer da am anderen Ende der Leitung ist, wird nun in diesem Augenblick das Gefühl haben, richtig zu sein und eine Antwort auf fast jede Frage zu bekommen. "Hier rufen immer mal wieder Leute an, die jetzt gleich den Bundestagspräsidenten sprechen möchten, ihn was fragen oder ein Problem loswerden wollen. So einfach ist das dann doch nicht, aber manchmal schwer zu erklären." Silvia Koch lächelt, und man denkt, dass es andererseits auch kein schlechtes Zeichen sein kann, wenn diese Leute einfach hier anrufen und den Bundestagspräsidenten sprechen möchten, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt.

So selbstverständlich wie die offenen Türen im Präsidialbüro. "Besser so", sagt Silvia Koch, "kurze Wege, kurzer Zuruf jederzeit möglich und außerdem arbeiten wir hier gern zusammen. Es macht Spaß." Anders lassen sich die sieben und die 25 Jahre auch nicht erklären als damit, dass es wohl Spaß machen muss. Sieben Jahre arbeitet Silvia Koch für Wolfgang Thierse – zu Anfang in der SPD-Fraktion.

Silvia Koch...
Silvia Koch...

Knapp 25 Jahre ist sie insgesamt dabei, fing nach ihrer Ausbildung als Einzelhandelskauffrau in der Berliner Senatsverwaltung für Inneres an. 1990 dann begann sie in der Außenstelle der SPD-Fraktion im Reichstagsgebäude zu arbeiten. 1993 ging es nach Bonn – aber da war ja schon klar, dass die Rückkehr nach Berlin nur eine Frage der Zeit ist. "Bonn", sagt Silvia Koch und wählt ihre Worte mit viel Bedacht, "ist schon ziemlich klein. Mir gefällt hier auch das Wetter besser. Und außerdem bin ich Berlinerin. Meine Familie lebt seit fünf Generationen hier. Ich kann mir gar nicht vorstellen, ohne diese Großstadt zu leben." So hat sie die Sache mit Bonn gut umschifft. Bonn ist einfach zu klein für eine echte Berlinerin, hier geboren, aufgewachsen in Kreuzberg, wohnhaft in Neukölln. Kegeln geht sie einmal im Monat oder bowlen. Zweimal in der Woche Sport im Fitnesscenter. Schwarze Sachen trägt sie gern. "Aber freundliches Grau und Rot mag ich auch." Ein wenig chaotisch schätzt sie sich ein. "Aber immer gelassen, damit mache ich das wieder wett." "Außerdem", ruft ihre Kollegin vom anderen Schreibtisch rüber, "hat sie ein Gedächtnis wie ein Elefant."

...im Gespräch.
...im Gespräch.

"Stimmt", sagt Silvia Koch, "braucht man hier auch. Ein gutes Gedächtnis und Gelassenheit." Vor allem an langen Sitzungstagen. Da ist sie um halb acht im Büro und kommt erst spät wieder raus. Sie telefoniert, nimmt Diktate auf, schreibt Reden ab, organisiert Besprechungen, füllt Mappen mit allem, was zu entscheiden ist, berät, plant, sortiert, hält am Laufen, was laufen muss.

"Und nun", sagt sie, "muss ich diese Uhr zum Laufen bringen. Die hat Herr Thierse geschenkt bekommen. Aber ich krieg sie nicht in Gang. Und diese Gebrauchsanweisung. Ich weiß nicht."

Am Ende des Gesprächs verrät sie noch, was man nach dem leidenschaftlichen Bekenntnis zu Berlin und zur Großstadtluft eher nicht vermutet hätte: Sie ist auch leidenschaftliche Anglerin. "Aber Hochseeanglerin bitte", tut sie kund. "Ich sitz' hier nicht an der Spree Stunde um Stunde und warte, dass ein Fisch anbeißt. Ich geh auf ein Schiff und angle Dorsch, Seelachs oder Scholle. Und da hab ich es wirklich gern, wenn das Schiff ein bisschen schaukelt. Es sollte also schon eher ein wenig die raue See sein."

Das mag sich gut ergänzen mit ihrer Arbeit im Präsidialbüro und das Lebensglück komplettieren. Und wenn sie einen Wunsch frei hätte, sagt Silvia Koch, dann möchte sie bei guter Gesundheit 98 Jahre alt werden. Warum nun gerade 98 und nicht 100 bleibt ihr Geheimnis. Sie lächelt und antwortet nicht. Schließlich hat man nicht nach einem Termin beim Präsidenten des Deutschen Bundestages gefragt.

Kathrin Gerlof

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0009/0009069
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