Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 41-42 / 04.10.2004
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Claudia Heine

Unwichtige Schriftsteller und staubfreie Texte

Ungarn ist "phantastisch und bedeutungslos" sagt Péter Esterházy

Mit der Wende 1989 kam nicht nur die Demokratie nach Ungarn, sondern auch die USA und Großbritannien - in Form von Büchern. Wie alle osteuropäischen Länder erlebte auch Ungarn einen Ein- und Umbruch des Büchermarktes. Amerikanische, englische und an dritter Stelle deutsche Titel beanspruchten einen Platz, der eigene Produktionen und solche aus Polen, Russland und Tschechien verdrängte. Damit verbunden war eine Neubewertung von Literatur. Ausgelöst auch durch ein sich wandelndes Interesse der Leser, die nun weniger Belletristik, dafür aber mehr Sachbücher konsumierten. Die gesellschaftliche Funktion des Schriftstellers - neben Tschechien wird auch Ungarn gern als Land der Dichter und Philosophen bezeichnet - erfuhr eine Wandlung. Kritische Beschreibungen politischer Zustände mussten nicht mehr zwischen den Zeilen versteckt werden, sondern konnten in ihnen platziert werden: "Ich habe den Eindruck, dass man neu lernen muss, ein schreibender Mensch muss eigentlich neu ungarisch lernen, oder wenn nicht die ganze Sprache, so muss er doch die Wörter neu kennenlernen", schrieb Péter Esterházy über die neue Situation der Literaten.

Er wurde in den 70er- und 80er-Jahren populär auch deshab, weil er es verstand, zwischen den Zeilen zu schreiben, Andeutungen zu machen und doch viel mitzuteilen. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auf seine "Kleine ungarische Pornografie" von 1984 verwiesen, in der das Obszöne nur ein Gleichnis für den Zustand der Gesellschaft sein sollte. Die politischen Umwälzungsprozesse 1989 begleitete Esterházy in Essays und Kolumnen mit bissigem Humor und Ironie. Gleichzeitig fand er es nicht bedauerlich, dass Literatur nicht mehr so eine zentrale Rolle spielte. Zehn Jahre später resümiert er: "Das ist gut, wenn Literatur unwichtig ist. Denn ihre Wichtigkeit war keine literarische, sondern eine politische, die wie Staub auf der Literatur pickte. Das war ein sehr moralischer, ein sehr wichtiger Staub, aber den brauchen wir jetzt nicht mehr."

Die neue Offenheit führte zu neuen Konflikten, und so konnte am Beginn des Jahres der Autor und Vorstandsmitglied im Verband ungarischer Schriftsteller, Kornel Döbrentei, in antisemitischen Äußerungen die Juden als "maskierte Pseudopropheten" bezeichnen, die einen "moralischen Holocaust" gegen das "ungarische Volk" führten. Mehr als 200 Schriftsteller, darunter Peter Nádas, György Konrad und Péter Esterházy, verließen daraufhin im April 2004 den Verband, da sich der Vorstand weigerte, sich von diesen Äußerungen zu distanzieren. Er mische sich nicht in tagespolitische Auseinandersetzungen ein, hieß es.

Ein Ausrutscher war das nicht. Immer wieder wird Ungarns Öffentlichkeit von Antisemitismus-Diskursen heimgesucht. Imre Kertész trat wegen antisemitischer Ausfälle auch ihm gegenüber schon 1990 aus dem Schriftstellerverband aus. Anlässlich der Verleihung des Nobelpreises 2002 beschimpften ihn national-konservative Medien, allen voran Döbrentei, den Preis nicht wegen des literarischen Wertes, sondern allein wegen des Themas bekommen zu haben: Der autobiografisch angelegte "Roman eines Schicksallosen" thematisiert das Überleben eines jüdischen Kindes in deutschen Konzentrationslagern. "Geschmacksterror" nannten sie das.

Gastland bei der Frankfurter Buchmesse zu sein - eigentlich ein Grund zur Freude. Das war es natürlich auch in Ungarn 1999, aber das Ereignis löste zugleich einen erbitterten Diskurs über ungarische Identität, neue Literatur und alte Werte aus, geprägt von antisemitischen und nationalen Parolen. So beklagte Istvan Csurka, Chef einer damals im Parlament vertretenen rechtsextremen Partei, dass die Organisatoren den "kosmopolitischen Ausverkauf Ungarns" betreiben und die Buchmesse das "Multikulturelle, Holocaustige, Kosmopolitische" betone. Nationale Schicksalsfragen dagegen seien tabu. Er scheute sich nicht, einen Autor als "liberal-homosexuell-hermaphroditisch-kosmopolitisch" zu bezeichnen. Als die Regierung erkennbar zögerte, sich von solchen Äußerungen zu distanzieren, sagte Imre Kertész seine Teilnahme an der Eröffnungsfeier ab.

Dieser Streit war symptomatisch für das, was die ungarische Literatur seit Mitte des 20. Jahrhunderts in zwei Lager teilt: in "Urbanisten" und "Populisten". Die "Urbanisten" - unter ihnen viele Juden - entstammten einem städtischen Bürgertum, waren meist westlich und weltlich orientiert. Im Gegensatz dazu betrachteten die Populisten das Bauerntum als das wertvollste, weil unverdorbenste Element der Nation und sahen in einer modernisierten bäuerlichen Lebensform die einzige Perspektive des Ungarntums. Dafür schrieben sie. Doch als sich ihre Ziele, die Befreiung der Bauern aus feudaler Abhängigkeit und ihr verstärkter Zugang zu Bildung, erfüllt hatten, kam ihnen ihr Inhalt abhanden. Es wurde ersetzt durch phrasenhafte Bauernromantik und nationale Romantik, wohingegen die Urbanisten den Blick stets über die Grenzen des Landes richteten und dort auch Erfolge feierten. Nach 1989 gerieten beide Strömungen in ungewohnt scharfer Form aneinander. Begünstigt dadurch, dass eigentlich keine - nennenswerte - populistische Literatur in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, die "urbanistische" gleichzeitig im Westen Erfolge feiert. Auch darum ging es im Buchmessenstreit: Während die einen für ihre künstlerischen Produkte einen westlichen Markt suchen und finden, erblicken die anderen in dieser Suche den Verrat ungarischer Werte und Interessen.

Für die erste Gruppe stehen Autoren wie Imre Kertész, Péter Esterházy oder Péter Nádas. Nationale Romantik auf Kosten anderer spielt hier keine Rolle. Esterházy formuliert es so: "Ich glaube nicht, dass es das ungarisch Gute gibt, dass es ungarische Werte gibt, und wenn es sie hier gibt, sind sie ungarisch. [...] Wir sind nicht groß, wir sind klein. Das ist keine Selbstverachtung, nicht einmal Selbstkritik, nein, es ist einfach so. Wir sind ein kleines, phantastisches und bedeutungsloses Land."

Phantastisch schon, aber bedeutungslos? Für solch eine unkonventionelle Haltung verkleinert sich der Spielraum meist, wenn ein Land vor politischen Zäsuren steht. Dann geht es genau um das Gegenteil, nämlich "dem Rest der Welt" die eigene Bedeutung zu beweisen. Kein Wunder, dass Diskurse über Identität und politische Werte in solchen Zeiten Hochkonjunktur haben - auch in Ungarn. Das kleine Land mit, im wahrsten Wortsinn, einzigartiger Sprache, trat im Mai 2004 der Europäischen Union bei. Ein historisches Ereignis, auf das lange hingearbeitet wurde. Auch, was das Verhältnis zur eigenen Geschichte angeht, das als ein vom Geist der Aufarbeitung geprägtes erscheinen sollte. Im April wurde in Budapest die erste Holocaust-Gedenkstätte Ungarns eröffnet. Anlass war der 60. Jahrestag des Beginns der systematischen Ermordung von ungefähr 600.000 Juden. Beendet ist der Streit über dieses Kapitel ungarischer Geschichte deshalb noch lange nicht.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.