Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 03 / 17.01.2005
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Burkhard Weitz

Das heilige "Nein"

Das Christentum kennt eine lange Tradition des Verzichts

Die Anonymen Alkoholiker sind die spirituellste Gruppe in unserer Gemeinde", musste kürzlich ein Hamburger Pfarrer gestehen. Dabei gehören die Anonymen Alkoholiker noch nicht einmal wirklich zu seiner Gemeinde. Sie treffen sich zwar im Keller des Gemeindehauses und sind religiös. Kirchlich binden wollen sie sich aber ausdrücklich nicht. Dem Pfarrer kann man keinesfalls vorwerfen, dass es in seiner Arbeit an Spiritualität mangele. Er ist einer von den kreativen Pfarrern, die überdurchschnittlich viele Gemeindemitglieder begeistern und zur Mitarbeit anregen, und deren Gemeindehaus stets gut gefüllt ist.

Anonyme Alkoholiker treffen sich sehr oft in kirchlichen Räumen, obwohl sie sich ausdrücklich nicht mit der Kirche identifizieren. Pastoren stellen ihnen die Räume in aller Regel mietfrei zur Verfügung. Denn wie kaum ein anderes Alltagsthema berührt das Thema "Sucht" den Kernbereich christlicher Theologie.

Aus theologischer Sicht ist Sucht eine tief greifende Störung der Gottesbeziehung. Sie degradiert den Menschen zum Götzendiener, zum Sklaven einer Dingbeziehung. Die christliche Theologie geht davon aus, dass der Mensch eine natürliche Gottesbeziehung hat. Für sie ist Gott der Grund aller Liebe. Da sich jeder Mensch danach sehnt zu lieben und geliebt zu werden, strebt auch jeder Mensch danach, sich diesem Grund der Liebe zu nähern: Gott. Jeder Mensch hat demnach eine Art Gottessehnsucht. Aber nicht jeder Mensch spürt sie in sich. Und dafür gibt es unterschiedliche Gründe.

Die ursprüngliche Gottessehnsucht kann - zum Beispiel aufgrund einer Enttäuschung oder Verletzung - abgespalten werden. Sie wird verdrängt, aber indirekt doch noch gelebt. Die Gottessehnsucht kann aber auch im Konsum erstickt werden. Eine Ersatzbefriedigung tritt an ihre Stelle, ein Rausch oder Kick, eine Betäubung oder ein schnell erworbenes Glücksgefühl. Auf jede Befriedigung folgt Ernüchterung. Wer nach der Ernüchterung neue Befriedigung auf gleichem Wege sucht, kultiviert allmählich in sich einen Drang, der sich schnell zur Sucht entwickelt. Die Rede ist nicht nur von Alkoholismus, Kokainsucht, Kauf-, Sex- oder Esssucht. Auch Macht- und Besitzstreben kann Züge von Suchtverhalten aufweisen. Der Süchtige huldigt dem Objekt der Begierde. Er lässt sich versklaven. Die ihm angeborene Sehnsucht nach Liebe, die stets eine freiwillige Bindung ist, verkümmert.

Die Sucht beraubt den Menschen seiner Freiheit, indem sie seine Aufmerksamkeit auf immer den gleichen Gegenstand fixiert. Insofern ist Sucht eine Gegenmacht zur Liebe. Liebe erfüllt sich nur in Freiheit. Wer liebt, muss dem anderen Aufmerksamkeit schenken. Dafür braucht er ein freies Herz und einen freien Verstand. "Ich war so damit beschäftigt, Alkohol zu besorgen und zu verstecken, dass ich keine Gefühle mehr für meine Frau und meine Kinder hatte", schildert ein Anonymer Alkoholiker die Zeit, bevor er trocken wurde. Je stärker und dauerhafter der Drang nach Ersatzbefriedigung, desto mehr stumpft auch die Gottessehnsucht im Menschen ab.

Die Sucht fesselt den Willen des Menschen und veranlasst ihn, das zu tun, was er eigentlich gar nicht will. Zunächst spürt der Süchtige keinerlei Freiheitsverlust. Bei ihm überwiegt das neue Gefühl der Sicherheit. Der Alkohol enthemmt, der Trinker bewegt sich scheinbar angstfreier unter Menschen. Der Kaufsüchtige vergisst im Glücksgefühl des Kaufens, was ihn eigentlich bedrückt. Doch je stärker die Sucht, desto mehr Zeit und Anstrengung nimmt sie in Anspruch. Der Junky befasst sich irgendwann ausschließlich damit, sich Drogen für den nächsten Kick zu beschaffen. Der Esssüchtige muss sein Konsumverhalten immer umständlicher verheimlichen.

Schon bald drängen sich dem Süchtigen die Anzeichen dafür auf, dass er seine Freiheit an die Sucht verloren hat. Doch er leugnet die Anzeichen vor sich selbst und vor anderen, obwohl sie immer offensichtlicher werden. Wenn ihm dämmert, dass die Sucht von ihm Besitz ergriffen hat, beginnt die Verzögerungsphase. Mit Sprüchen wie: "Morgen höre ich auf" oder: "Ich muss erst mein Leben in den Griff bekommen, dann ..." vermeidet der er den einzigen Schritt zu gehen, der ihm jetzt bleibt: den Verzicht.

Das Christentum kann auf eine ausgeprägte Theologie des Verzichts verweisen, die auf die alten Traditionen der Wüstenväter zurückgeht. Diese Asketen hatten sich im dritten und vierten Jahrhundert in die mittelägyptische Wüste zurückzogen, um dort den Kampf mit dem aufzunehmen, was sie als die inneren Dämonen empfanden. Sie suchten die Loslösung von allen innerweltlichen Abhängigkeiten. Sie widerstanden den Anfechtungen von Sicherheit, Besitzstreben und Sexualität. Das heilige "Nein" war ihr Pfad zu Heiligkeit und Ganzheit.

Nur eine starke Persönlichkeit kann diesen Weg des Verzichtes einigermaßen erfolgreich beschreiten. Die Persönlichkeit des Süchtigen ist jedoch während der Leugnungs-, Erklärungs- und Verzögerungsphase gebrochen. Er glaubt, jederzeit verzichten zu können, aber in Wahrheit ist er dafür zu schwach. Irgendwann muss sich der Süchtige sein Scheitern eingestehen. Nun setzt die Phase der Selbstaufgabe ein. Er kapituliert vor der Sucht. Er schämt sich, wie der Trinker aus "Der kleine Prinz" von Antoine de Saint Exupery. Der trinkt, um zu vergessen, dass er sich seiner Trunksucht schämt - ein verhängnisvoller Zirkel.

In zwölf Schritten beschreiben die Anonymen Alkoholiker die Loslösung aus der Sucht. "Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind - und unser Leben nicht mehr meistern konnten", lautet der erste Schritt. Er beschreibt den Zeitpunkt, an dem die Verzweiflung den Süchtigen zum Verzicht treibt. Von nun an übergibt sich demnach der Alkoholiker einer anderen Macht.

Die ursprüngliche Gottessehnsucht mag durch die Sucht bis zur Unkenntlichkeit abgestumpft sein. Ein Rest bleibt jedoch immer erhalten. Viele Süchtige finden den Ausweg aus ihrer Abhängigkeit erst dann, wenn sie "ganz unten" angelangt sind. Wenn sie ihre Freiheit nicht mehr aus eigener Kraft wieder herstellen wollen, sondern sich in diesem Bestreben ganz aufgeben. Dann erst ist dieser letzte Rest an Gottessehnsucht freigelegt. Theologen sagen auch: Dann ist der Mensch frei für die göttliche Gnade.

Entsprechend lautet der zweite Schritt der Anonymen Alkoholiker: "Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann." Sofern der Süchtige nun zu einer Sprache des Glaubens vordringt, erlebt er die neu gewonnene Freiheit nicht mehr bloß als Bedrohung, als schwarzes Loch voller Risiken und Unwägbarkeiten. In der neuen Freiheit begegnet ihm geistliche Fülle. Entsprechend lautet der dritte Schritt für die Anonymen Alkoholiker: "Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir Ihn verstanden - anzuvertrauen."

Der Süchtige mag nun wieder Herrschaft über sein Verhalten erlangt haben. Aber die Sucht lässt ihn dennoch nicht los. Jedes kleine Nachgeben gegenüber der Sucht zieht den vollständigen Rückfall nach sich. Vor allem während der Ausnüchterung steigert sich das Verlangen nach der Droge bis ins Unerträgliche. Im so genannten kalten Entzug, bei dem der Junky keinen Zugang mehr zur Droge oder zu Substituten hat, bringen Schweißausbrüche, Anfälle von Schüttelfrost und Magenkrämpfe den Süchtigen bis an die Grenze dessen, was er ertragen kann.

Und noch etwas erschwert Süchtigen den Ausstieg aus seiner Sucht. Die moderne Gesellschaft verlangt dem Einzelnen immer seltener ab, bei sich die Fähigkeit zum Verzicht zu kultivieren. Nur wer sich im Verzichten geübt hat, trägt in sich die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung. Je weniger jemand in Kindheit und Jugend den Verzicht gelernt hat, desto schwerer wird er ihm als Erwachsener fallen. Dem Süchtigen bleibt keine andere Wahl als zu verzichten, will er im Kampf gegen die Droge nicht unterliegen.

Von nun an muss der Süchtige sich stets selbst prüfen. "Buße" nennt die klassische Theologie eine solche Selbstprüfung. Dazu zählt das uneingeschränkte Eingeständnis eigener Fehler. Ferner die Bereitschaft, für die göttliche Gnade offen und somit im Innersten demütig zu bleiben. Und schließlich das Bestreben, gegenüber anderen Fehler der Vergangenheit wieder gut zu machen. Die Kraft zur Erneuerung - so sagen es auch die Anonymen Alkoholiker, die sich an keine Kirche binden - kann nur von außen kommen. Von Gott.

Der Autor ist Redakteur des evangelischen Magazins "Chrismon".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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