Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 47 / 21.11.2005
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Interview

Die Gralshüter der Freihandelstheorie dominieren

Interview mit dem Bremer Globalisierungskritiker Rudolf Hickel

Die Globalisierung muss sozial und ökologisch gestaltet werden, fordert Professor Rudolf Hickel, der zu den profiliertesten Kritikern einer neoliberalen Wirtschaftspolitik in den westlichen Industriestaaten gehört. Ähnlich wie andere Globalisierungsexperten ist Hickel aber auch davon überzeugt, dass Deutschland auf Dauer nur bestehen kann, wenn es die besseren und intelligenteren Produkte anbietet. Hartz IV, kritisiert Hickel, sei aber das genaue Gegenteil einer Qualifizierungsoffensive.

Das Parlament: In den französischen Vorstädten brennen Autos, Jugendliche randalieren und zünden Schulen an. Was hat das mit Globalisierung zu tun?

Rudolf Hickel: Ich denke, sehr viel. Aus den ärmsten Ländern der Welt wandern viele Menschen in die Metropolen mit der Hoffnung, am Wohlstand teilzuhaben. Daraus ergeben sich Spannungsverhältnisse. Ich bin erschüttert, dass die französische Regierung glaubt, dass man die wegknüppeln kann. Es handelt sich um eine tiefgreifende Spaltung der Gesellschaft, auf die übrigens der französische Soziologe Pierre Bourdieu sehr früh hingewiesen hat. Wir haben zwar auch im qualifizierten Bereich Arbeitsmarktprobleme, aber die Langzeitarbeitslosigkeit betrifft derzeit noch vor allem die nicht oder wenig Qualifizierten. Hier wirkt sich die real stattfindende Globalisierung besonders belastend aus.

Das Parlament: Welche Folgen hat die Globalisierung ganz konkret?

Rudolf Hickel: Es gibt grundsätzlich zwei völlig neue Entwicklungen. Da ist zum einen die Internationalisierung der Finanzmärkte, zum anderen ist es die ohne Rücksicht auf Grenzen mögliche Entscheidung über den Produktionsstandort. Sie wird heute quasi über nationalstaatliche Grenzen hinaus getroffen - eine Folge der grenzüberschreitenden Liberalisierung aller Märkte durch Abbau des nationalen Protektionismus. Da heißt für die Beschäftigten, dass Unternehmen ernsthaft mit Standortverlagerungen drohen können, um im Inland Lohnkürzungen durchzusetzen. Für die unzureichend Ausgebildeten, die jetzt etwa in Paris aufbegehren, bedeutet dies das Wegbrechen von Arbeitsplätzen, die ein geringes Qualifikationsniveau erfordern. Solche Produktion findet jetzt in Fernost oder in Osteuropa statt.

Das Parlament: Ist der Freihandel also das Problem?

Rudolf Hickel: Dass vom Freihandel alle profitieren, ist seit David Ricardo in der Ökonomie ein Dogma. Michael Gorbatschow hat das später so zusammengefasst: Durch den Zusammenbruch des realen Sozialismus hat sich die Ideologie des totalen Freihandels als allein seligmachende Lehre durchgesetzt. Doch davon profitieren vor allem die international ausgerichteten Konzerne. Sie verfügen über die Möglichkeit, die Chancen des Freihandels zu nutzen. Erleichtert wird ihnen das durch die Internetrevolution, schließlich liegen die Kommunikationskosten zwischen einem Unternehmen in Deutschland gegenüber seinem Standort in China praktisch bei Null. Der große amerikanische Ökonom Paul A. Samuelson, Träger des Wirtschaftsnobelpreises, hat jetzt allerdings in den USA eine spannende Debatte über die Frage in Gang gesetzt, ob der Freihandel tatsächlich am Ende für alle eine Optimierung des Wohlstands bringt.

Das Parlament: Und zu welcher Antwort kommt er?

Rudolf Hickel: Er sagt: Das Theorem des Freihandels als wohlstandsstiftend für alle ist falsch. Für die USA hat er ausgerechnet, dass die Globalisierung für die USA netto zu Wohlstandsverlusten führt. Durch den Lohndruck verlieren die Beschäftigten bis zu 15 Prozent an Lohn. Zudem gehen Arbeitsplätze verloren. Das ökonomische Gegenargument dafür war immer: Die Nominallöhne gehen zwar zurück, aber wir gewinnen auch an realer Kaufkraft, weil preiswerter produziert wird, etwa in China. Samuelson macht jetzt am Beispiel WalMart klar: Der Handelskonzern kauft in China billig ein, verkauft aber nicht in gleichem Maße billiger, die Preissenkung kompensiert also nicht die Lohnverluste. Für den Konsumenten bedeutet das, er ist nicht in gleichem Ausmaß Gewinner wie er als Arbeitnehmer Verlierer ist. So eine strittige Debatte würde ich mir auch in Deutschland wünschen. Hier dominieren die Gralshüter der Freihandelstheorie. Ich glaube, dabei würde herauskommen, dass die Globalisierung - genauso wie die nationale Marktwirtschaft - gestaltet werden müsste. Wenn wir sie nicht sozial und ökologisch gestalten, wird sie zu einer Bedrohung. Neoliberalen passen solche Erkenntnisse über die tiefen Fehler einer sich selbst überlassenen Globalisierung natürlich nicht in ihr Konzept.

Das Parlament: Was wäre die richtige Antwort der Politik auf die Folgen der Globalisierung?

Rudolf Hickel: Wir müssen qualifizieren. Deutschland wird auf Dauer nur bestehen, wenn wir die besseren, die intelligenteren Produkte anbieten. Hartz IV ist das genaue Gegenteil einer Qualifizierungsoffensive. Hartz IV verbannt arbeitslos gewordene Hochqualifizierte am Ende in die Einbahnstraße des Niedriglohnsektors.

Das Parlament: Sie erwähnten zuvor aber noch ein anderes Problem: die Internationalisierung der Finanzmärkte. Was ist daran so gefährlich?

Rudolf Hickel: Nun, die Globalisierung hat in eine Phase des Spekulationskapitalismus geführt. Weltweit vagabundierendes Kapital sucht hohe Renditen irgendwo in der Welt. Das ist für die Realwirtschaft sehr riskant. Die Steigerung der kurzfristigen Dividenden steht im Widerspruch zu einer mittelfristigen Sicherung des Unternehmens. Die auch durch die Senkung der Kommunikationskosten auf nahezu Null entstandene Freizügigkeit des Spekulationskapitals erhöht das Risiko einer Weltwirtschaftskrise.

Das Parlament: Sprechen wir hier von Münteferings "Heuschrecken"?

Rudolf Hickel: Franz Müntefering nennt die Private-Equity-Fonds "Heuschrecken", ich nenne sie lieber "Finanzbullen", denn die Fonds verfügen über Milliardenbeträge. Es gibt zwar auch vernünftige Aktivitäten, aber meistens werden unterbewertete Unternehmen aufgekauft, um diese zu filettieren und dann lukrative Teile zu veräußern. Über Nacht werden Wertschöpfungspotenziale und Arbeitsplätze zerstört.

Das Parlament: Welche Gegenstrategien schlagen Sie vor?

Rudolf Hickel: Erstmal muss man hinsichtlich dieser Fonds Transparenz schaffen und Informationen vermitteln. Zum zweiten muss man den Hedgefonds, den Private-Equity-Fonds, Eigenkapitalquoten vorschreiben, damit die Kreditfinanzierung ihrer Übernahmen erschwert wird. Wir müssen das vor allem auf europäischer Ebene gestalten, zum Beispiel durch eine EU-Richtlinie zur Kontrolle der Private Equity Fonds. Ein Problem dabei ist, dass ja inzwischen auch die EU konzeptionell vom Neoliberalismus heimgesucht wurde. Gleichwohl ist die europäische Integration eine richtige Antwort auf die Globalisierung. Wir müssen weiterhin daran arbeiten, dass die EU ordnungs- und wirtschaftspolitisch gestaltet wird. So muss sie gegen die massive Steuersenkungskonkurrenz aus Ländern Osteuropas, die auch noch EU-Zuschüsse im Rahmen der Regionalpolitik erhalten, mit Mindeststeuersätzen antworten. Der Präsident der EU-Kommission, Barroso, hat zudem einen Globalisierungsfonds zur Abfederung der schlimmsten Globalisierungsfolgen vorgeschlagen. Es gibt aber noch einen Punkt: Wir brauchen weltweite Mindeststandards. Auf die globalen Strategien des Kapitals wird man weltweit - auch mit Hilfe der internationalen Institutionen - reagieren müssen.

Das Parlament: Wie sollte das aussehen?

Rudolf Hickel: Wir brauchen weltweite Regeln zur Beschränkung der Marktbeherrschung durch Monopole. Darüber hinaus benötigen wir soziale Mindeststandards. Es darf nicht passieren wie jetzt in China, dass eine 30-jährige Frau tot zusammenbricht, weil sie - übrigens bei der Produktion von Weihnachtsschmuck für Deutschland - 24 Stunden ohne Pause gearbeitet hat. Und wie die sich häufenden Naturkatastrophen in Folge der globalen Klimawärmung durch Treibhausgase zeigen, geht es auch ohne Umweltstandards nicht. Hier ist bei aller Unzulänglichkeit die Klimaschutzpolitik von Rio und Kyoto ein erster Schritt, auch wenn die USA als eine der größten Dreckschleudern der Welt nicht mitmachen.

Das Parlament: Wie bewerten Sie den Gedanken einer Devisentransaktionssteuer, der Tobin-Steuer, zur Steuerung der Globalisierung?

Rudolf Hickel: Die Tobin-Steuer ist vom Ansatz her richtig. Sie würde die riesigen Umsätze für Devisenspekulationen, die ja 97 Prozent des gesamten Handels ausmachen, steuerlich belasten. Deren Aufkommen sollte in die Entwicklung der ärmsten Länder der Welt investiert werden. Es wäre meiner Meinung nach machbar, diese Steuer nur auf spekulative Transfers zu erheben und die Transfers, die für reale Handelsgeschäfte benötigt werden, davon auszunehmen. Tobin hat das ja ursprünglich gut formuliert, er sagt nämlich, damit würde man Sand in das Getriebe der Spekulation werfen. Aber da gibt es noch ein anderes Problem: die über den Globus organisierte Steuerkriminalität. Gerade auch die gefährlichen Private-Equity-Fonds setzen bei ihren Geschäften auf Steueroasen mit zum Teil kriminellen Methoden. Die werden über Firmen etwa auf den Cayman-Inseln abgewickelt, die es real überhaupt nicht gibt.

Das Parlament: Bei all diesen Schwierigkeiten: Meinen Sie, die "Globalisierungsinstitutionen" Weltbank oder WTO sind überhaupt in der Lage, Lösungen zu finden, etwa die von Ihnen genannten Standards durchzusetzen?

Rudolf Hickel: Die WTO hängt derzeit noch stark am Neoliberalismus, an der Ideologie der Kapitalfreiheit. Für die von der US-Administration stark beeinflussten Globalisierungsinstitutionen, wie etwa auch dem Weltwährungsfonds, ist die "Entfesselung der Marktkräfte" das Ziel. Mit diesem Laisser-faire wächst jedoch die Spaltung der Welt zwischen Arm und Reich. Allerdings hatten wir in der Geschichte dieser Institutionen immer auch gegenläufige Strategien. Wenn man, wie jetzt Samuelson, zu dem Ergebnis kommt, dass dieser ungehemmte Kapitaltransfer zu Wohlstandsverlusten führt, wird man eine andere Politik verfolgen.


Das Gespräch führte Friedhelm Wolski-Prenger. Er ist Lehrer und Dozent für politische Bildung in Meppen.


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