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Debatte
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Wortlaut der Reden, die zu Protokoll gegeben wurden

Lothar Ibrügger, SPD Ulrich Irmer, FDP >>

»Hauptstadt Deutschlands ist Berlin!« So heißt es im Einigungsvertrag, dem ich mit Freude zugestimmt habe, einmal wegen der glücklichen Überwindung der Teilung unseres Landes und zum anderen für Berlin als Hauptstadt, gerade auch als Symbol der Standhaftigkeit Berlins in schwerster Zeit der Blockade.

Zu den Aufgaben Berlins als Hauptstadt gehören nach meiner Auffassung:

Erstens. Die Bestimmung Berlins zum ersten Amtssitz des Bundespräsidenten.

Zweitens. Das Zusammentreten der Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten in Berlin.

Drittens. Der Sitz des Bundesrates in Berlin.

Viertens. Die Konstituierung des Deutschen Bundestages in Berlin.

Fünftens. Die Wahl des Bundeskanzlers durch den Deutschen Bundestag in Berlin.

Sechstens. Das Zusammentreten des Deutschen Bundestages zum Tag der Deutschen Einheit und zu weiteren besonders bedeutsamen Anlässen in Berlin.

Damit würde in ganz besonderer Weise die deutsche Einheit durch Tagungen in Berlin symbolisiert, Deutschland als Ganzes durch die Hauptstadt Berlin repräsentiert.

Über ein Jahrzehnt habe ich in meiner Arbeit für die Belange des Wahlkreises Minden-Lübbecke Erfahrungen nicht nur in der Kontrolle des Regierungshandelns gewonnen, sondern auch, wie Parlament und Ministerien Entscheidungen für die heimische Region oder Hilfe für den einzelnen Mitbürger bewirken. Meine sichere Erkenntnis: Parlament und Regierung haben als Verfassungsorgane selbständig und unabhängig ihren Aufgaben nachzukommen, aber gemeinsam an einem Ort!

Wo soll dies künftig geschehen? Als Abgeordneter habe ich die Pflicht, die Folgen einer Entscheidung aufzuzeigen und abzuwägen: Warum sollen 25 000 Lebenszeitbeamte und rund 75 000 in zugeordneten Bereichen Beschäftigte Bonn verlassen, um nach milliardenschweren Investitionen in neuen Räumen an anderer Stelle lediglich das gleiche zu tun, was sie gegenwärtig bereits in mit Milliardenaufwand errichteten Ministerien in Bonn leisten? Wird Berlin und den neuen Bundesländern damit wirklich gedient? Ist die Schwächung einer Region zur Stärkung einer anderen die angemessene Antwort auf unsere eigentliche Herausforderung im östlichen Teil unseres Landes, dort möglichst rasch für gleichwertige Lebensverhältnisse zu sorgen?

Viele sagen mir: »Wenn schon die Staatsverschuldung explodiert mit immer weiter wachsenden Zins- und Tilgungsbelastungen und der Staat immer mehr zu Steuererhöhungen und Leistungskürzungen greift, warum streitet Ihr Euch dann um funktionierende Parlamentseinrichtungen und Ministerien? Wir haben sie mit Steuergeldern finanziert und erwarten zweckmäßige und wirtschaftliche Entscheidungen!« Mit der Verlagerung des Sitzes von Parlament und Bundesregierung nach Berlin steht weit mehr auf dem Spiel als der Umzug von Beamten, Angestellten und Arbeitern. Die Vielfalt regionaler Metropolen in Deutschland mit eigenständigem Gewicht, eigenem Gesicht und die im internationalen Vergleich ausgewogene regionale Wirtschaftsstruktur in den elf alten Ländern der Bundesrepublik Deutschland wäre eher gefährdet. Angesichts der bedrängenden Arbeitslosigkeit unserer Mitbürger in Leipzig und Dresden, in Rostock und Schwerin, in Magdeburg und Frankfurt/Oder, der Umweltzerstörung und der verrotteten Infrastruktur diskutieren wir gegenwärtig über mindestens 20 Mrd. DM Kosten für einen reinen Umzug von Einrichtungen und Personen nach Berlin. Ausgleichsmaßnahmen für den aufgegebenen Sitz mit dem Verlust von 100 000 Arbeitsplätzen noch gar nicht mitgerechnet.

Die Frage ist, ob diese Milliarden nicht weit wirkungsvoller für neue Arbeitsplätze und Investitionen in den fünf neuen Ländern einschließlich Berlin eingesetzt werden können. Gerade auch der Steuerzahler fragt mich als Abgeordneten zu Recht, ob die dem Staat anvertrauten Gelder zweckmäßig ausgegeben werden. Aus Briefen und Stellungnahmen, die mich erreicht haben, weiß ich: Eine wachsende Mehrheit ist nicht mehr gewillt, weitere Steuererhöhungen und Leistungskürzungen nur zugunsten eines Umzuges von über 100 000 Beschäftigten und ihren Familien hinzunehmen. Jede Mark, die dafür ausgegeben werden müßte, fehlt nicht nur an anderer Stelle in den neuen Bundesländern, sie fehlt auch für dringende Aufgaben, die vom Bund im Kreis Minden-Lübbecke zu erfüllen sind.

Bonn ist seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland auch zum Träger gesamtstaatlicher deutscher Tradition geworden, ähnlich wie früher schon Frankfurt als die Stadt der Kaiserwahlen des Deutschen Bundes und der Paulskirche. Die in Bonn getroffenen Schicksalsentscheidungen der Nachkriegszeit sind im Zeitraum von zwei Generationen ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil unserer nationalen Geschichte. Bonn steht seit 40 Jahren in besonderer Weise für den föderativen Aufbau der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Die Stadt konkurriert nicht mit regionalen Metropolen, auch nicht mit Berlin als der größten Stadt Deutschlands.

Ich komme daher zu dem Ergebnis: Parlamentseinrichtungen und Ministerien in Bonn bewahren allen Metropolen Deutschlands ihr Eigengewicht und ihre Entfaltungsmöglichkeiten. Die Leistungsfähigkeit Deutschlands erwächst aus der Stärke seiner einzelnen Regionen. Dies gilt künftig erst recht im europäischen Rahmen.

Folgt man der traditionellen Vorstellung, was alles zu einer Hauptstadt gehört, dann müßten auch die Standorte anderer bundesstaatlicher Einrichtungen überprüft werden. Dazu gehören die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, die Bundesbank in Frankfurt (früher Reichsbank in Berlin), das Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg, das Bundesarbeitsgericht in Kassel, das Bundespatentamt in München (früher Reichspatentamt in Berlin) und die Bundesbahnzentralämter in Minden und München. Diese Einrichtungen wirken in der Erfüllung ihrer Aufgaben in ihrer Region und für ganz Deutschland.

Mit dem Bundespräsidenten und dem Bundesrat in Berlin und Tagungen von Parlament und Regierung wird Berlin als Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands lebendig, Bonn als bescheiden bleibender Arbeitssitz von Parlament und Bundesregierung, Berlin, befreit von den Lasten der Teilung, als wirtschaftliche und kulturelle europäische Metropole in einem zusammenwachsenden Kontinent: Dies bedeutet keinen Gegensatz, sondern ist Ausdruck der gewollten, lebendigen Vielfalt unserer Region in Deutschland. Deshalb stimme ich im Sinne der praktischen Vernunft für die Beibehaltung unseres Arbeitsortes in Bonn.

Ulrich Irmer, FDP >>
Quelle: http://www.bundestag.de/bau_kunst/berlin/debatte/bdr_137
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