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Mai 04/1999
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Zum 13. Juni 1999:
Europäische Tatsachen und mangelndes oder zunehmendes Selbstverständnis?

Europäische Flaggen

Es ist noch gar nicht so lange her, daß jemand in meinem Wahlkreis nach einem Vortrag über Europa den Wunsch äußerte, auch einmal "dorthin kommen zu dürfen" – nach Europa! Die vage Vorstellung bei vielen Bürgern, worum es sich bei dem Begriff "Europa" handelt, macht v.a. eines klar: Nicht alles, was in dem Europa der Fünfzehn geschaffen worden ist, kann dem Bürger auch entsprechend vermittelt werden.

Es ist schon eine Ironie des Schicksals, wenn heute, 1999, in einem Europa der Fünfzehn, in dem die Grenzen weggefallen sind, wir uns zwar frei bewegen und niederlassen können und dennoch trotz politischer Aufklärungsarbeit an den Schulen manches vielen immer noch "spanisch" vorkommt. Und das, obwohl die meisten Deutschen sicher schon selbst in Spanien waren, und Deutschland immerhin seit 1957, also seit 42 Jahren, Teil der Rechtsgemeinschaft der heutigen Europäischen Union ist.

Vor zwei Wochen – nach einer Veranstaltung in München – wurde ich wieder überrascht durch die verunsicherte Frage eines Teilnehmers, wie das denn mit den Wahlen zum Europäischen Parlament sei, er hätte heute zum ersten Mal in seinem Leben davon gehört. Ich erkundigte mich, ob er eventuell seinen Wohnsitz seit 1979 öfters geändert oder keine deutsche Staatsangehörigkeit habe, was er allerdings verneinte. Seltsam, dachte ich mir, da fanden nun bereits viermal Direktwahlen zum Europäischen Parlament statt (1979, 1984, 1989 und 1994), und der Betreffende müßte doch zumindest eine Wahlmitteilung zu den Europawahlen erhalten haben! Interessieren sich manche Menschen einfach nicht für politische Korrespondenz? Lesen sie keine Zeitungen, nutzen sie weder Fernsehen noch Radio? Dabei leben wir doch heute in einer modernen Informationsgesellschaft. Sollte etwa eine solche Begebenheit nur ein Einzelfall gewesen sein? Da ich die parlamentarische Vertretung der Wählerinteressen in Europa sehr ernst nehme, hat mich dieses Erlebnis doch recht nachdenklich gestimmt.

Andere kritische Bürger wiederum fragen mich, ob denn das Europäische Parlament inzwischen überhaupt etwas "zu entscheiden" habe. An solchen Fragen erkenne ich, daß wir in der Tat die Außendarstellung des Europäischen Parlaments verbessern müssen. Denn schließlich wurden die Kompetenzen des Europäischen Parlaments seit den ersten Direktwahlen im Jahr 1979 stetig erweitert.

Ursula Schleicher
Ursula Schleicher, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments

So entscheidet das Europäische Parlament z. B. endgültig über den Haushalt der Europäischen Union. Der Etat fällt zwar geringer aus, als allgemein angenommen; er hat den fünfzehn Mitgliedstaaten aber umfangreiche finanzielle "Segnungen" gebracht. So wurden bisher ca. 57 Prozent der Bevölkerung direkt oder indirekt mit Mitteln der EU subventioniert.

Weiterhin kontrolliert das Europäische Parlament den Haushalt der EU. Eine einmalige Einrichtung, die es dem Europäischen Parlament erlaubt, die von der Kommission zu verwaltenden Ausgaben zu überwachen und zu prüfen, ob sie tatsächlich gerechtfertigt waren. Erinnern wir uns an den Skandal im Dezember 1998, als wir, das Europäische Parlament, die Europäische Kommission mit ihren 20 Kommissaren nicht entlastet haben. Dieses Ereignis kulminierte dann im Rücktritt der gesamten Kommission in der Nacht vom 15. auf den 16. März 1999. Das ist in der Geschichte Europas einmalig.

Obwohl uns viele Bürger in Deutschland auf die Schulter klopften, dafür daß wir konsequent gearbeitet und mit der Kommission "aufgeräumt" hätten, wissen immer noch nicht alle, daß das Europäische Parlament auf europäischer Ebene inzwischen gleichberechtigter Gesetzgebungspartner mit den fünfzehn Mitgliedstaaten ist. Ab dem 1. Mai 1999, dem Datum des Inkrafttretens des Amsterdamer Vertrages, gibt es nur noch wenige Politikbereiche, die der Rat der Europäischen Union, also die verantwortlichen Regierungschefs der fünfzehn Mitgliedstaaten, ohne das Parlament entscheiden kann.

Wie sieht unsere Zukunft aus? Die Europäische Union ist die stärkste Wirtschaftskraft der Welt. Aber wird sie das bleiben können, angesichts der globalen Veränderungen?

1965 bestand die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aus sechs Mitgliedstaaten und hatte einen Anteil von 11,2 Prozent der Weltbevölkerung. 1995 waren es bereits fünfzehn Mitgliedstaaten. Der Anteil betrug nur noch 6,2 Prozent der Weltbevölkerung. Selbst wenn jetzt noch elf weitere Staaten in den nächsten Jahren der Europäischen Union beitreten werden – und sie stehen vor der Tür –, wird der Anteil der Bevölkerung der EU­Staaten im Jahr 2020 maximal nur noch 4,2 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Wollen wir also das Erreichte erhalten, müssen wir erkennen, daß wir alle in einem Boot sitzen.

Wir verlangen in Europa mehr Demokratie, mehr Transparenz und mehr Subsidiarität. Dies erreichen wir nur, wenn alle Bürger sich "ihres" Europas annehmen.

Darum ist es wichtig, am 13. Juni ein Europäisches Parlament zu wählen, das als Gegenstück zum Rat gesehen werden muß, sowohl in seiner Zusammensetzung als auch in seinem Einfluß auf die europäische Gesetzgebung. Endlich gilt auch für das Europäische Parlament, was bisher für den Deutschen Bundestag und für die Länderparlamente selbstverständlich ist: daß demokratische Wahlen entscheiden, welche politische Kraft den Ausschlag bei der Gesetzgebung geben wird.

Die in Aschaffenburg geborene Ursula Schleicher studierte Kulturwissenschaften, Medizin und Musik und war u. a. 1. Harfenistin des Universitätsorchesters von Bahia/ Salvador (Brasilien). Von 1972 bis 1980 war die CSU­Politikerin Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit 1979 gehört Frau Schleicher dem Europäischen Parlament an, dessen Vizepräsidentin sie seit 1994 ist.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9904/9904004
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