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März 02/2000
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essay

Die frei gewählte Volkskammer –

Ein Lehrstück der Demokratie

Von Sabine Bergmann­Pohl

Vier Jahrzehnte dauerte es, bis die Volkskammer der DDR endlich das wurde, was sie vorgab zu sein: ein frei gewähltes und demokratisch arbeitendes Parlament.

Am 7. Oktober 1949 erfolgte die Konstituierung, am 2. Oktober 1990 fand die letzte Sitzung statt. Doch es sind eben nicht die ersten vierzig Jahre, die ihr einen besonderen Platz in der Parlamentsgeschichte sichern, sondern die letzten sechs Monate. Erst in der turbulenten Zeit des Jahres 1990 entstand und entwickelte sich ein Parlament in jenem, nun überwundenen Staat, das diesen Namen verdiente und den Anspruch auf Demokratie und gesellschaftliche Einflussnahme verwirklichte.

Der Wandel kam mit der friedlichen Revolution. Sehr schnell entwickelte sich die allgemeine Forderung nach demokratischer Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens und mit ihr der Druck auf die vorhandenen Institutionen, ihr gerecht zu werden. So geschah es auch mit dem Parlament.

Nach ihrer Wahl zur Präsidentin der ersten frei gewählten Volkskammer nimmt Sabine Bergmann­Pohl die Glückwünsche entgegen.
Nach ihrer Wahl zur Präsidentin der ersten frei gewählten Volkskammer nimmt Sabine Bergmann­Pohl die Glückwünsche entgegen.

Die Volkskammer in ihrer 10. Wahlperiode ist in mehrfacher Hinsicht mit dem Begriff Demokratie untrennbar verbunden: Zum einen waren die Wahlen vom 18. März 1990 Folge und Fortsetzung eines sich seit mehreren Monaten vollziehenden gesellschaftlichen Wandlungsprozesses. Die freie Abstimmung hatten sich die Bürger der DDR erkämpft.

Zum anderen bestand der Hauptinhalt der Tätigkeit der Abgeordneten in der Erarbeitung der gesetzlichen Grundlagen eines demokratischen Staates, womit zum Dritten die notwendigen Voraussetzungen für die Mitgestaltung eines zukünftigen Deutschlands geschaffen wurden.

Diese Volkskammer, die am 5. April 1990 ihre Tätigkeit aufnahm, war in jeder Beziehung ein ungewöhnliches Parlament. Wir wurden von heute auf morgen ohne Vorbereitung aus unserem Arbeitsleben gerissen, um eine parlamentarische Arbeit mit höchster Verantwortung in einer geschichtlich bedeutenden Zeit zu verrichten. Für jeden Einzelnen ergaben sich völlig neue Erfahrungen und Einsichten. Keiner von uns konnte vor der Volkskammerwahl ahnen, auf welche Weise die Geschichte einmal sein Leben bestimmen würde und welche Anforderungen an ihn nach jenem 18. März gestellt werden sollten.

Die meisten von uns hatten keine oder nur geringe politische Erfahrung. Aufgrund des völligen Wandels des gesellschaftlichen und politischen Systems war eine hauptamtliche politische Vergangenheit die Ausnahme. Wir kamen fast alle aus Berufen, die mit Politik und Parlament kaum etwas zu tun hatten. Ich selbst war zum Beispiel Lungenfachärztin. Zwar war ich seit 1981 Mitglied der CDU, hatte mich aber in dieser Partei, den Möglichkeiten entsprechend, ausschließlich mit gesundheitspolitischen Fragen befasst und mich vor allem für Behinderte engagiert.

Wir alle mussten erst lernen, mit den Regeln der freiheitlichen parlamentarischen Demokratie umzugehen. Ein vergleichender Blick in die parlamentarische Geschichte der Bundesrepublik zeigt, dass es den Mitgliedern des ersten Deutschen Bundestages wesentlich besser ging, da sie eine vorangegangene "Übungsphase" von 1945 bis 1949 hatten, in der sie auf kommunaler Ebene, auf Länderebene sowie im Parlamentarischen Rat mit demokratischen Gepflogenheiten vertraut wurden.

Kühne Entscheidungen und zugleich nüchterne Urteile wurden von uns verlangt. Trotz politisch unterschiedlicher Überzeugungen durften wir zudem das große Ziel der Wiedervereinigung nicht aus den Augen verlieren. Und so notwendig es war, dieses Ziel mit allem Nachdruck zu verfolgen, so lebenswichtig war es, die vielen Fragen des Alltags, die Sorgen und Ängste der Menschen in unsere Arbeit einzubeziehen. Wir hatten die Freiheit gewonnen, und mit ihr wuchs unsere Verantwortung. Das Ungewöhnliche an unserem Auftrag war, dass wir von vornherein wussten, für unsere Arbeit nicht viel Zeit zu haben. Es ging nicht um eine Legislaturperiode, sondern um das Schaffen der Voraussetzungen für die Selbstauflösung

Kein Wunder, dass manches etwas handgestrickt wirkte. Aber heute können wir im Rückblick auf die sechsmonatige Arbeit des Jahres 1990 sagen: Wir haben unseren Auftrag erfüllt, die Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden. Insofern blicken die meisten von uns ehemaligen Volkskammerabgeordneten mit Freude und mit Stolz auf diese für uns so bedeutende, turbulente, aber auch schöne Zeit zurück. Vergessen haben wir dabei schon, dass wir in unserer Tätigkeit durch mancherlei Schwierigkeiten gehemmt wurden. Wir Abgeordneten hatten zunächst keine Arbeitsräume, keine Wohnräume, wenig technische Hilfsmittel und kaum brauchbare bzw. unzureichende Telefonanschlüsse. Kurz: Es fehlte an fast allem.

Jeder von uns hat sich auf seine Weise bemüht, der großen und besonderen Verantwortung gerecht zu werden. Jeder hat sich dabei sein eigenes Urteil gebildet, jeder hat seine eigene Wahrheit gesucht. Eine Garantie für den besten Weg konnte es nicht geben. Fehler und Irrtümer waren nicht ausgeschlossen. Und doch haben wir immer wieder versucht, Zeichen der Wahrhaftigkeit zu setzen. Bei allem Hader über uns selbst, bei aller Unzufriedenheit über die Ergebnisse im Einzelnen, haben wir doch im entscheidenden Moment die Kraft für gemeinsame Verantwortung aufgebracht. Und wir sind dabei eigentlich erstaunlich fair miteinander umgegangen. Das galt für das Präsidium ebenso wie für das Plenum und auch für den Ausschuss Deutsche Einheit, dessen Vorsitz mir übertragen war.

Mit 164 verabschiedeten Gesetzen und 93 Beschlüssen war der Umfang der Arbeit gewaltig und die Zahl der Probleme auch. Die große Sachlichkeit bei den Diskussionen und Beschlussfassungen ist besonders hervorzuheben. Sicher gab es unterschiedliche politische Grundpositionen der Fraktionen, und es gab auch häufig sehr emotionale Debatten. Die Verfassung der DDR und deren schrittweise Abänderung beschäftigte uns in sehr vielen Sitzungen des Plenums, des Präsidiums und der Fraktionen. Es ging uns darum, den Übergang von einer Gesellschaftsordnung in eine andere so schonend und allmählich wie möglich zu vollziehen. Allerdings war der Druck der Bevölkerung auf uns, den Beitritt schnell zu vollziehen, so stark, dass wir Mühe hatten, mit den staatsrechtlichen Regelungen Schritt zu halten.

Mit dem Verfassungsgrundsätze­Gesetz vom 17. Juni, in dem die DDR als "freiheitlicher, demokratischer, föderativer, sozialer und ökologisch orientierter Rechtsstaat" definiert wurde, den Gesetzen über die Währungs­, Wirtschafts­ und Sozialunion vom 21. Juni 1990, über die ersten gesamtdeutschen Wahlen vom 22. August 1990, den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vom 23. August 1990 sowie über den Einigungsvertrag vom 20. September 1990 wurde der Weg geebnet, der direkt zum 2. und 3. Oktober führte. Besonders erinnerungswürdig ist dabei die Nacht vom 22. zum 23. August, in der turbulent und emotionsgeladen der Beitritt beschlossen wurde.

Von den politischen Erklärungen, die die Volkskammer abgab, möchte ich vor allem die vom 12. April erwähnen. In einer Gemeinsamen Erklärung aller Fraktionen bekannten sich die Parlamentarier zur Verantwortung für ihre Geschichte und ihre Zukunft. Wörtlich heißt es in diesem Antrag: "Das frei gewählte Parlament der DDR bekennt sich im Namen der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zur Mitverantwortung für Demütigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder. Wir empfinden Trauer und Scham und bekennen uns zu dieser Last der deutschen Geschichte. Wir bitten die Juden in der Welt um Verzeihung. Wir bitten das Volk in Israel um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR­Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande ..."

Wenige Wochen später konnte ich gemeinsam mit Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth auch persönlich diese gemeinsame und überzeugende Haltung unserer Abgeordneten den führenden Repräsentanten und der Bevölkerung in Israel übermitteln.

Die Bürger in Deutschland haben unsere Arbeit sehr aufmerksam verfolgt. Natürlich wurden wir auch kritisiert, viele aber brachten unserer Arbeit Achtung und Wohlwollen entgegen. Diese Anerkennung unserer Arbeit war für uns sehr wichtig, gab es doch auch andere Verhaltensweisen und Äußerungen. In der damaligen Bundesrepublik brachten leider manche durchaus nicht einflusslose Politiker ihr Erstaunen zum Ausdruck, mit welcher Unvoreingenommenheit und welchem Draufgängertum wir unsere Aufgaben in Angriff nahmen. "Amateurtheater" und "Laienspieler" waren noch die gutmütigsten Titulierungen, die mancher so genannte Profipolitiker für uns fand. Diese Äußerungen zeugten von der Unkenntnis der Situation bei uns. Sie ließen aber auch die mangelnde Bereitschaft erkennen, die tatsächlichen Veränderungen, die sich vollzogen, zu verstehen, geschweige denn konkret zu analysieren. Diese Charakterisierungen waren also unangebracht und wirklichkeitsfremd.

Unser Parlament erfreute sich des regen Interesses seiner Bürger und der internationalen Öffentlichkeit. Kein Wort, das im Plenum gesprochen wurde, keine Kontroverse, keine Abstimmung entging dem wachen Blick der Zuschauer an den Bildschirmen. Und sie zeigten eine Teilnahme, wie man sie sich für unser heutiges Parlament wünschte.

Heute kann man feststellen, dass das allgemeine Interesse für unsere damalige Arbeit zunimmt. So war es für uns erfreulich, dass Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich der Feier zum fünfzigjährigen Bestehen dieses Parlaments die Arbeit der Volkskammer in jenen dramatischen sechs Monaten des Jahres 1990 besonders gewürdigt hat.

Damit wird sich auch allmählich die Erkenntnis durchsetzen, dass jene Zeit zwischen Sommer 1989 und Herbst 1990 charakterisiert wird durch eine gelungene Freiheitsrevolution, einen unbändigen Willen zur Demokratisierung des gesamten Lebens und den Willen, die ganze Kraft für die Überwindung einer jahrzehntelangen, von Diktatur, Bevormundung und wirtschaftlicher Zerrüttung geprägten Vergangenheit einzusetzen.

Ein würdiger Beitrag für den Fundus deutscher Demokratie.

Sabine Bergmann­Pohl, geboren 1946 in Eisenach, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Nach dem Abitur und einem zweijährigen Praktikum im Institut für Gerichtsmedizin der Berliner Humboldt­Universität studierte sie Medizin und promovierte 1980 zum Dr. med. Zwischen 1980 und 1995 leitete sie die Poliklinische Abteilung für Lungenkrankheiten und Tuberkulose Berlin­Friedrichshain. Zwischen 1985 und 1990 war sie Ärztliche Direktorin in der Bezirksstelle für Lungenkrankheiten und Tuberkulose in Ost­Berlin. 1981 trat Sabine Bergmann­Pohl in die CDU ein, für die sie 1990 in die einzige frei gewählte Volkskammer der DDR einzog. Im April 1990 wurde sie zur Präsidentin der Volkskammer gewählt, damit war sie auch Staatsoberhaupt der DDR. Seit 1990 ist Frau Bergmann­Pohl Mitglied des Deutschen Bundestages: Sie war bis Januar 1991 Bundesministerin für besondere Aufgaben und von Januar 1991 bis Oktober 1998 Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0002/0002004
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