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Juni 06/2000
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streitgespräch

Die Wehrpflicht - ein Auslaufmodell?

Streitgespräch über die Zukunft der Bundeswehr

Soldatin der Bundeswehr bei der Grundausbildung.
Soldatin der Bundeswehr bei der Grundausbildung.

Wie viele Soldaten braucht das Land? Was soll ihre Hauptaufgabe sein? Ist in Zeiten der Entspannung die Wehrpflicht noch nötig oder eher eine Berufsarmee angemessen? Eine weitreichende und kontroverse Debatte über die Zukunft der Bundeswehr erhitzt die Gemüter in Parlament und Gesellschaft. Angestoßen wurde sie durch die radikalen Reformvorschläge der Weizsäcker-Kommission. Auch für Blickpunkt Bundestag ist die Zukunft der Bundeswehr Thema des Monats. Was ist zu tun, was zu lassen? Darüber führten wir ein Streitgespräch mit dem Vorsitzenden der Arbeitsgruppe Verteidigung der Unionsfraktion, Paul Breuer, und der verteidigungspolitischen Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Angelika Beer.


Blickpunkt Bundestag: Für die Weizsäcker-Kommission ist die Bundeswehr in ihrer jetzigen Struktur eine Armee ohne Zukunft, für Verteidigungsminister Scharping nur "bedingt einsatzbereit". Stimmen Sie überein, dass akuter Handlungsbedarf besteht?

Paul Breuer: Ja, die Bundeswehr muss umgebaut werden, denn die sicherheitspolitische Lage hat sich über die 90er Jahre hinaus weiter verändert. Nur warnen wir davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Nach unserer Analyse gibt es durchaus weiterhin erhebliche Risiken und Bedrohungen für den Stabilitätsprozess in Europa. Denken Sie nur an den Balkan. Auch aus eigenem Interesse muss Deutschland mit seinen Nachbarn in der Mitte Europas einen Sicherheitsanker bilden. Da wir keine Nuklearmacht sind, brauchen wir weiterhin konventionelle Streitkräfte von einer Dimension, mit der wir die europäische Sicherheit mitgestalten können.

"Wir warnen davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten"

Teilen Sie, Frau Beer, diese Bedrohungsanalyse? Brauchen wir nach Wegfall des Ost-West-Konflikts noch eine Wehrpflicht-Armee?

Angelika Beer: Wir Grüne teilen die Bedrohungsanalyse der Weizsäcker-Kommission: In absehbarer Zeit ist Deutschland nicht unmittelbar bedroht, dafür können neue, andere Risiken entstehen. Auch bei den Schlussfolgerungen stimmen wir weitgehend überein: Die Zeit großer Panzerarmeen zur Landesverteidigung ist vorbei. Was wir heute brauchen, sind moderne, flexible Streitkräfte, die glaubhaft für unsere Bündnisverpflichtungen, die Landesverteidigung und die Krisenprävention stehen. Das bedeutet einen radikalen Umbau der Bundeswehr.

Gehört dazu auch der Verzicht auf die Wehrpflicht?

Beer: Ja, wir Grüne sind der Überzeugung, dass die Wehrpflicht ein Auslaufmodell ist. Es gibt gute Argumente dafür, politisch zu entscheiden, aus der Wehrpflicht auszusteigen. Einmal öffnen wir ja gerade zurzeit die Streitkräfte generell für Frauen. Eine Freiwilligkeit für Frauen und ein Zwangsdienst für junge Männer passen nicht zusammen, wäre eine Diskriminierung der Männer. Zum anderen ergibt sich aus der sicherheitspolitischen Analyse aus unserer Sicht, dass der Staat nicht mehr das Recht hat, mit einem Zwangsdienst in das Leben Jugendlicher einzugreifen. Deshalb sind wir gegen die allgemeine Wehrpflicht.

"Die Wehrpflicht ist ein Auslaufmodell"

Breuer: Wir kommen aus der Risiko-Analyse zu einem ganz anderen Schluss. Die Sicherheitslage in Europa ist zwar entspannt, kann sich aber durchaus auch wieder ändern. Es liegt im politischen Interesse Deutschlands, seine Sicherheit in das Bündnis und in die zunehmende Gemeinsamkeit Europas einzubinden. Dazu gehört ein klarer, tragfähiger, der eigenen Bevölkerung und Wirtschaftskraft angemessener Verteidigungsbeitrag, der ohne Wehrpflicht nicht machbar ist.

Verteidigungspolitiker: Angelika Beer ...
Verteidigungspolitiker: Angelika Beer ...

Wenn die künftige Aufgabe der Bundeswehr weniger die Landesverteidigung als die Krisenprävention und Krisenbewältigung ist - sind dann nicht eher professionelle Kräfte als Wehrpflichtige gefragt?

Breuer: Das kann man doch hervorragend vereinbaren. Wir brauchen keine Sonderprofile, sondern wir müssen das Gesamtfähigkeitsprofil der Streitkräfte im Auge haben. Dazu gehört die Fähigkeit zur Landes- und zur kollektiven Bündnisverteidigung wie die Krisenmanagementfähigkeit. Mit abgestufter Präsenz und Verfügbarkeit lassen sich diese Aufgaben meistern.

Ist eine Wehrpflicht, die nur noch einen sehr kleinen Teil eines Jahrgangs erfasst, noch gerecht und vertretbar?

Beer: Nach unserer Überzeugung nicht. Schon heute muss man die Frage der Wehrgerechtigkeit stellen. Sinkt die Zahl der einberufenen jungen Männer entscheidend weiter ab, stellt sich die Frage der Verfassungskonformität noch stärker. Eines ist für uns klar: Der Staat darf sich in dieser Frage nur am militärischen Bedarf orientieren und nicht daran, krampfhaft eine angebliche Wehrgerechtigkeit aufrechtzuerhalten.

Einverstanden?

Breuer: Nein. Wer die Wehrpflicht aus sicherheitspolitischen Gründen will, muss sie gerecht ausgestalten. Es gibt auch bei weniger einberufenen Wehrpflichtigen dafür genügend Instrumente. Allerdings bis zu einem bestimmten Punkt. Der Wehrdienst muss in der Zeitdauer glaubwürdig bleiben.

Welche Rolle spielt die Sorge, dass ohne Wehrpflicht die Bundeswehr ungenügend in der Gesellschaft verankert sein könnte?

Breuer: Wir haben in Deutschland eine sehr positive Tradition mit der allgemeinen Wehrpflicht. Sie ist gerade in den letzten zehn Jahren bei der Verankerung der Bundeswehr in den neuen Ländern erneut bewiesen worden. Wir finden es sehr wichtig, diese Tradition nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Im Übrigen rekrutieren sich mehr als 50 Prozent der Zeit- und Berufssoldaten der Bundeswehr aus den Wehrpflichtigen und sind dadurch in allen Teilen und Landschaften unserer Gesellschaft verankert.

"Wir haben eine sehr positive Tradition mit der Wehrpflicht"

Beer: Für mich ist die Wehrpflicht kein Garant für Demokratie und auch kein Garant der Streitkräfte dafür, völkerrechtswidrige Einsätze zu verhindern. Immerhin ist der Zweite Weltkrieg von einer Wehrpflichtarmee eröffnet worden.

Breuer: Allerdings in einem totalitären Staatswesen!

Beer: Außerdem garantiert die Wehrpflicht keineswegs mehr, dass das ganze Spektrum der Gesellschaft in der Armee repräsentiert ist. Untersuchungen belegen, dass bestimmte Kreise, etwa Abiturienten, sich heute weit mehr gegen die Wehrpflicht entscheiden als andere. Demokratie in den Streitkräften ist nicht nur eine Frage der Rekrutierung, sondern auch von innerer Führung und Bildung in der Bundeswehr.

Spielt auch die Sorge um den Zivildienst, der ohne Wehrpflicht seine Begründung verlöre, eine Rolle?

Breuer: Primär nicht, aber sekundär. Rechtlich ist der Zivildienst ja ein Ersatzdienst. Deshalb darf und kann man die Wehrpflicht nicht über den Ersatzdienst begründen. Aber richtig ist sicherlich, dass eine Veränderung bei der Wehrpflicht erhebliche Folgewirkungen auch auf den Zivildienst hätte.

... und Paul Breuer.
... und Paul Breuer.

Beer: Einverstanden. Ich sehe aber auch unabhängig von der Diskussion um die Wehrpflicht einen großen Umsteuerungsbedarf bei den zivilen Diensten. Wir wollen eine Konversion des Zivildienstes und die Förderung aller freiwilligen Dienste. Es wäre gut gewesen, diese Fragen parallel zur Reform der Bundeswehr zu klären.

Auch die Kosten spielen bei den Reformplänen eine große Rolle. Wäre eine Berufsarmee billiger?

Breuer: Ich bezweifle das ganz entschieden. Das zeigt sich schon bei der Personalgewinnung: Bei einer Freiwilligen-Armee wären die Kosten dafür weit höher als bei Streitkräften mit Wehrpflichtigen, weil hier qualitativ gutes Personal aus den Wehrpflichtigen hervorgeht. Ähnliches gilt für vielfältige andere Bereiche. Unsere Partnerländer mit einer Berufsarmee stöhnen jedenfalls unter den Kosten. Insgesamt aber muss klar sein: Sicherheitspolitik darf nicht nach Kassenlage gemacht werden.

Beer: Richtig. Dennoch ist die Einhaltung der Haushaltskonsolidierung unserer Regierung ein wichtiger Faktor. Leider hat das Verteidigungsministerium es bislang versäumt, gleiche Kostenkriterien an die verschiedenen Wehrform-Konzepte zu legen. Das bedauere ich sehr. Denn dadurch fehlt eine wichtige Entscheidungsgrundlage.

"Die Haushaltskonsolidierung ist ein wichtiger Faktor"

Die Bundesregierung stellt sich auf eine deutlich verkleinerte Bundeswehr mit rund 280.000 Soldaten inklusive 77.000 Wehrpflichtigen ein. Ihr Urteil: Mutige Zukunftsreform oder halbherzige Mogelpackung?

Beer: Ein Schritt in die richtige Richtung. Aber leider nur ein kurzer.

Breuer: Die Bundeswehr sollte 300.000 Soldaten mit 100.000 Wehrpflichtigen umfassen. Einiges im Konzept ist diskussionswürdig. Insgesamt aber eine Katze im Sack, die wir so nicht kaufen werden.




Kontakt:

paul.breuer@bundestag.de
angelika.beer@bundestag.de

Internet

Die Vorschläge der Weizsäcker-Kommission sowie die Eckwerte des Generalinspekteurs zur Zukunft der Bundeswehr können aus dem Internet heruntergeladen werden: http://www.bundeswehr.de

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0006/0006011
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