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September 08/2000
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hintergrund

Rhythmuswechsel

Der Plenarsaal.
Der Plenarsaal.

Sommerpause und Debattentag. Nach der sitzungsfreien Zeit und der arbeitsreichen Haushaltswoche stellt Blickpunkt Bundestag die beiden so unterschiedlichen Zeiten im Parlamentsleben vor.

Während der Sommerpause ist das Reichstagsgebäude nicht leer – aber anders. In der sitzungsfreien Zeit herrscht im Hohen Haus ein neuer Rhythmus, und andere Menschen prägen das Bild auf den Gängen und in den Räumen. Nur der Besucherandrang ist groß und stetig wie eh und je.

Ein Morgen in der Sommerpause.
Ein Morgen in der Sommerpause.
Nach dem Sonnenaufgang erscheinen die Handwerker.
Nach dem Sonnenaufgang erscheinen die Handwerker.
Im Plenum wird eine Hebebühne aufgebaut.
Im Plenum wird eine Hebebühne aufgebaut.

Um sechs ist immer ein wenig zu früh am Morgen. Aber wer rechtzeitig da ist, kann vielleicht einen Sonnenaufgang sehen. Vom Reichstagsgebäude aus. Das ist fast so gut wie ein Hattrick zum Auftakt der Bundesliga. Oder besser.

Ansonsten aber ist vieles anders an einem Bundestag-Tag in der sitzungsfreien Zeit. Es riecht anders, schmeckt anders, klingt anders. Das merkt man erst nach ein paar Stunden, aber dann ist es auch ein kleiner Sinnestaumel, der mit der Feststellung beginnt, dass man schlendert anstatt zu gehen, zu laufen, zu hasten. Man schlendert durch das Gebäude, von einer Ebene zur anderen, und hat – morgens um halb acht – doch wirklich genügend Zeit und genügend Platz, sich die Bilder von Polke anzuschauen.

Um die gleiche Zeit ist man ein paar Wochen später und zwei Etagen höher, während des Haushaltsmarathons des Bundestages, zum Beispiel schon beim Herrichten des Raumes für den Ältestenrat. Gläser und Getränke werden bereitgestellt. Unten auf der Parlamentsebene und vor dem Plenarsaal kommen die Drucksachen auf die Tische. Die ersten Kamerateams postieren sich vor den Osteingang. Beim Sicherheitsdienst sind alle Aufgaben verteilt, im Restaurant alle Tische gedeckt, im Fahrdienst alle fahrbereit. Die Tagesordnung steht fest, im Parlamentssekretariat arbeitet man bereits an der für den nächsten Tag. Die Putzkolonnen haben fast alle Arbeit erledigt und verschwinden nach und nach aus den Blickfeldern. Es riecht sauber und an manchen Ecken ein bisschen nach Kaffee und an anderen auch mal nach Trussardi oder Boss, wenn ein Sicherheitsbeamter zielstrebig und schnellen Schrittes an einem vorbeigeht. Es ist fast alles vorbereitet für den Arbeitstag – sie brauchen nur noch zu kommen, die Parlamentarierinnen und Parlamentarier, dann wird das Haus anfangen, einen schnellen Takt zu schlagen.

Ein leerer Plenarsaal an einem sitzungsfreien Tag ist eine komische Angelegenheit. Selbst auf der Besuchertribüne spricht man sofort leiser, als seien sie doch alle da, die sonst im Plenum sitzen und beraten. Also man weiß ja, wo sie wirklich sind. Nicht hier im Plenarsaal. Einige machen Urlaub, andere arbeiten in ihren Wahlkreisen, manche sitzen in ihren Berliner Büros und bereiten auf und vor. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abgeordneten sind zufrieden. Sie brauchen diese Zeit, um die angesammelten Papierstapel abzuarbeiten und alles für die bald wieder beginnende Sitzungsperiode vorzubereiten. Jetzt aber kann man die Gelegenheit nutzen und sich auf einen der grau bezogenen Stühle auf der Besuchertribüne setzen und anschauen, wem an diesen Tagen die Macht im Saal und überhaupt im Haus gehört: den Handwerkern. Die in der roten Montur überprüfen alle Automatiktüren. "Unglaublich viele Türen", sagt einer. "Vielleicht ein paar zu viel." Alles, was sich dreht und bewegt, zum Beispiel Türen und Scharniere, verschleißt schnell. Da reicht so eine Sitzungspause gerade aus für die notwendigen Reparaturen und die Wartung. "Logisch", sagt ein Monteur, "in der Sitzungszeit geht es ja hier wie in einem Kaufhaus zu." Dann gibt es die, die die Mikrofonanlage im Plenarsaal überprüfen. Jedes einzelne Mikrofon wird an diesem Tag getestet. Der das tut, hat einen angenehmen Bass und irgendwann fängt man an, darauf zu warten, dass er wieder sagt: "Eins, zwei, drei, vier – Test, Test, Test." Es klingt, als begänne gleich ein Konzert – Don Byron spielt Mickey Katz, das könnte ein ziemlicher Renner sein bei dieser Akustik. Ein großer Blonder mit leuchtend gelbem Pullover, allerdings ohne schwarze Schuhe, kontrolliert Alarmanlagen. Mit großer Gelassenheit arbeitet er sich vorwärts. Wenn es hier wieder losgeht im September, kann nichts mehr schiefgehen. So sieht's aus. Aber den Vogel schießen an diesem Tag die ab, die um acht Uhr beginnen, eine Hebebühne im Saal aufzubauen. Die Glaskuppel, die den Raum überdacht, muss von innen geputzt werden. Das ist eine komplizierte Angelegenheit. Diese Hebebühne muss ja irgendwie nach oben kommen. Also bereitet sich einer der tollkühnen Männer darauf vor, in das Innere des in der Mitte der Überdachung hängenden Kegels zu steigen, um von dort die Seile nach oben zu ziehen, die diese "fliegende Kiste" später halten werden. Die Leute im Saal nennen den Kegel respektlos "Möhre". Aber das trifft es auch ein wenig.

Die Kameras sind abgedeckt.
Die Kameras sind abgedeckt.
Die Cafeteria ist am Morgen noch leer, doch später kommen die Gäste.
Die Cafeteria ist am Morgen noch leer, doch später kommen die Gäste.

Auch an Sitzungstagen ist der Saal um acht Uhr morgens noch leer. Aber schon eine halbe Stunde später kommen die ersten Parlamentarier, um ein paar Sachen auf ihren Tischen abzulegen. Sie betreten das Haus durch den Eingang Ost, manche haben da schon ihr erstes kurzes Interview hinter sich. Sie haben am Tag zuvor lange gearbeitet und die Tagesordnung verspricht, dass es auch an diesem Tag so sein würde. Sie telefonieren noch schnell, lesen noch schnell, gehen noch schnell ihre Rede durch, schauen, ob neue Drucksachen auf den Tischen gelandet sind, führen auf den Gängen oder in der Lobby kurze Gespräche mit anderen, rufen in ihren Büros an, ob alles läuft, wie es laufen soll, überfliegen die wichtigsten Themen in der Tagespresse. An solchen Tagen hört sich das Haus ganz anders an als in jenen Stunden, da fast alle Geräusche von Handwerkern kommen. Alle aber denn doch nicht, denn oben auf der Besuchertribüne wird viel geredet. Oben auf der Besuchertribüne ist es immer gleich voll – egal ob Sommerpause oder Sitzungszeit. Seit acht Uhr ist der Eingang West geöffnet für die Schaulustigen und Wissensdurstigen. Aber schon vorher hatte sich eine Schlange gebildet. Besuchstag ist immer im Hohen Haus. Und wenn die Volksvertreter außer Haus sind, kommen trotzdem nicht weniger. Die Attraktion ist der Vortrag oben im Plenarsaal. Im Angesicht der abgedeckten großen Kameras des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und des Bundestages sitzen die Besuchergruppen und hören zu, wie ihnen Geschichte erzählt wird. Zum Beispiel die Geschichte von der in diesen Sommertagen in einem der Innenhöfe installierten Inschrift "DER BEVÖLKERUNG". "Einen Kontrapunkt zur Inschrift ,DEM DEUTSCHEN VOLKE' im Architrav über dem Westeingang soll sie setzen", sagt die Geschichtenerzählerin und wirft schwungvoll ihren langen Seidenschal über die Schulter. Es gibt eine Menge Fragen – zum Beispiel die, ob es stimme, dass die bayerischen Abgeordneten nicht, wie gewünscht, etwas bayerische Erde für den Platz um die Inschrift herum beisteuern wollen. "Ist denn jemand aus Bayern unter Ihnen", fragt die Frau mit dem Seidenschal und erntet fröhliches Gelächter.

Blick in den noch leeren Plenarsaal.
Blick in den noch leeren Plenarsaal.
Später beginnt ein Techniker den Aufstieg in den Entlüftungskegel.
Später beginnt ein Techniker den Aufstieg in den Entlüftungskegel.

Als das Parlament im 1200 Quadratmeter großen Plenarsaal berät, sitzen die Besuchergruppen still oben auf der Tribüne. Sie hören zu, und manchmal zeigt einer seinem Nachbarn, wen er gerade unten entdeckt hat. Lauter Berühmtheiten. Sie staunen, wie hoch es da hin und wieder hergeht, wenn die Themen umstritten sind, geben ab und zu stille Beifallsbekundungen, wenn ihnen eine Redepassage besonders gut gefällt. Sie gehen leise auf der einen Seite hinein und nach einiger Zeit auf der anderen wieder heraus, um weiterzuwandern im Haus und später vielleicht mit ihrem Abgeordneten zu reden. Sie schalten vor dem Betreten der Besuchertribüne ihre Handys aus und danach manchmal wieder an, wenn sie es nicht vergessen. Sie wirken aufgeregter, kann es doch immer sein, dass einem jemand über den Weg läuft, den man sonst nur im Fernsehen sieht. Fischer oder Trittin vielleicht. "Mensch, guck mal", sagt in einem solchen historischen Moment eine Frau zu ihrem Ehemann, "der Fischer hat das doch auch geschafft mit dem Abnehmen."

Jetzt im fast leeren Plenarsaal sehen die Besucher oben auf der Tribüne, wie unten die Hebebühne langsam auf Schienen in die Mitte des Raumes gleitet. Trommeln mit Drahtseilen werden rangeschafft, und der tollkühne Mann beginnt seinen Aufstieg in den Kegel. Die anderen legen vor dem Tisch des Präsidiums einen großen bunten Teppich aus. "Ein fliegender Teppich", sagt oben jemand. "Wat woll'n se denn damit?" "Damit wir die Auslegware nicht schmutzig machen mit den Seilen", flüstert ein Monteur. Der Teppich sieht aus wie eine Installation. Man könnte "DEM PARLAMENT" in großen Lettern draufschreiben und ihn da liegen lassen. Dann hätte das Feuilleton ein Sommerthema. Die Seile werden hochgezogen und befestigt. Irgendwann ist erst einmal Mittagspause und man stellt fest, dass im Hause doch einige unterwegs sind. Die Cafeteria ist gut gefüllt und sieht nicht mehr, wie noch am frühen Morgen, aus wie Daniels Bar vor den Dreharbeiten für "Gute Zeiten Schlechte Zeiten". Drei Mittagsgerichte werden angeboten, eins davon kombiniert mutig Hackbraten mit Kapern und Wirsingkohl. An den Tischen wird viel geredet. Ein Thema ist der Vogel, der am frühen Morgen in der Kuppel gefunden wurde. Hatte sich verflogen, das Tier, und kannte den Ausgang nicht. "Wenn es ihm gut geht", sagt jemand an einem Vierertisch, "braucht man nichts zu unternehmen."

Am Stand in der Kuppel ist Betrieb.
Am Stand in der Kuppel ist Betrieb.
Ein paar Herren vom Plenarassistenzdienst sind auch zu Tisch. Sie tragen keine Dienstkleidung – ein ungewohntes Bild, aber für ihre Aufräumarbeiten im Sommer brauchen sie den Frack nicht. Währenddessen und solange das Tageslicht genügt ist es oben in der Kuppel voll wie eh und je. An diesem Tag sind die Fahnen auf Halbmast gesetzt und viele fragen, was dies zu bedeuten habe. Manche wissen dann bereits zu sagen, dass ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages gestorben sei. Das lässt die Leute für Momente schweigen. Unter der Kuppel arbeitet man auf allen Etagen zielstrebig und nach Plan. Man wartet die Anlagen, sortiert die Stimmkarten nach Farbe, repariert Geräte, kontrolliert technische Systeme, putzt Räume, Gänge, Teppichböden und Geländer, überprüft die Möbel auf Schäden, checkt die Computer, ordnet Akten und Papier, denkt nach, schreibt auf, plant, nutzt die Zeit. All denen, die dies tun, gehört in diesen Tagen das Haus. Und den Besuchern, die sich umschauen und alle irgendwann hoch aufs Dach steigen in die Kuppel, um die Stadt zu sehen und sich zu erzählen, wo sie schon überall waren. Eis geht gut in der Kuppel, der "Käfer"-Stand, an dem man dies und jenes kaufen kann, wird stark frequentiert. Vom Vogel ist weit und breit nichts zu sehen. Hat wohl doch den Weg nach draußen gefunden.

Text: Kathrin Gerlof
Fotos: Angelika und Bernd Kohlmeier

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0008/0008065
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