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Oktober 09/2000
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Die Neubauten des Deutschen Bundestages

Das Band des Bundes nimmt Gestalt an
Rohbau des Paul-Löbe-Hauses mit einer der gläsernen Rotunden.
Rohbau des Paul-Löbe-Hauses mit einer der gläsernen Rotunden.

Ein Lieblingsbild der Politiker zur Umschreibung ihrer Arbeit handelt vom beharrlichen Bohren dicker Bretter. Das soll vom Sommer nächsten Jahres an nicht mehr auf zig Gebäude in Berlin verteilt geschehen, sondern konzentriert in den Neubauten unmittelbar neben dem Reichstagsgebäude. Doch auch jetzt schon werden hier gewaltig viele und gewaltig dicke Bretter gebohrt. Die Bau-Aktivitäten sind auf ihrem Höhepunkt angekommen: 1.400 Arbeiter legen sich ins Zeug, damit die Räume im nächsten Frühsommer bezogen werden können. Wer schon mal ein Haus gebaut hat, kann sich vorstellen, welch immense Planungs-, Organisations- und Koordinierungsaufgaben hier zu meistern sind. Denn Jakob-Kaiser-Haus, Paul-Löbe-Haus und Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, das sind in Volumen gerechnet mal eben 2.000 Einfamilienhäuser, die gleichzeitig aus der Erde wachsen. Blickpunkt Bundestag besuchte die Baustellen auf dem künftigen Band des Bundes, das mit seinen Neubauten die Spree, die ehemalige Grenze zwischen Ost und West, überbrücken wird.

Anbringung der Fenster.
Anbringung der Fenster.

Bei diesen Dimensionen ist es keine Überraschung, dass allein "das" Jakob-Kaiser-Haus, das künftig Fraktions- und Abgeordnetenbüros beherbergen wird, aus acht Großbaustellen besteht. Was 1674 von der brandenburgischen Kurfürstin Dorothea gegründet wurde, dürfte heute Dorothea selbst kaum mehr wieder erkennen, doch die Grundprinzipien der nach ihr benannten Dorotheenstadt links und rechts der Dorotheenstraße fallen dem Baustellen-Besucher jetzt schon ins Auge, wenn er einen Blick hinter die Abdeckplanen und Gerüste riskiert. Die typische Parzellenbauweise im klassizistischen Berlin findet sich in den einzelnen Teilen wieder. Tatsächlich könnte, wer wollte, an den Eingängen Klingelschilder mit den Namen der Fraktionen und Abgeordneten mit dem Hinweis "Vorderhaus", "Gartenhaus", "linker Seitenflügel", "rechter Seitenflügel" versehen – so genau folgt der Architektur-Komplex den historischen Vorläufern.

Selbstverständlich wird es statt der Unterteilung in Vorder- und Hinterhaus einige zentrale Eingänge geben. Aber der typische Eindruck unterschiedlicher, direkt aneinander gebauter einzelner Häuser wird durch die Architektur unterstrichen – und durch die Entscheidung für gleich fünf Büros mit jeweils eigenem Stil. Cie/Pi de Bruijn aus Amsterdam, Peter Busmann & Godfried Haberer aus Köln, Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg aus Hamburg, Peter Schweger aus Hamburg sowie Thomas van den Valentyn aus Köln tragen alle Verantwortung für "das" Jakob-Kaiser-Haus. Sein Hauptcharakterzug besteht somit aus einem Handschriften-Mix. Ob aufgelockerte, vielgesichtige Fassade zur Spree hin, ob die "Stadtfugen" – kleine, Transparenz bewirkende "Spalten", die von oben nach unten, von rechts nach links das Tageslicht ins Gebäude tragen, nahe der Wilhelmstraße, ob die den Villencharakter Richtung Tiergarten aufgreifende Optik zur Ebertstraße hin oder die in das Ensemble fest integrierten Baudenkmäler – alles zusammen macht erst "das" Jakob-Kaiser-Haus aus.

Parzellenbauweise des Jakob-Kaiser-Hauses.
Parzellenbauweise des Jakob-Kaiser-Hauses.

Längst ist das Dach drauf, und gerade werden die Fenster angebracht, so dass ab sofort auch die Witterung keinen Aufschub mehr bewirken kann. Im Inneren winden sich gerade Tausende von Kabelkilometern durch die Flure, schließlich muss jedes einzelne der 2.000 Büros individuell ans Hightech-Zeitalter angeschlossen werden. Ganz gleich, ob in den neu entstandenen Bauten oder in den alten Gemäuern, die zum Teil entkernt wurden, aber auch nur zum Teil. Der Besucher merkt's, wenn er nach minutenlangem Gang über Beton plötzlich auf eine knarrende Holztreppe stößt. Aha, Dorotheenstraße 105 (hier residierten früher Banker) oder "Kammer der Technik" (hier hatten die Deutschen Ingenieure ihren Sitz) oder aber das alte Reichstagspräsidentenpalais, das schon seit gut einem Jahr fertig ist und neue Heimat der Parlamentarischen Gesellschaft, also Treffpunkt der Abgeordneten, geworden ist.

Aber auch die ersten Räume der künftigen Büros haben ihren Rohbau-Charakter bereits hinter sich. Schrankwände und Regale stehen schon, gerade ist ein Handwerker wirklich mit dem Bohren dicker Bretter beschäftigt – ein Loch entsteht. Darin wird der Lichtschalter Platz finden. Auf dass manchem Volksvertreter als Ergebnis ein Licht aufgehen mag, wenn es mal wieder spät wird und die großen Fensterflächen nicht mehr reichen. Draußen steht schon handschriftlich auf dem Putz notiert, wer drinnen mal arbeiten wird: Der Abgeordnete mit dem Büro 633 in Haus 7. Sein Reich besteht aus 18 Quadratmetern für ihn, 18 für sein Sekretariat und 18 für seinen wissenschaftlichen Mitarbeiter. Das klingt viel. Ist es aber nicht. Jeder Bürgermeister, der "seinen" Abgeordneten in Berlin besucht, hat viel mehr daheim, und auch in den Ministerien geht's großzügiger zu. Der einfache Sachbearbeiter muss sich zwar mit 12 Quadratmetern begnügen – doch darauf wird wohl selten Besuchern Platz in einer Besprechungsecke angeboten.

Erinnerung an die frühere Bebauung.
Erinnerung an die frühere Bebauung.

Zu Neid besteht also kaum Anlass. Allerdings nur bei der Größe der Büros. Anders sieht das schon aus, wenn man das Dachgeschoss des Jakob-Kaiser-Hauses betritt. Lichtdurchflutete Besprechungssäle mit einem grandiosen Blick auf Reichstagsgebäude und Tiergarten. Wer hier Besucher und Experten von außen empfängt, wird schon ein spannendes Thema präsentieren müssen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und von der großartigen Aussicht ablenken zu können.

Die großzügige Erschließung innerhalb des Ensembles mit zwei die Dorotheenstraße überquerenden Brücken findet sich in der Öffnung nach außen nur architektonisch wieder. Die Zahl der Zugänge wird viel kleiner sein als vom Charakter her zu erwarten – zugunsten der Steuerzahler. Denn jeder Eingang bedeutet eine Viertel Million Mark Personalkosten jährlich, wenn die Pförtnerloge nur zwölf Stunden täglich besetzt ist. Parlamentsleben spielt sich in den Sitzungswochen jedoch durchaus zwischen 6 Uhr morgens und 2 Uhr nachts ab.

Alter Gebäudeteil mit Holztreppe.
Alter Gebäudeteil mit Holztreppe.

Vor allem bei schlechtem Wetter empfiehlt sich der Abstieg in die Unterwelt des Jakob-Kaiser-Hauses. Hier ist der historische Durchgang vom früheren Reichstagspräsidentenpalais zum Reichstagsgebäude wieder entstanden. Ein kleines Stück des Tunnels mit seiner Ziegelsteinröhre blieb erhalten und erinnert mit weiteren Hinweisen am Boden an den ursprünglichen Verbindungsverlauf. Ein paar Ecken weiter wird auch bei schönstem Wetter unter der Erde viel Betrieb herrschen: die unterirdische Anlieferung und Entsorgung. Wie in Washington am Capitol Hill seit langem bewährt, werden künftig auch im Parlamentsviertel die Liefer- und Müllfahrzeuge nicht mehr die Straßen blockieren, wird die Dorotheenstraße für den Verkehr wieder geöffnet werden können.

Wo so viele Menschen arbeiten, ist auch ungeheuer viel Material zu bewegen. Auf 70 Tonnen wird die Menge für die Parlamentsbauten geschätzt. Und das bedeutet, dass pro Tag gut und gerne hundert Lkw ranmüssen. Deshalb erinnern die Warenanlieferungen mit ihren Rampen und den angeschlossenen Lastenaufzügen auch eher an eine Spedition.

Das Paul-Löbe-Haus schmiegt sich an die Spree an.
Das Paul-Löbe-Haus schmiegt sich an die Spree an.

Der halbe Kilometer Anlieferung hat's in sich. Der sandige Untergrund rund um die Spree bot dafür alles andere als optimale Bau-Voraussetzungen – wie schon die Verzögerungen in den Baugruben der Parlamentsbauten gezeigt haben. Als Antwort versuchten die Bauingenieure erst gar nicht, die Spree zu unterhöhlen. Sie schwemmten das verbindende Röhrenstück so tief ins Flussbett ein, bis es darunter die richtige Lage hatte und an die übrigen Röhren angeschlossen werden konnte. Nun ist längst der letzte Tropfen Wasser heraus, die Nähte sind kaum noch zu erkennen. Nur riesige Tore erinnern stets daran, dass darüber kein Erdreich ist. Im Fall von Wassereinbruch werden die Schotten binnen einer Minute dicht gemacht, damit sich die dort arbeitenden Menschen in Sicherheit bringen können und die übrigen Kellerräume trocken bleiben.

Die Feuertaufe der neuen Anlieferung wird in der parlamentarischen Sommerpause des nächsten Jahres zu bestehen sein, wenn das Mobiliar, die Bücher und Ordner der Abgeordneten hier ankommen und nach einem ausgeklügelten Plan hoffentlich genau dort und dann landen, wo sie wann sein müssen. Fachleute wollen die Bauten bis zur offiziellen Übergabe und dem nahezu nahtlosen Übergang von Büro-alt zu Büro-neu "sauber eintakten". Der große Berlin-Umzug, Teil II. Der Countdown läuft längst.

Die Kellerräume sind mit Schotten gegen Wassereinbruch gesichert.
Die Kellerräume sind mit Schotten gegen Wassereinbruch gesichert.

Auch für das 100 mal 200 Meter große Gebäude auf der Nordseite des Reichstages, das Paul-Löbe-Haus. Denn das vom Münchner Architekten Stephan Braunfels entworfene Bauwerk aus viel Beton, Glas und grünen, offenen Innenhöfen soll zum selben Zeitpunkt fertig werden wie das Jakob-Kaiser-Haus und enthält Abgeordnetenbüros sowie Sitzungssäle. Während das Jakob-Kaiser-Haus neben den Abgeordnetenzimmern vor allem das Fraktionsmanagement aufnimmt, machen acht zurückgezogene gläserne Rotunden im Paul-Löbe-Haus deutlich, dass es hier vom nächsten Sommer an rund gehen wird. Hier ist der Kern des Arbeitsparlamentes, das sich in Sitzungen der Fachgremien die Details der Gesetze erarbeitet. Noch stehen Baugerüste für die Deckenkonstruktion in den künftigen Ausschusssälen. Doch die neue, kreisrunde Sitzordnung ist schon gut zu erkennen – und auch die künftig größere Transparenz des Arbeitsparlaments für die Öffentlichkeit: Etwas erhöht ist in den mehrgeschossigen Räumen Platz für Zuschauer und Fernsehkameras.

Künftiger Besprechungssaal im Jakob-Kaiser-Haus.
Künftiger Besprechungssaal im Jakob-Kaiser-Haus.

Praktischerweise sind die Ausschusssekretariate in unmittelbarer Nähe vorgesehen. Und den Ausschussvorsitzenden steht mit ihrem aufgabenbedingt größeren Stab auch eine größere Büroeinheit von 36 Quadratmetern zu. Um die berlinübliche Traufhöhe von 22 Metern nicht überschreiten zu müssen und trotzdem den Raumbedarf decken zu können, wurde die Nutzung insgesamt "tiefer gelegt" – kleiner Trick, große Wirkung. So kam eine ganze Büroetage hinzu. Dennoch stünde das gesamte Gebäude mit großer Wucht im Spreebogen, wären die Außenmaße beherrschend für das Erscheinungsbild. Doch diese sind beidseitig in einer doppelten Kammform regelmäßig zurückgenommen. Und außerdem erlaubt das Paul-Löbe-Haus den freien Blick durch sich selbst. Damit wird man vom Kanzleramt geradewegs bis zur Spree und dem Schlusspunkt des Ensembles, das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, blicken können. Das Band des Bundes – durchgezogen in Beton wie in Transparenz.

Das Innere des Paul-Löbe-Hauses.
Das Innere des Paul-Löbe-Hauses.

Wer dem Paul-Löbe-Haus derzeit aufs Haupt steigt, sollte schwindelfrei sein. Zumindest wenn er in Richtung Osten geht. Denn das den künftigen Brü-ckenschlag symbolisierende Vordach ragt schon etliche Meter weiter als das Gebäude darunter, ohne den Anschluss schon gefunden zu haben, da das Gebäude auf der anderen Spree-Seite erst im Bau ist. Hier entsteht der Spree-Sprung, hier macht die Bebauung einen Satz über den Fluss, dessen Verlauf die Geländefront aufgreift. Es ist nicht nur ein Sprung über ein paar Meter Wasser, es ist eine Brücke zwischen West- und Osthälfte der Stadt und damit auch ein Dokument der Einheit, ein Bauwerk, das die Teilung überwindet. Besucher werden den historischen Ort im östlichen Eingangsbereich des Paul-Löbe-Hauses auf beklemmende Weise wieder erkennen: Hier wird gerade ein Stück Mauer wieder aufgebaut, mit den Originalen vom ursprünglichen Ort. Sie zieht sich schräg durchs Foyer, so wie früher, als sie noch nicht überwunden war. Jetzt ist sie in der Ebene "Minus Eins" – auch ein Symbol.

Gerüstbretter in einem künftigen Ausschusssaal.
Gerüstbretter in einem künftigen Ausschusssaal.

Auf der anderen Spree-Seite, im knapp ein Jahr später fertig werdenden Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, finden innen Anhörungssaal, Bibliothek und Wissenschaftlicher Dienst Platz und entsteht außen das städtebauliche I-Tüpfelchen – eine Fläche an der Spree mit einladender Treppe. Eine Atmosphäre wie an und auf der Spanischen Treppe in Rom kann sich der Chef der Bundestagsbaukommission, Dietmar Kansy, auf dem künftigen "Spreeplatz" schon vorstellen.

Bis dahin wird noch eine hübsche Menge Wasser die Spree hinunterfließen. Und eine Menge dicker Löcher zu bohren sein – vor allem in Beton. Die Handwerker legen die Messlatte derzeit ziemlich hoch, acht Monate, bevor die Politiker mit ihrem Bohren an derselben Stelle beginnen werden. Gregor Mayntz

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0009/0009006
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