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07/2001
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Titelthema

Räte, Bündnisse, Kommissionen: Die Mitstreiter des Bundestages

Sie heißen Räte, Bündnisse, Kommissionen. Sie sollen diskutieren, beraten, Kompromisse finden. Sie beschäftigen sich mit herausragenden Problemen, deren Lösung für das ganze Land von größter Bedeutung ist. Und deshalb können sie in Konkurrenz geraten mit dem Parlament, das stellvertretend für das Volk die wichtigen nationalen Fragen diskutieren, beraten, entscheiden soll. "Zuwanderungskommission", "Bündnis für Arbeit", "Nationaler Ethikrat" – bedrohen sie die Funktionen des Deutschen Bundestages? Verkümmert das viel zitierte "Forum der Nation" zum bloßen Notar von Beschlüssen, die andernorts längst faktisch gefasst worden sind? Blickpunkt Bundestag befragte die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen und versucht, Antworten zu geben.

Plenarsaal im Bundestag.
Plenarsaal im Bundestag.

Damit die Frage von Gefährdung und Konkurrenz für den Bundestag fassbar wird, müssen wir uns zunächst vor Augen halten, welche Rollen dem Parlament in unserem Staat zugeschrieben werden. Vor allem fünf sind es: die Wahl-, die Meinungsbildungs-, die Lehr-, die Kontroll- und die Gesetzgebungsfunktion. Was heißt das? Der Bundestag wählt die politische Spitze des Landes (unter anderem den Bundeskanzler). Der Bundestag fördert den Prozess der Meinungs- und Willensbildung im Land. Der Bundestag will auch Vorbild sein in der Lösung von Problemen, im Umgang mit Konflikten, in der Beachtung gesellschaftlicher Entwicklungen. Der Bundestag kontrolliert die Regierung. Und last but not least macht der Bundestag die Gesetze, nach denen sich Bürger und Verwaltung zu richten und an denen die Gerichte das Verhalten von Bevölkerung und Bürokratie beurteilen.

Schon auf den ersten Blick wird erkennbar, dass in drei dieser fünf Funktionen der Bundestag nicht allein agiert. Vor allem bei der Meinungs- und Willensbildung, bei den wie auch immer gearteten Vorbildern und bei der Kontrolle hat er starke Mitkämpfer. Medien, Verbände, Bürgerinitiativen, prägnante Persönlichkeiten, im Grunde jeder Einzelne – und zum Beispiel auch die Parteien, deren "Mitwirkung" sogar in der Verfassung festgeschrieben ist.

"Der 'runde Tisch' steht im Bundestag" Friedrich Merz, CDU/CSU.
"Der 'runde Tisch' steht im Bundestag"
Friedrich Merz, CDU/CSU.

Die Wahlfunktion im eigentlichen Sinne kann dem Bundestag zwar niemand abnehmen. Aber in dieser ureigenen Kreationsfähigkeit von Macht ist er letztlich nur Ausübender: Der Wähler gibt vor, was geht und was nicht geht. Zwar können sich Mehrheiten innerhalb des Spektrums der im Parlament vertretenen Parteien frei ergeben, wie es sich jetzt zum Beispiel im Berliner Abgeordnetenhaus wieder gezeigt hat. Aber ohne das Wählervotum ist alles nichts.

Bleibt als privilegierter Sonderbereich die Gesetzgebung. Nur der Bundestag, niemand anderes, kann in diesem Staat Gesetze verabschieden. Denn niemand anderes ist durch die verbindliche Wahl in seiner Zusammensetzung so repräsentativ für den Volkswillen wie das Parlament.

"Mehr auf grundsätzliche Debatten beschränken" Peter Struck, SPD.
"Mehr auf grundsätzliche Debatten beschränken"
Peter Struck, SPD.

Aber in der Praxis gibt es auch hier wieder eine Fülle hilfreicher Hände im Hintergrund. Schauen wir uns beispielsweise die Anlässe für das Entstehen von Gesetzen an. Da gibt es zum einen ein Regierungsprogramm, das sich die Parteien, die die Regierung stellen, für die Wahlperiode vorgenommen haben. Wichtige Elemente der neuen Gesetze stehen dann bereits in den Partei- und Wahlprogrammen, sind in fachlich spezialisierten Partei-Arbeitsgruppen beschlossen und in Koalitionsrunden ausgehandelt worden, und die versierten Fachleute der Bundesregierung in den einzelnen Ministerien geben dem Entwurf dann den professionellen Schliff, bevor das Gesetzeskonzept den Bundestag erreicht.

Oder ein neues Gesetz muss her, weil – wie beim Familienlastenausgleich – das Verfassungsgericht die Entwicklung der Rechtslage nicht mehr im Einklang mit dem Grundgesetz sieht. Dann sind in den zumeist von der Regierung erarbeiteten Vorschlägen bereits eine Reihe von Vorgaben enthalten, die die Richter zur Bedingung gemacht haben.

Viele sind am Willensbildungsprozess beteiligt.

Oder aber ein geltendes Gesetz macht in der Anwendung so viele Probleme, dass es geändert werden sollte, damit Probleme besser gelöst und Aufgaben einfacher erfüllt werden können. Dies ist häufig in der Steuergesetzgebung der Fall. Dann aber ist es nur zu leicht verständlich, dass die Beamten in den Ministerien vorab mit den beteiligten Verbänden und Interessengruppen geklärt haben, welches die beste Regelung wäre. Und weil im Zusammenwirken von Bund und Ländern auch der Bundesrat ein gewichtiges Wort mitzureden hat, ist es sinnvoll, auch die Länderkammer frühzeitig in den Gesetzgebungsprozess einzubauen, um deren Haltung gegebenenfalls mit berücksichtigen zu können.

Das zeigt zum einen, dass der Bundestag selbst in seiner ureigensten Domäne nicht allein ist. Aber es bleibt zum anderen die Erkenntnis, dass die letzte Verantwortung niemand dem Parlament abnehmen kann.

"Parlamentarismus als Person verkörpern" Rezzo Schlauch, B'90/Die Grünen.
"Parlamentarismus als Person verkörpern"
Rezzo Schlauch, B'90/Die Grünen.

Vor diesem Hintergrund wird die Frage entscheidend, welche Verbindlichkeit die Meinungsbildungsprozesse in den Räten, Kommissionen und Bündnissen haben. Reihen sie sich nur ein in die Vielzahl kompetenter Experten, deren Rat und Empfehlung das Parlament gerne in seine Beratungen miteinbezieht? Oder beanspruchen sie, möglicherweise bestrahlt vom Licht der Richtlinienkompetenz des Kanzlers, eine Sonderstellung, die die eigentliche Verantwortlichkeit des Parlamentes verwischt? Kann man die aktuelle Diskussion um die "Räterepublik" also abhaken unter dem ganz gewöhnlichen Beratungsinstrumentarium, das auf Regierungsgeheiß um einige Facetten bereichert wurde? Oder soll sich hier ein vom Bundestag nicht autorisiertes Gremium an die Stelle des einzig legitimierten Parlamentes setzen?

Bundesrat: Abstimmung über die Rentenreform.
Bundesrat: Abstimmung über die Rentenreform.

Da formal die Verantwortlichkeit des Bundestages in keiner Weise berührt ist, kommt es darauf an, wie die Rolle der Räte, Kommissionen und Bündnisse faktisch empfunden wird. Dies aber ist eine politische Frage, die natürlich unterschiedlich beantwortet wird.

Peter Struck, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, sieht die politische Willensbildung innerhalb und außerhalb des Bundestages "im richtigen Verhältnis". Schon immer habe das Parlament die außerparlamentarische Diskussion aufgegriffen und dann entschieden. In dieser Frage habe sich auch keine Entwicklung vollzogen. Struck empfiehlt, dass der Bundestag sich mehr auf grundsätzliche Debatten beschränken und frühzeitig wichtige Fragen aufgreifen sollte. Verschiedentlich habe auch die SPD-Fraktion bereits derartige Grundsatzdebatten initiiert.

Bündnis für Arbeit: Bundeskanzler Gerhard Schröder mit dem damaligen BDI-Präsidenten Hans-Olaf Henkel (links) und DGB-Chef Dieter Schulte (rechts).
Bündnis für Arbeit: Bundeskanzler Gerhard Schröder mit dem damaligen BDI-Präsidenten Hans-Olaf Henkel (links) und DGB-Chef Dieter Schulte (rechts).

Wie man als Parlament mit dem Regierungsbedürfnis nach einem "Nationalen Ethikrat" umgehen sollte, hat an diesem Beispiel die Vorsitzende der parallel (und länger) arbeitenden Enquete-Kommission des Bundestages zur medizinischen Ethik, die SPD-Abgeordnete Margot von Renesse, aufgezeigt: In der nächsten Wahlperiode solle der Bundestag von seiner Kompetenz Gebrauch machen und selbst entscheiden, wen das Gremium beraten und wer darin sitzen sollte. Die Juristin von Renesse macht damit klar, was Verfassungsrechtler meinen, wenn sie dem Bundestag die "Kompetenzkompetenz" zuschreiben: Er kann, wenn er will, klar sagen, was wo für wen geschieht.

Völlig anders stellt sich die Sachlage aus Sicht der Opposition dar. Und das ist auch ein Ausdruck der gelebten Verfassung: Nicht Bundestag und Bundesregierung stehen sich argwöhnisch gegenüber, wie es zwischen Parlament und Exekutive noch zu Zeiten des Feudalstaates mit starkem König und schwachen Abgeordneten war. Heute geht die Regierung aus der Mitte des Parlamentes hervor, wird von der Mehrheit der Abgeordneten gewählt – und ist für den Rest der Wahlperiode von der Unterstützung dieser Mehrheit genauso abhängig, wie diese Mehrheit die Erfolge der Regierung braucht, um nach den Wahlen weiter Mehrheit bleiben zu können. Die Opposition hingegen muss darauf achten, dass die Rechte des Parlamentes nicht verschwimmen, dass die Möglichkeiten ihres eigenen Wirkens nicht beschnitten werden.

"Mehr Entscheidungen in die Hände der Bürger" Wolfgang Gerhardt, FDP.
"Mehr Entscheidungen in die Hände der Bürger"
Wolfgang Gerhardt, FDP.

Deshalb pocht CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz darauf: "Der von vielen erwünschte und von einigen hochgelobte so genannte ,runde Tisch' steht nicht in außerparlamentarischen Gremien oder in nationalen Räten, sondern im Deutschen Bundestag." Seitdem Gerhard Schröder Deutschland regiere, würden immer häufiger so genannte "Bündnisse" oder "runde Tische" außerhalb des Parlamentes eingerichtet. Zudem werde versucht, wichtige Fragen in vor- und außerparlamentarischen Gremiensitzungen zu präjudizieren. Merz: "Allen diesen Bestrebungen, die zur Schwächung des Parlamentes und in letzter Konsequenz zur Entparlamentarisierung führen, muss entschieden entgegengetreten werden." Die Abgeordneten könnten nur dann verantwortlich handeln, wenn ihnen auch Verantwortung gegeben und zugetraut werde.

In diesem Zusammenhang, so Merz weiter, müsse man Acht geben, dass die inflationär gestiegene Anzahl von Talk-Shows bei der Bevölkerung nicht eine höhere Bedeutung erhalte als die Übertragung von Debatten im Parlament. "Wenn die zum Teil anspruchsvollen und guten Debatten und Redebeiträge in Zukunft nahezu außerhalb der deutschen Öffentlichkeit stattfinden, dürfen wir uns nicht wundern, wenn eines Tages die Stimmen derer immer lauter werden, die die Notwendigkeit des Parlamentes grundsätzlich in Abrede stellen", gibt Merz zu bedenken. Dies bedeute im Umkehrschluss freilich auch, dass die Abgeordneten ihre Präsenzzeiten im Parlament stark erhöhen müssten. Die CDU/CSU-Fraktion setze sich dafür ein, dass das Parlament der Ort bleibe, an dem die Weichen gestellt und die entscheidenden Fragen des Gemeinwesens entschieden würden.

Plenarsaal im Bundestag.
Plenarsaal im Bundestag.

"Demokratie lebt von der Beteiligung der Bürger an den Entscheidungen für unsere Gesellschaft", stellt FDP-Fraktionsvorsitzender Wolfgang Gerhardt fest. Nach seiner Einschätzung könnten durchaus noch mehr Entscheidungen in die Hände der Bürger gelegt werden – "nicht jedoch durch Kommissionen und Räte, sondern beispielsweise durch Volksbegehren und Direktwahlen". Mehr und mehr Entscheidungen würden seit einiger Zeit an "runden Tischen" gefällt, statt durch die vom Volk gewählten Parlamentarier. Dadurch werde aber eine wirkliche Modernisierungspolitik verspielt. Gerhardt erinnert sich, dass es früher, wie zum Beispiel beim Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches, zu leidenschaftlichen Debatten im Parlament gekommen sei. Heute komme es hingegen viel zu oft vor, dass außerhalb des Parlamentes gestritten werde, innerhalb des Parlamentes lediglich Entscheidungen verkündet würden.

Rezzo Schlauch, Vorsitzender der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, ist froh über den starken Willensbildungsprozess in der Gesellschaft. "Die Parlamente sind auf eine lebhafte gesellschaftliche Diskussion und eine bunte Medienlandschaft angewiesen", stellt er fest. Deshalb seien Parlamente und Regierung gut beraten, in schwierigen Fragen externen Sachverstand einzubeziehen. Die Entscheidung selbst könne dem Parlament aber niemand abnehmen. Präsenz und Aufmerksamkeit der Medien seien seit dem Umzug nach Berlin deutlich angestiegen. Auch habe die Komplexität der zu lösenden Probleme zugenommen. Schlauch nennt vor allem Gentechnik und Globalisierung als zwei markante Beispiele dafür.

Erste Sitzung des von Bundeskanzler Gerhard Schröder berufenen Nationalen Ethikrates.
Erste Sitzung des von Bundeskanzler Gerhard Schröder berufenen Nationalen Ethikrates.

Die Steuerungsfähigkeit des Parlamentes ist nach den Erfahrungen Schlauchs früher größer gewesen. "Viele Kompetenzen liegen heute in Europa, andere können schon wegen der Globalisierung nicht mehr national wahrgenommen werden." Auch das Lagerdenken, so Schlauch weiter, sei früher ausgeprägter gewesen. Notwendig sei heute eine größere Öffnung der Parteien und des Parlamentes in die Gesellschaft. Politik müsse offen sein für das Engagement der Bürgerinnen und Bürger, für Quereinsteiger und Beratung von außen. Zudem: "Die Ausstattung des Parlamentes muss mit den wachsenden Anforderungen Schritt halten." Der Grünen-Fraktionschef nimmt sich vor, "Parlamentarismus als Person zu verkörpern". Schließlich sei der Parlamentarismus nur so stark, wie die Qualität der Konzepte und Lösungen, die aus seiner Mitte entspringen.

"Willkürlich ausgewählter Kreis von Beratern" Roland Claus, PDS.
"Willkürlich ausgewählter Kreis von Beratern"
Roland Claus, PDS.

Mit einem klaren Nein beantwortet PDS-Fraktionschef Roland Claus die Frage, ob die Willensbildung innerhalb und außerhalb des Parlamentes in einem richtigen Verhältnis stehe. "Die korporatistischen Elemente der Entscheidungsfindung im vorparlamentarischen Raum sind zu stark geworden", lautet seine Einschätzung. Es gehe nicht um eine Abschaffung der vorparlamentarischen Beratungen. Die Frage sei aber, wer diese führe und mit wem. Beim jetzigen Verfahren treffe sich der Bundeskanzler mit einem willkürlich ausgewählten Kreis von Beratungs- und Entscheidungspartnern und glaube dann, dem Parlament eine schon über Parteien-, Gewerkschafts- und Interessenverbandsgrenzen hinweg erreichte Willensbildung präsentieren zu können. Claus: "Übersehen wird dabei nur allzu leicht, dass bei diesem Verfahren etliche andere, zufällig oder ganz bewusst nicht ausgewählte außerparlamentarische Partner draußen bleiben."

Gregor Mayntz

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2001/bp0107/0107004b
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