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10/2001
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Titelthema

Die Vertrauensfrage und die Mehrheit

Die Vertrauensfrage: Im Privatleben kann sie Partnerschaften weiterbringen oder auch nur eine beiläufige Floskel sein. In der Politik ist sie alles andere als eine Nebensächlichkeit. Sie ist das entscheidende Instrument für den Kanzler, sich der Regierungsmehrheit zu versichern, und im Falle des Scheiterns der Weg zu vorgezogenen Neuwahlen. Ein Mittel von dramatischer Brisanz also, und deshalb haben in der Geschichte der Bundesrepublik erst vier Bundeskanzler vom Artikel 68 des Grundgesetzes Gebrauch gemacht: 1972 Willy Brandt, 1982 Helmut Schmidt, 1982 Helmut Kohl und jetzt auch Gerhard Schröder. Wie läuft das Verfahren im Einzelnen? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein. Was können die Folgen sein?

Nach der Abstimmung im Plenarsaal

Die Formulierungen können verschieden sein. Helmut Schmidt schrieb am 3. Februar 1982: "Gemäß Artikel 68 stelle ich den Antrag, mir das Vertrauen auszusprechen." Helmut Kohl schrieb am 13. Dezember 1982: "Sehr geehrter Herr Präsident, hiermit teile ich Ihnen mit, daß ich den Antrag gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes stelle." Die Vertrauensfrage von Gerhard Schröder am 13. November war länger, weil erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Vertrauensfrage mit einem Sachantrag verbunden wurde: "Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! In Verbindung mit der Abstimmung zum Antrag der Bundesregierung ,Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf der Grundlage des Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Art. 5 des Nordatlantikvertrags sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen' stelle ich den Antrag nach Art. 68 Abs. 1 des Grundgesetzes."

Vor der Sitzung: 8.00 Uhr

Vor der Sitzung: 8.00 Uhr

Der Antrag auf die Vertrauensfrage
Vor der Sitzung: 8.00 Uhr
Vor der Sitzung: 8.00 Uhr

Weil das Grundgesetz eine Frist von 48 Stunden zwischen Antrag und Abstimmung vorschreibt, wird der Brief des Kanzlers nach seinem Eingang im Präsidialbüro des Bundestages sofort auf den Weg durchs Haus gegeben. Das Parlamentssekretariat bringt den Brief aus dem Kanzleramt in die Form eines ordentlich registrierten parlamentarischen Vorgangs, der noch am selben Tag in den Fächern aller Abgeordneten liegt, womit die 48-Stunden-Frist beginnt.

Die Vertrauensfrage wurde zur Bundestagsdrucksache 4/7440. Die 14 steht für die 14. Wahlperiode des Bundestages, und die 7.440 ergab sich aus der fortlaufenden Zählung der Drucksachen. Die Vertrauensfrage des Kanzlers war der 7.440. Vorgang. Seit Beginn dieser Wahlperiode waren bis Mittwoch, 13. November 2001, 17.28 Uhr, 7.439 andere Anträge, Gesetzentwürfe, Berichte, Anfragen, Antworten und andere Vorlagen gedruckt und an die Mitglieder des Bundestages, des Bundesrates und an die Bundesministerien verteilt worden.

Die Fachausschüsse durchleuchteten unter Federführung des Auswärtigen Ausschusses die Bereitstellung von Bundeswehrsoldaten für den Kampf gegen den Terrorismus – die Sachfrage, mit der der Kanzler seine Vertrauensfrage verknüpft hatte. Sie befürworteten diese Sachfrage mit großer Mehrheit, auch der Opposition. Währenddessen bereitete die Verwaltung die Abstimmung für die Mittagszeit am Freitag, 16. November, vor. Denn die Vertrauensfrage wurde dieses Mal nicht mit einfachem Handzeichen entschieden, sondern in namentlicher Abstimmung.

Sitzungsbeginn: 9.00 Uhr

Sitzungsbeginn: 9.00 Uhr

Sitzungsbeginn: 9.00 Uhr
Sitzungsbeginn: 9.00 Uhr

Damit das genauso schnell wie verlässlich abgewickelt werden konnte, lagen für jeden Abgeordneten vor Beginn der Abstimmung drei Plastikkarten in ansonsten verschlossenen Regalen am Eingang des Plenarsaales bereit: jeweils eine blaue für "Ja", eine rote für "Nein" und eine weiße für "Enthaltung". Dazu kam noch ein kleiner gelber Zettel: der Stimmausweis mit dem Namen des Abgeordneten. Jeder Parlamentarier trat dann nach Abschluss der Aussprache an eine der drei Urnen, überreichte einem der Bundestagsschriftführer, die selbst Abgeordnete sind, seinen Stimmausweis und warf daraufhin seine "Ja"-, "Nein"- oder "Enthaltung"-Karte in den Kasten. Aus alter Tradition stehen Parlamentarische Geschäftsführer, also die Manager des politischen Geschäftes aus den einzelnen Fraktionen, während der Abstimmung in der Nähe und halten ihre eigene rote, blaue oder weiße Karte hoch – je nachdem, worauf sich die jeweilige Fraktion verständigt hat. Eine letzte Erinnerung für den einzelnen Abgeordneten, bevor seine Stimme zählt.

Wenn Schulklassen ihren Klassensprecher wählen, kann die Auszählung der Zettel mit den Namen der Mitschüler schon einmal etliche Minuten dauern. Selbst wenn die Klasse nur 20 oder 30 Schüler zählt. Bei namentlichen Abstimmungen des Bundestages geht es nicht um 20 oder 30, sondern um weitaus mehr Stimmen. In diesem Fall nahmen 662 der 666 Mitglieder des Bundestages teil. Trotzdem dauert die Auszählung nicht Stunden, sondern ist immer sehr zügig erledigt. Die Saaldiener bringen die Urnen in einen Raum unmittelbar neben dem Plenarsaal. Dort wird deren Inhalt auf einen großen Tisch gekippt, und sogleich beginnen die Schriftführer damit, blaue, rote und weiße Karten zu trennen. Schnell sind aus den handlichen Karten kleine Stapel gebaut, die sich, zu Blöcken zusammengestellt, schnell durchzählen lassen. Binnen Minuten wissen die Schriftführer daher, wie die Abstimmung gelaufen ist.

Diesmal zählten sie noch vor der Bekanntgabe mehrfach nach, damit nicht bei späteren Überprüfungen das erwartet knappe Ergebnis hätte korrigiert werden müssen. Die Summe der Stimmen der 662 teilnehmenden Abgeordneten, der 336 Ja- und 326 Nein-Voten, schrieben die Schriftführer auf ein vorbereitetes Formblatt ("Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung ...") und brachten es umgehend zum Präsidenten. Um 12.45 Uhr (und damit elf Minuten nach dem Ende der Abstimmung) erfuhren auf diese Weise die Volksvertreter und das per Livebericht im Fernsehen zugeschaltete Volk gleichzeitig, dass der Bundeskanzler weiter das Vertrauen der Bundestagsmehrheit hat und gleichzeitig die Bereitstellung von 3.900 Bundeswehrsoldaten für den Anti-Terror-Einsatz beschlossen wurde.

Doch das war nur der erste Teil der Auszählung. Wesen der namentlichen Abstimmung ist es ja gerade, von jedem einzelnen Abgeordneten zu wissen, wie er sich in dieser Frage verhalten hat. Deshalb tragen alle Stimmkarten neben dem Namen des Abgeordneten einen maschinenlesbaren Balkencode.

Abstimmung mit Stimmkarten
Abstimmung mit Stimmkarten
Abstimmung mit Stimmkarten

So wie im Geschäft die Preise der Einkäufe an der Kasse blitzschnell per Scanner über die Strichkombinationen erfasst werden können, "liest" ein Auszählgerät auch das Votum der einzelnen Abgeordneten aus den Informationen am Rand der blauen, roten und weißen Stimmkarten ab. Deshalb sind schon etwa eine halbe Stunde später im Computer die Listen mit den Namen der zustimmenden, ablehnenden und sich enthaltenden Abgeordneten abrufbar, gehen an den Präsidenten, an verschiedene Referate der Bundestagsverwaltung und nicht zuletzt an die Fraktionen, die wie die Presse ein besonders großes Interesse an den Details des Stimmverhaltens haben.Die Vertrauensfrage ist entscheidend für das weitere Schicksal des Kanzlers und seiner Regierung. Das geht schon aus dem Wortlaut des Artikels 68 hervor: "Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt." Das bedeutet, dass nicht die Mehrheit der gerade anwesenden Abgeordneten entscheidet, wie bei den meisten anderen Beschlüssen des Bundestages, sondern die Mehrheit der Mitglieder. Das ist die "Kanzlermehrheit".

Abstimmung: 12.25 Uhr

Abstimmung: 12.25 Uhr

Abstimmung: 12.25 Uhr
Abstimmung: 12.25 Uhr
Abstimmung: 12.25 Uhr

Am Tag der Vertrauensfrage umfasste der Bundestag 666 Mitglieder. Somit betrug die "Kanzlermehrheit" eine Stimme mehr als die Hälfte, also 333 plus 1 = 334. Möglicherweise irritiert den einen oder anderen politisch Interessierten, dass sich diese Zahlen seit den Wahlen zum 14. Bundestag am 27. September 1998 schon mehrfach geändert haben. Denn das Parlament zählte bei der konstituierenden Sitzung vor drei Jahren noch 669 Mitglieder. Der "Schrumpfungsprozess" hängt damit zusammen, dass die SPD 13 so genannte "Überhangmandate" erwarb. Das heißt, in dem jeweiligen Bundesland waren mehr Abgeordnete dieser Partei in ihren Wahlkreisen direkt gewählt worden, als der Partei nach ihrem Anteil am Zweitstimmenergebnis eigentlich an Sitzen zustand.

Wenn einer von diesen Abgeordneten aus dem Bundestag ausscheidet, so rückt für ihn niemand nach. Deshalb hatte sich in den ersten drei Jahren dieser Legislaturperiode die Mehrheit der Koalition verringert – von der ursprünglichen "Kanzlermehrheit" von zehn auf zunächst sieben Stimmen oberhalb der "Kanzlermehrheit" von 334. Drei SPD-Abgeordnete waren in der Zwischenzeit ausgeschieden, ein weiterer von der SPD- zur PDS-Fraktion gewechselt.

Deshalb entfaltete die Zahl von acht Abgeordneten der Koalition, die den Einsatz der Bundeswehr am Ende von langen Diskussionen noch ablehnen wollten, am Wochenende vor der Abstimmung eine besondere Wirkung: Acht waren einer zu viel, um die historische Entscheidung dieses Bundeswehreinsatzes mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen beschließen zu können. Gerade an diesem Punkt wollte der Bundeskanzler aber "die politische Bedeutung klar machen" – und verband ihn mit der Vertrauensfrage, "weil das wichtig ist für die Stabilität, auch für das Ansehen und für die Arbeitsmöglichkeiten einer Koalition, die gut gearbeitet hat und die nach meinem Urteil auch weiterhin gut arbeiten wird".

Sitzungsende: 12.48 Uhr

Sitzungsende: 12.48 Uhr

Sitzungsende: 12.48 Uhr
Sitzungsende: 12.48 Uhr

Erstmals verknüpfte ein Bundeskanzler auf diese Weise den Antrag, das Vertrauen auszusprechen, mit einem Sachantrag. Für den Sachantrag hätte die einfache Mehrheit gereicht, bei 662 an der Abstimmung teilnehmenden Parlamentariern wäre also der Bundeswehreinsatz bereits mit 332 Ja-Stimmen beschlossen gewesen, die "Kanzlermehrheit" aber verfehlt worden. Dann hätte der Bundeskanzler zunächst Zeit für die Überlegung gehabt, ob er trotzdem weiter regiert, ob er die Vertrauensfrage erneut stellt, ob er sich von seinem Koalitionspartner trennt und mit einer Minderheitsregierung weitermacht, ob er sich die Unterstützung einer anderen Fraktion sucht und mit ihr eine neue Regierung bildet – oder ob er die Möglichkeiten der Verfassung ganz ausschöpft und dem Bundespräsidenten vorschlägt, den Bundestag aufzulösen. Sowohl 1972 (Willy Brandt) als auch 1982 (Helmut Kohl) hat ein Bundeskanzler diesen Weg beschritten, um angesichts großer, das ganze Volk bewegender, Fragen ein neues Votum der Wähler einzuholen.

Die Bundespräsidenten hatten dann jeweils knapp drei Wochen Zeit zu prüfen, ob die Stabilität einer parlamentarischen Regierung wirklich auf keine andere Weise durch den Bundestag gesichert werden konnte – und schlossen sich dem Vorschlag des Bundeskanzlers an, lösten den Bundestag auf und damit vorgezogene Neuwahlen aus. Bei Helmut Schmidt und nun bei Gerhard Schröder brauchte der Präsident nicht einzugreifen: Der Bundestag bestätigte ja die Regierungsmehrheit aus eigener Kraft. Insofern trägt selbst die Vorschrift über die Auflösung des Bundestages dem grundsätzlichen Anspruch des Grundgesetzes Rechnung, die Lehren aus der instabilen Weimarer Republik zu ziehen und auch in schwierigen Krisenzeiten stabile Haltepunkte zu geben.

Text: Gregor Mayntz, Fotos: Kohlmeier



Der Entschließungsantrag

Der Bundeskanzler hatte die Vertrauensfrage mit dem Antrag der Bundesregierung verknüpft, deutsche Streitkräfte zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus einzusetzen. Dazu wurde auch ein Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen mehrheitlich angenommen.

In Entschließungen wird die Auffassung des Deutschen Bundestages zu politischen Fragen zum Ausdruck gebracht und/oder die Bundesregierung zu einem bestimmten Verhalten aufgefordert. Entschließungen sind rechtlich nicht verbindlich, sondern allenfalls von politischer Relevanz.

Ein Entschließungsantrag kann nicht selbstständig beim Bundestag eingebracht werden, sondern muss sich auf eine vorliegende Initiative wie etwa einen Gesetzentwurf beziehen. Entschließungsanträge können einem Ausschuss in der Regel nur überwiesen werden, wenn die Antragsteller nicht widersprechen. Über sie kann der Bundestag erst abstimmen, wenn über die zu Grunde liegende Vorlage durch Schlussabstimmung entschieden ist.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2001/bp0110/0110004a
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