Titelthema
Der Bundestag und die Jugend
Appetit auf Politik machen
Wenn am 22. September der nächste Bundestag gewählt wird, können wieder über drei Millionen Erstwähler mitbestimmen, wie es mit dem Staat, in dem sie leben, weitergehen soll. Aber nicht alle, die bisher erstmals wählen konnten, taten dies auch. Ein wachsender Anteil von Jugendlichen interessiert sich nicht mehr für Politik.
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Jugend und Parlament – 400 Jugendliche sammeln Erfahrungen.
Vielfältig sind die Anreize des Bundestages, die Jugend wieder mehr an die Politik heranzuführen. Inzwischen ist die Zahl der jungen Leute, die in Besuchergruppen Parlamentsluft schnuppern, auf über Hunderttausend im Jahr gestiegen. Und das ist längst nicht alles.
Nicht für alle jungen Leute ist Politik "cool". Nach Umfragen ging das politische Interesse der 15- bis 24-Jährigen von 57 Prozent im Jahr 1991 auf 47 Prozent im Jahr 1996 und 43 Prozent im Jahr 1999 zurück. Bei der Wahlbeteiligung sieht es zwar noch sehr viel besser aus – aber auch sie schrumpft: Von 75,5 im Jahr 1996 auf 64,1 Prozent im Jahr 1999, jeweils bezogen auf Antworten zur Frage, ob sich junge Leute an den letzten Europa-, Bundestags-, Landtags- oder Gemeinderatswahlen beteiligten. "Unter dieser ruhigen Oberfläche verbergen sich dramatische Veränderungen", heißt es zu diesem Befund in der jüngsten Shell-Jugendstudie.
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Zwei Schülerinnen, die an einer Ausstellung über die Arbeit im Krankenrevier des KZ Sachsenhausen mitgewirkt haben.
Grund genug für die Politik, sich Gedanken über diejenigen zu machen, die für die Zukunft des Volkes stehen. Fangen wir vorn an. Zum Beispiel bei der Kinderkommission des Bundestages. Bei jenem Gremium also, das seinen eigenen Stil innerhalb der parlamentarischen Einrichtungen pflegt und sich auch als Lobby für den jüngeren Nachwuchs versteht. Kommissionsvorsitzende Rosel Neuhäuser (PDS) hat eine ganz einfache Empfehlung auf Grund langer Erfahrungen: "Wir müssen schon die Kinder ernst nehmen. Das ist das Wichtigste." Und dafür müssten auch die Erwachsenen mal ein Stück zurückstehen.
Ein einfaches Beispiel hat Neuhäuser in Leipzig erlebt. Da gaben sich viele erwachsene Experten große Mühe mit einem ganz tollen Spielplatz, bestückt mit den allerschönsten, allermodernsten teuren Geräten – und ernteten doch Enttäuschung bei den Kindern, die sich einfach nur einen Wasserhahn, eine Pfütze zum Matschen mit Wasser, wünschten. Die Lehre: Kinder öfter mitmachen lassen. Aber Kinder sollen auch mitbekommen können, dass im Leben nicht immer alles reibungslos läuft. "Mit Tiefschlägen umgehen lernen", sagt Neuhäuser.
Einmal im Jahr kann das auch bei JuP passieren. JuP, das steht für "Jugend und Parlament". 400 Jugendliche aus allen Regionen Deutschlands kommen für drei Tage im und um das Reichstagsgebäude zusammen und machen handfeste Erfahrungen mit dem Parlamentarismus – und das nicht als Einbahnstraße für die Jugend. Auch die Politik hat etwas davon. So gibt es denn nicht nur das zufällige "Highlight" für Britta Siebert aus Wolfenbüttel, beim Blick hinter die Kulissen des Bundestages "mal zusammen mit Joschka Fischer im Fahrstuhl" zu stehen. Es gibt auch tiefe Eindrücke der Abgeordneten von den Ansichten der Jugend: "Ab und zu müssen die Abgeordneten die Fenster und Türen des Hohen Hauses öffnen und einfach mal durchlüften. Was wäre dazu besser geeignet als der frische Wind, den engagierte junge Menschen hier machen?" So die SPD-Abgeordnete Susanne Kastner, Berichterstatterin für "JuP" in der zuständigen Kommission des Ältestenrats.
Von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zu lebhaften Diskussionen – "aber bitte mit dem Florett des klaren Arguments statt mit der Mistgabel der Beleidigung" – aufgefordert, stießen die Jugendlichen beim jüngsten "JuP" auch an Grenzen. Zum Beispiel an zeitliche. Abarbeiten der Ideen aus 16 Fachausschüssen zu aktuellen Themen im Zwölf-Minuten-Takt. Aber dabei auch Erfahrungen sammeln mit der optimierten Parlamentspraxis. Mit Berichterstattern, Debatten, Zwischenfragen, Änderungsanträgen. Wie im "richtigen" Bundestagsbetrieb. Und zwar mit den "echten" Bundestagsvizepräsidenten als Sitzungsleiter. Jugend ernst nehmen, und zwar richtig.
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Bundesministerin Christine Bergmann (Mitte) mit Teilnehmern der Initiative "Ich mache Politik".
So machen es auch die einzelnen Fraktionen. In diesen Tagen steigt bei der SPD zum Beispiel der dritte "Jugendpressetag" unter dem Motto "Jugend ist Zukunft". Eine "spannende Veranstaltung", weiß die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Iris Gleicke. Rund 80 Schülerzeitungsredakteure aus ganz Deutschland heißt die Jugendpolitikerin gemeinsam mit Fraktionschef Peter Struck willkommen, reicht sie an Bundeskanzler Gerhard Schröder weiter, der ihnen für eine richtige Pressekonferenz zur Verfügung steht. Es folgt ein gemeinsames Abendessen mit SPD-Bundestagsabgeordneten und Parlamentsjournalisten in der urigen Berliner Kulturbrauerei. Und am nächsten Tag geht es weiter bei einem Arbeitsfrühstück mit Bundesminister Walter Riester. Schließlich steht auch noch ein Pressegespräch mit dem Bundestagspräsidenten auf dem Programm. "Eine rundum feine Sache", meint Gleicke. Auch für die Abgeordneten.
Auch die Unionsfraktion macht jedes Jahr (also wie die SPD nicht nur vor Wahlen) einen "Bundesjugendpressetag". Und auch hier steht die Prominenz jungen Medienvertretern aus Schulen der gesamten Republik gerne Rede und Antwort. Für Ursula Heinen nur einer aus einer ganzen Fülle interessanter Termine. Die Sprecherin der 13 Unionsabgeordneten, die sich zur "jungen Gruppe" zusammengefunden haben, weil sie alle bei Amtsantritt im Plenum jünger als 35 waren, bemühen sich in besonderer Weise um die Kontakte zwischen Jugend und Politik. Gerade kommt Heinen von einem Jugendcamp der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, weitere Besuche in Jugendzeltlagern stehen an. "Da sitzt man ganz locker zusammen und erfährt eine ganze Menge voneinander", sagt Heinen.
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Junge Leute bei der Berliner Solidaritätsdemonstration für die USA nach dem 11. September.
Viele Kontaktmöglichkeiten ergeben sich nach ihren Erfahrungen aus speziellen Jugendveranstaltungen der Parteien, und regelmäßige Chats im Internet werden auch immer beliebter. Wenn es im Parlament um Themen geht, bei denen Jugendliche betroffen sein könnten, holen sich die jungen Unionsabgeordneten zusätzliche argumentative Unterstützung, indem sie die Vertreter von Jugendorganisationen zu Anhörungen einladen. Nun steht ein weiteres Experiment an: Beim "Zukunftskongress" sollen junge Leute ihre Ideen zu wichtigen Themen wie "Arbeitsmarkt", "Werte" und "Bildung" erzählen – und was dabei herauskommt, will die junge Gruppe direkt in die Arbeit der Fraktion und der parlamentarischen Gremien einspeisen. Über Internet-Foren sollen die Jugendlichen mitverfolgen können, was aus ihren Vorstellungen wird.
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Jugendliches Engagement: bei einer Friedensdemonstration.
"Durch Themen faszinieren" möchte Grünen-Politikerin Ekin Deligöz. Umwelt etwa, oder Generationengerechtigkeit – Angelegenheiten, die die Jugend sofort als wichtig für sich selbst erkennt. Freilich hat Deligöz erfahren, dass sehr viele Jugendliche vor allem deshalb politikverdrossen zu sein scheinen, weil sie sehr wenig über die Abläufe in der Politik wissen. Kürzlich die Elftklässler beim Berlin-Besuch: Was macht ein Abgeordneter? Was hat der Bundestag mit dem Bundesrat zu tun? Wie entsteht eine Koalition? Was ist überhaupt eine Fraktion? Bei vielen herrschte "keine Ahnung". Die Schlussfolgerung für Deligöz: "Wir müssen viel früher anfangen, Demokratie erfahrbar zu machen." Schülermitsprache nicht nur als Organisation von Feten, sondern als schulintern wichtiges Mitreden. Bessere Beteiligung von Lehrlingen in Unternehmen, von Studenten in Universitäten, von Einwohnern bei der Stadtteilplanung.
Um so viele junge Menschen wie möglich an das Parlament heranzuführen, versucht Deligöz jedes Gymnasium in ihrem Wahlkreis zu .erreichen, über das von der Öffentlichkeitsarbeit des Bundestages bezuschusste Kontingent hinaus Schulklassen, auch auf ihre Rechnung, nach Berlin einzuladen. Ihr Wunsch: "Es müsste selbstverständlich werden, dass jeder im Laufe seiner Schullaufbahn einmal im Bundestag gewesen ist."
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Jugendliches Engagement: bei der Gräberpflege.
So tun manche Abgeordnete viel auf eigene Kappe, um Jugend und Parlament einander näher zu bringen, das politische Engagement der jungen Generation zu fördern. Klaus Haupt zum Beispiel, jugendpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, klappert regelmäßig die Jugendclubs und die Kindereinrichtungen seiner Heimatregion ab. Und dabei ist ihm die Idee gekommen, besonders herausragende Initiativen der jungen Leute zusätzlich zu unterstreichen. Er hat einen "Jugend-Oskar" gestiftet. Ein Wanderpreis, der jedes Jahr in seinem Hoyerswerdaer Wahlkreis neu vergeben wird. Vorletztes Jahr bekam ihn eine Schulklasse, die sich einen "Tag der Jugend" einfallen ließ. Einen Tag, an dem Kommunalpolitik einmal aus Sicht der Jüngeren und Jüngsten gemacht wird. Letztes Jahr war der "Marsch gegen Gewalt" oskarwürdig, ebenfalls von einer Schulklasse initiiert, die damit zehn Jahre nach den bundesweit mit Erschrecken wahrgenommenen ausländerfeindlichen Ausschreitungen in ihrer Stadt ein Zeichen setzen und viele Einwohner zum Mittun gewinnen konnte.
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Jugendliches Engagement: bei einer Initiative für Toleranz.
Aber solch ein Preis ist für Haupt nur ein Teil der Beachtung. Jugendgemäßer Kontakt gehört genauso dazu. Etwa über die Homepage. Das Internet werde auch von Abgeordneten zunehmend als großartige Gelegenheit entdeckt, mit den Jugendlichen direkt in Kontakt zu kommen, ihre Anregungen und Kritik aufzunehmen. Viele winzige Teile in vielen Bereichen sind für Haupt der richtige Weg: "Wer das Große will, muss das Kleine tun."
Gregor Mayntz