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Oktober 10/2002
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Hintergrund

Die neue Sitzordnung im Bundestag

Am Anfang steht das Stühlerücken

Stühlerücken – ein geflügeltes Wort nach jeder Wahl. Die eine Partei ist stärker geworden, die andere schwächer, der eine Abgeordnete ist neu in den Bundestag gekommen, der andere ausgeschieden. Aber "Stühlerücken" gilt nicht nur im übertragenen Sinne. Für den Plenarsaal ist das wörtlich zu nehmen. Dort sollen sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien natürlich auch in der Sitz-Architektur widerspiegeln. Eine Fraktion weniger, eine prozentual kleiner, drei größer geworden und das Parlament insgesamt verkleinert. Klar, dass die ersten Tage nach den Wahlen im Zeichen eifrigen Tüftelns standen – und an
den folgenden so einiges neu zu gestalten war. Stühlerücken eben.

Im Grunde dreht sich der ganze Wahlkampf um ihn: "Figura eins". Denn letztlich geht es jedem Kandidaten darum, einen Sitz im Deutschen Bundestag zu gewinnen. Und dieser Sitz heißt halt "Figura eins", ist von Vitra und in einer speziellen Farbe gehalten, die inzwischen "Bundestagsblau" heißt. "Figura eins" war im letzten Bundestag 669 Mal im Boden des Plenarsaales verankert, beweglich in einer federunterstützten Halterung fixiert. Zwischen den "Figura"-Sitzen der einzelnen Fraktionen blieben Lücken, so dass Gänge entstanden.

Für diese Zwischenräume gibt es drei Gründe, die sich sofort erschließen: Die Abgeordneten sollen nicht, wie im Kino, immer wieder in einer ganzen Reihe aufstehen müssen, wenn ein Kollege nachträglich ebenfalls noch einen Platz finden oder zu einem wichtigen Termin vorzeitig gehen muss. Immer wieder durchquetschen, das ist eine vermeidbare Störung. Auch die Sicherheitsvorschriften sprechen für das Freilassen von ausreichenden Zwischenräumen, damit die Politiker im Gefahrenfall schnell den Plenarsaal verlassen können. Und schließlich sollen die Schriftführer auf den ersten Blick das Abstimmungsverhalten erkennen können. Gerade wenn die Stimmenverhältnisse knapp sind, ist es sinnvoll, sofort feststellen zu können, welche Fraktion zustimmt, sich enthält, oder einen Antrag ablehnt.

Arbeiten im Bundestag.

Aber es gibt noch einen vierten Grund für eine von Wahl zu Wahl immer wieder neue Anordnung der Sitze: die Repräsentation. Nicht von ungefähr verhandelt der Bundestag öffentlich. Hier sitzen die Vertreter des Volkes, die vor den Augen der Öffentlichkeit ihre Haltung darlegen – und umso mehr Durchsetzungskraft haben, je stärker der Wähler sie gemacht hat. Das Wahlergebnis spiegelt sich also im Bundestag wider. Und deshalb soll es dort auch sichtbar sein. Seit der Frankfurter Paulskirche und erst recht seit der Konstituierung des ersten Bundestages 1949 hat sich eine Tradition herausgebildet, welche Gruppierungen sich vom Sitzungspräsidenten aus gesehen eher links niederlassen und welche eher rechts sitzen.

Die Grünen als neue Partei zogen in den 80er Jahren in die Mitte ein. Daraus ergaben sich nach der jüngsten Bundestagswahl schon erste Anhaltspunkte, auf deren Grundlage die Bundestagsverwaltung den Vertretern des Hauses einen ersten Vorschlag unterbreitete. Damit befasste sich der "Vor-Ältestenrat", also ein Gremium aus Bundestagspräsident und Parlamentarischen Geschäftsführern, das in der Phase zwischen dem 14. und dem 15. Bundestag die überparteiliche Verständigung organisiert. Für die Reihen drei bis zehn (die elfte fiel wegen der Verkleinerung des Parlamentes komplett weg) ging der erste Sitzverteilungsentwurf sofort durch, so dass die Arbeiter unmittelbar mit dem Aus-, Um- und Einbau der Sitze und der Neuinstallation der Pulte mitsamt Technik beginnen konnten.

Arbeiten im Bundestag.

Die ersten zwei Reihen bargen jedoch auch diesmal wieder politischen Zündstoff. Denn bei jedem Kamera-Schwenk in den Saal machen sie auf den ersten Blick klar, wie die Mehrheitsverhältnisse sind. Um eine erste Annäherung für die Platzierung zu finden, wird nach dem mathematischen Verfahren von Sainte-Lague/Schepers der Anteil der Parteien auf Grund ihrer Gesamtstärke an den Plätzen in der ersten Reihe berechnet. Das läuft genau so gerecht und anerkannt wie der "Zugriff" der Parteien auf den Vorsitz in Ausschüssen. Je größer die Gesamtfraktion, desto häufiger die Möglichkeit, einzelne Anteile zu erhalten. Vier Beispiele: Sind nur zwei Plätze in einem Gremium zu vergeben, bekommen SPD (251 Abgeordnete) und Union (248) nach diesem Verfahren je einen und B'90/Grüne (55) wie FDP (47) keinen. Bei drei Plätzen sind es zwei für die SPD und einer für die Union, erst ab einem fünfköpfigen Gremium mischen die Grünen erstmals auch mit. Und ab acht Plätzen entsendet auch die FDP einen Vertreter. So einfach, so gerecht.

Arbeiten im Bundestag.

Da in der ersten Reihe Platz für 17 Sitze ist, hätten nach dieser Berechnungsmethode theoretisch sieben Abgeordnete der SPD, sieben der Union, zwei der Grünen und einer der FDP Platz gefunden. Aber das hätte nicht funktioniert, da dann ja die Gänge zwischen den Fraktionen gefehlt hätten. 17 minus drei Gänge zwischen den Fraktionen macht 14. Und dafür errechnet die Formel sechs plus sechs plus eins plus eins. Traditionell sorgt aber der große Koalitionspartner dafür, dass der kleinere ebenfalls mit zwei Abgeordneten in der ersten Reihe vertreten ist, indem er ihm einen seiner Sitze abtritt. Das wiederum hätte diesmal dazu geführt, dass in der ersten Reihe weniger SPD- als Unionsabgeordnete gesessen hätten.

Arbeiten im Bundestag.

Optisch also ein verwirrender Eindruck: Die größere Oppositionspartei (also die Minderheit) größer als die größere Regierungspartei (Mehrheit)? Das sollte auch nicht sein. Der Kompromiss am Ende des Ringens: Zwischen Regierung und Opposition wurde der breitere, zwei Sitze umfassende Gang von hinten bis in die erste Reihe durchgezogen, wodurch die Trennung klarer wurde, nur noch 13 Sitze zu vergeben waren, somit die Union auf fünf Sitze kam – und damit auf genauso viele wie die SPD nach Überlassen eines Sitzes an die Grünen.

Klingt kompliziert, erleichtert aber die optische Wahrnehmung des parlamentarischen Geschehens und ist somit letztlich ein Service für den Fernsehzuschauer. Und in der Wirklichkeit war es technisch überhaupt kein Problem: Spezialwerkzeug ansetzen, Sitz herausheben, Blende drüber, fertig. Erleichtert stellten die Haustechniker zudem fest, dass die neu entstandenen Gänge keine größeren Schwierigkeiten für die Versorgung der entlegenen Höhenbereiche im Plenarsaal bedeuteten: Es wurde keine neue Konstruktion benötigt, um die "Höhenbefahranlage" so in der Mitte des Plenarsaales in Stellung bringen zu können, dass Reparaturen und Austauscharbeiten hoch über den Sitzen möglich sind.

Zwei Wochen nach der Wahl hatte sich das Wahlergebnis in der Sitz-Landschaft niedergeschlagen, waren Gänge verschwunden und neue entstanden. Die durch die Parlamentsverkleinerung überflüssig gewordenen Sessel kamen zunächst vorübergehend in den Keller des Reichstagsgebäudes, wurden wegen des knappen Stauraumes jedoch einige Tage später in ein Spandauer Außenlager des Bundestages gebracht. Dort liegen sie dann bereit, um als Ersatz für ausrangierte Sitze zu dienen. Denn die "Belegungsdichte" der Sitze ist höchst unterschiedlich. Die vorne nutzen schneller ab, da sie auch in der parlamentarischen Alltagsroutine stets frequentiert werden, die ganz hinten sind meist nur bei besonders wichtigen Anlässen besetzt.

Arbeiten im Bundestag.

Für die Mitarbeiter des Referats Liegenschaften und Gebäudetechnik der Bundestagsverwaltung war das wörtliche Stühle-Rücken jedoch nur ein Teil eines noch viel umfangreicheren Stühlerückens. Weit über 200 Räume waren zwischen Fraktionen, Arbeits- und Landesgruppen neu zu vergeben. Neue Abschlüsse und Anschlüsse waren zu schaffen, Zwischenunterbringungen zu besorgen und die "modularen Fähigkeiten" der neuen Bundestagsbürobauten erstmals zu testen: Im Unterschied zu anderen Häusern sind die Bürogebäude von vorneherein so gebaut, dass sie sich mit relativ wenigen Handgriffen neuen Kräfteverhältnissen anpassen lassen. Wänderücken, Schränkerücken, Tischerücken wird damit ganz einfach.

Text: Gregor Mayntz
Fotos: studio kohlmeier

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2002/bp0208/0210014a
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