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März 2/2003
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Vor siebzig Jahren

Die Entmachtung des Reichstages - ein Schritt zur Gleichschaltung

Siebzig Jahre sind vergangen seit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, seit der Abschaffung der parlamentarischen Demokratie und der Errichtung einer Diktatur in Deutschland. Adolf Hitler hatte dabei leichtes Spiel, weil der Reichstag wie die Demokratie und die Republik insgesamt schon seit Jahren geschwächt und politisch zerrissen war und somit seiner völligen Entmachtung im Jahre 1933 nicht mehr viel entgegensetzen konnte. Mit der Beseitigung des Widerstands im Parlament ging die Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Gruppen einher.

Die Spuren der NS-Herrschaft und die Erinnerung an sie sind noch da. An vielen Stellen. Auch in Berlin. Die Topographie des Terrors. Das entstehende Denkmal für die ermordeten Juden. Und die lange Reihe von gusseisernen Tafeln, in die Erde eingelassen neben dem Reichstagsgebäude. 96 sind es. Und jede steht für ein Mitglied des Reichstags, das dem NS-Regime zum Opfer gefallen ist.

Eigentlich war die Serie der Wahlerfolge der Nationalsozialisten Anfang 1933 ins Stocken geraten. Von den Juli- zu den November-Wahlen des Jahres 1932 war der Anteil nationalsozialistischer Wählerstimmen von 37 auf 33 Prozent zurückgegangen. Und die am 30. Januar 1933 gebildete Koalition der „nationalen Konzentration“, die Hitler an die Spitze der Regierung brachte, verkörperte nicht die Mehrheit der Wähler: Mit den 33,1 Prozent der NSDAP und den 8,9 Prozent der sie unterstützenden rechtskonservativen Deutsch-Nationalen Volkspartei blieb das Bündnis im Reichstag in der Minderheit – wie übrigens vorher auch demokratische Regierungen der Weimarer Republik.

Aber auf Parlamentsmehrheiten kam es seit Jahren kaum mehr an. Ursprünglich von der Verfassung mit der entscheidenden Verantwortung für die Gesetzgebung betraut, hatte das Parlament schon in den zurückliegenden Jahren seine schleichende Entmachtung zugelassen. Die größte Macht in der Republik hatte der Reichspräsident inne: Er konnte den Reichstag jederzeit auflösen und Reichskanzler und Reichsminister ernennen. Und er konnte auch unabhängig vom Parlament Notverordnungen erlassen. Die konnte der Reichstag zwar mit Mehrheit wieder außer Kraft setzen. Doch selten fand sich dafür eine Mehrheit – auch angesichts der Gefahr, dass der Reichspräsident dann den Reichstag auflösen würde.

Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte lange mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler gezögert. Schließlich waren dessen rechtsextreme Ansichten bekannt. Doch die Berater des Präsidenten glaubten, Hitler durch die konservativen Minister an seiner Seite kontrollieren zu können. Erst als dem Präsidenten nahe stehende Interessengruppen wie Großagrarier, Großindustrie und Hochfinanz – die alten Eliten aus der Kaiserzeit – ihm ebenfalls zurieten, beauftragte er Hitler mit der Regierungsbildung und ernannte ihn am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler.

Wie die Berater des Präsidenten unterlagen auch die rechtskonservativen Bündnispartner Hitlers einer fatalen Fehleinschätzung: „Wir haben ihn uns engagiert“, sagte Vizekanzler Franz von Papen. Viele Rechtskonservative meinten, das Schicksal Hitlers sollte binnen zweier Monate besiegelt sein: Bis dahin hätten die konservativen Regierungsmitglieder ihren Kanzler derart „in die Ecke gedrückt, dass er quietscht“.

Selbst Minuten vor der Ernennung hätte der Koalitionspartner noch gewarnt sein können: Hitler schob nämlich die Forderung nach umgehender Auflösung des Parlaments und Neuwahlen des Reichstags nach. Die Zusammensetzung der Volksvertretung sah Hitler also als Hindernis für seine Herrschaftspläne an. Er setzte sich durch, konnte ab 2. Februar sieben Wochen lang ohne Reichstag und stattdessen mit – formell von Hindenburg erlassenen – Notverordnungen regieren und nutzte den Zugriff auf die Polizeigewalt zu einer brutalen Verfolgung seiner politischen Gegner.

Zu Beginn des Wahlkampfes stellte der preußische Innenminister Hermann Göring von der NSDAP eine zusätzliche Hilfspolizei mit Zehntausenden von SA- und SS-Männern auf, verlieh ihnen polizeiliche Befugnisse und forderte sie „zum fleißigen Gebrauch der Schusswaffe“ auf. Als am Abend des 27. Februar der Reichstag brannte, machten sich das die Nationalsozialisten zunutze. Sie beschuldigten die Kommunisten, sie hätten den Brand gelegt, um damit ein Signal zum Widerstand gegen die neue Regierung zu geben. Die von Hitler geführte Regierung erließ noch am nächsten Tag die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“, mit der praktisch alle Grundrechte außer Kraft gesetzt wurden. Abgeordnete und Funktionäre der KPD und der SPD wurden verhaftet, kommunistische und sozialdemokratische Presseorgane verboten.

Mitte März saßen allein in Preußen rund 10.000 Gegner des Nationalsozialismus im Gefängnis. Jeden Tag kamen neue Fälle einer beispiellosen Terrorisierung hinzu: Die Polizei sah zu, als der ehemalige Reichsminister Adam Stegerwald in einer Versammlung des Zentrums von SA-Trupps zusammengeschlagen wurde. Der SPD-Politiker und ehemalige preußische Innenminister Albert Grzesinski listete auf, wie viele Genossen bei verschiedenen Wahlveranstaltungen nur knapp dem Tod entronnen waren und bat, von weiteren Redeauftritten entbunden zu werden: „Es gibt offenbar keinen polizeilichen Schutz mehr, der ausreichen würde, dem aggressiven Vorgehen der SA und SS in meinen Versammlungen zu begegnen.“ Ein „Wahlkampf“, der mindestens 69 Tote und Hunderte Verletzte forderte – und dem Nationalsozialismus eine Zustimmung von 43,9 Prozent brachte – ein Ergebnis, das in der Weimarer Republik noch nie eine Partei geschafft hatte.

Nach der Wahl am 5. März vervielfachte sich der Terror. In einer Zangenbewegung brachten die Nationalsozialisten das Reich, die Länder und Städte unter Kontrolle – systematisch durch die „Eroberung“ der Straße und Verfügungen von oben. Die weitaus meisten gewählten kommunistischen Abgeordneten sowie mehrere ihrer sozialdemokratischen Kollegen wurden verhaftet, binnen weniger Wochen stieg die Zahl der Verschleppten auf mehrere Zehntausend. Folterungen standen auf der Tagesordnung.

Aber die Nationalsozialisten setzten nicht nur auf Gewalt, sondern auch auf die Verführung der Massen. Dieses Instrument wandten sie am Tag der Konstituierung des neuen Reichstages am 21. März an. Propagandaminister Joseph Goebbels inszenierte zu diesem Anlass in Potsdam die „Versöhnung des alten mit dem jungen Deutschland“.

Alle waren geladen: Parteigenossen und Bündnispartner, SA-Führer und Reichswehroffiziere, Männer der Wirtschaft und der Verwaltung, ehemals gekrönte Häupter und Generäle des kaiserlichen Deutschlands – nur nicht die Kommunisten und Sozialdemokraten. Auf den Stufen der Garnisonskirche kam es zu einer symbolträchtigen Begegnung zwischen Hitler und Reichspräsident von Hindenburg, zwischen dem „Gefreiten und dem General“.

Goebbels’ Inszenierung verfehlte in weiten Kreisen des In- und Auslandes ihre Wirkung nicht: Viele akzeptierten Hitler als legitimen Erben des „zweiten Reichs“, des 1918 zu Grunde gegangenen Kaiserreichs.

Zwei Tage später, als mit dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat“, dem Ermächtigungsgesetz, das Parlament vollends ausgeschaltet werden sollte, setzte Hitler nach der Verführung wieder die Drohung mit Gewalt ein. Denn immer noch waren viele Abgeordnete nicht bereit, das Todesurteil des deutschen Parlamentarismus zu unterschreiben.

Die Kroll-Oper gegenüber dem Reichstagsgebäude, in der die Abgeordneten wegen der starken Brandschäden im Innern des Reichstages tagten, war an diesem Tag von SA-Truppen umstellt. Und auch in der Sitzung herrschte Willkür. Abgeordnete konnten nach Belieben des Reichstagspräsidenten von der Teilnahme ausgeschlossen werden, ihre Anwesenheit wurde dennoch festgestellt, damit die für Verfassungsänderungen nötige Anwesenheit von zwei Dritteln der gewählten Mitglieder gegeben war. Und auch unentschuldigt fehlende Mitglieder wurden zu diesem Zweck als „anwesend“ mitgezählt.

Die 81 KPD-Abgeordneten waren zu der Sitzung erst gar nicht eingeladen worden, viele waren auf der Flucht, untergetaucht oder bereits tot. 15 SPD-Abgeordnete waren ebenfalls inhaftiert oder ermordet worden. Noch auf dem Weg zur Sitzung wurden einzelne Sozialdemokraten verhaftet. Um den psychischen Druck auf die übrigen Volksvertreter zu verstärken, bildeten SA-Leute ein Spalier, durch das die Politiker gehen mussten und brüllten sie an: „Wir fordern das Ermächtigungsgesetz – sonst gibt’s Zunder.“ Die Botschaft

Im Plenarsaal heizten die Nationalsozialisten mit Heil-Rufen die Stimmung auf. Gleichzeitig machte Hitler den Zögernden in den bürgerlichen Parteien Versprechungen, vor allem an die Adresse der katholischen Zentrumsfraktion. Er wolle Verfassungsrechte brieflich garantieren und ein Konkordat – eine völkerrechtliche Vereinbarung – mit der Katholischen Kirche schließen, lockte der neue Reichskanzler. Das brachte auch das gespaltene Zentrum dazu, dem Ermächtigungsgesetz zuzustimmen, dessen Artikel 1 mit dem Satz begann: „Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden.“ Nicht nur die rechten Gegner der Republik, sondern auch die bürgerlichen Parteien der Mitte beschafften Hitler die notwendige Mehrheit und nahmen dem Parlament seine Rechte. Nur die dezimierte SPD-Fraktion hatte geschlossen mit Nein gestimmt, die Zweidrittelmehrheit jedoch nicht verhindern können.

Nach der Selbstentmachtung des Reichstages hatten die Nationalsozialisten vollends freie Hand: Gewerkschaften und Parteien wurden aufgelöst. Im Juli 1933 beschloss die Regierung ein Gesetz, das nur noch die NSDAP, die sich selbst nicht als „Partei“, sondern als „Bewegung“ definierte, gelten ließ. Der weiter bestehende Reichstag hatte nichts mit einem Parlament in einer Demokratie gemein. Die in ihm nur noch vertretenen nationalsozialistischen Befehlsempfänger hatten nur eine Aufgabe: den Reden Hitlers Beifall zu spenden und dem nationalsozialistischen Terrorregime eine scheinlegale Grundlage zu beschaffen.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2003/bp0302/0302004a
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