In den 70er- und 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts bestimmten zwei ökonomische Schulen die Diskussion. Sie waren fokussiert auf zwei Namen und zwei konträre Konzeptionen: John Maynard Keynes und Milton Friedman. Der eine vertrat die so genannte Nachfragetheorie, der andere die so genannte Angebots- oder monetäre Theorie. Das hatte gewaltige Auswirkungen auf die Nationalökonomie, die es in vielen Köpfen damals noch in reiner Form gab: Wie funktioniert also die gesamte Wirtschaft?
Funktioniert sie, indem man die Binnennachfrage stärkt, sie also durch eine Globalsteuerung in schwachen Zeiten über "Deficit-Spending" mit allen Konsequenzen für die Neuverschuldung des Staates und die Inflation ankurbelt? Oder so, dass man die Wirtschaft über steuerliche Entlastungen und über eine Entlastung der Lohnnebenkosten befreit, ja entfesselt, dass sie national und international so wettbewerbsfähig wird, dass sie Waren, Informationen und Dienstleistungen in einer Form anbieten kann, dass alle Konsumenten dann leichter kaufen können, dass Arbeit über Angebot und Nachfrage dynamisch generiert wird und der Staat insbesondere die Kontrolle über alle inflationären Tendenzen behält?
Diese klare Sicht der Nationalökonomie war einmal. Heute heißt der Konflikt: Globalisierung oder Neoliberalismus versus Globalisierungskritik. Das ist fast das gleiche wie vor etwa 30 Jahren. Der Verteilungskonflikt ist wieder da, doch er tobt nun unter veränderten Umständen auch in deutschen Landen, wo sich die Sozialstruktur zum Teil schon erheblich verändert hat und wo sich die wirtschaftliche Macht im Koordinatensystem globaler Kräfte neu sortiert.
An den Reaktionen darauf setzt Albrecht Müller an. Explizit geißelt er einen vermeintlichen Neoliberalismus in Deutschland - und springt dabei deutlich zu kurz. Nun ist Müller nicht irgendwer. Er war Redenschreiber von Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller, von 1973 bis 1982 Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt bei Willy Brandt und Helmut Schmidt und später sieben Jahre Mitglied des Deutschen Bundestags. Dennoch, so der Eindruck bei der Lektüre, wird alter Wein von einem eigentlich kompetenten Fahrensmann zum Teil ziemlich polemisch in neuen Schläuchen verkauft.
Was macht das Buch so schwierig? Dass es Richtiges mit Falschem und Wunderlichem auf seltsam krude Weise vermischt. Der Autor verneint etwa, dass sich Deutschland um seine Wettbewerbsfähigkeit sorgen oder dass der Generationenvertrag überdacht und nachgebessert werden müsse. Dass Deutsche etwas mehr arbeiten sollten, um international bessere Wirtschaftsergebnisse zu produzieren, sei nicht nötig. Dass Reformen notwendig seien, um Deutschland als internationalen Wettbewerber nach vorne zu bringen, sei ziemlich falsch. Die Arbeitsgrundlagen würden sich nicht erheblich ändern.
Auf Seite 77 etwa heißt es: "Weder sind Patchwork-Biographien dramatisch neu, noch ist die Erosion der so genannten Normalarbeitsverhältnisse zwangsläufig. Morgens jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht treiben... wie ich gerade Lust habe", so zitiert er Karl Marx über das Leben in der idealen Gesellschaft, und wendet dies nun aber als neoliberale Drohung, die "interessierte Kreise" den Menschen näher brächten, um sie auf den neoliberalen Umbau des Sozialstaats einzuschwören.
Der Hinweis behagt nicht, so wenig wie die Fakten. Natürlich tangiert die Globalisierung das Normalarbeitsverhältnis, wie es in der Industriegesellschaft eher gang und gäbe war; nur noch etwa die Hälfte aller Erwerbstätigen ist darin heute aufgehoben - die restlichen 50 Prozent sind befristet beschäftigt, arbeitslos, geringfügig beschäftigt, Mini-Jober oder freier Unternehmer. Mehr Leute in kalkulierbare und sozial abgesicherte Arbeitsverhältnisse zu bringen oder vor allem Orientierung in Zeiten der Globalisierung anzubieten, ist daher nötig; und dies geht nur durch Reformen und eine andere Wirtschaftspolitik. Und das geht eben in der alten Sichtweise nicht.
Schleierhafte Zusammenhänge
Derartige Beispiele lassen sich vielfach finden, auch in der Debatte um das Umlage- oder Kapitaldeckungsverfahren in der Rente, wo Müller darauf rekurriert, dass die Leute darauf aus seien, die Debatte in Richtung auf Zweites zu lenken, um so Privatisierungsschritte zu rechtfertigen (etwa Riester-Rente, S.129 ff.). Wie das hier zusammenhängt, bleibt schleierhaft!
Die Sehnsucht nach der Lage und der Wirtschaftspolitik der 70er- und 80er-Jahre trägt einfach nicht mehr. Die neuen Probleme lassen sich nicht mit alten Lösungen angehen, die ihre Wirkung hatten in einer Welt, die durch den Ost-West-Konflikt geordnet war und durch nationale Wirtschaftspolitik noch anders gelenkt werden konnte. Wenn Müller hier die Eliten im Lande ermahnt, die Bevölkerung nicht durch unklare Reformschritte, Pannen oder fehlende strategische Perspektiven zu verwirren und zu ängstigen, dann hat er Recht, doch an der Notwendigkeit zu zeitgemäßem Handeln ändert das nichts.
Nur von der Reformlüge zu reden, bringt nichts, und die Lektüre trägt zur Frage innovativer wirtschaftspolitischer Ansätze oder einer weiteren Verklarung der Debatte leider nur wenig bei. Da sind Autoren wie etwa Werner Sesselmeier oder Kilian Bizer mit ihrem "Reformprojekt D" weiter. Was also soll man tun? Herrn Müller zunächst auf das Podium bitten, um seine Ansichten näher zu erläutern. Jürgen Turek
Albrecht Müller
Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren.
Droemer Verlag, München 2004; 416 S., 19,90 Euro