In seinem Buch "Höhenrausch" wirft der "Spiegel"-Autor Jürgen Leinemann der politischen Klasse vor, unter Realitätsverlust zu leiden. Das gestörte Verhältnis zur Wirklichkeit, so Leinemann im Gespräch, sei ein wichtiges Sucht-Symptom. Bei Politikern habe diese Abhängigkeit eine besondere Brillanz: Zwar sei Sucht zunächst das Problem jedes Einzelnen. Wenn jemand aber ein öffentliches Amt bekleide und dadurch oder deswegen ein Problem bekomme, das die ganze Gesellschaft auszubaden habe, sei dies eine öffentliche Angelegenheit. Leinemann will den Begriff Sucht allerdings nicht als Diffamierung verstanden wissen. Er benutze ihn lediglich als "Charakterisierung".
Das Parlament:
Arbeiten Politiker zu viel?
Jürgen Leinemann: Politiker arbeiten sehr viel.
Das Parlament:
In ihren Buch stellen Sie die These auf, dass viele Politiker arbeitssüchtig sind. Wie viele sind davon betroffen?
Jürgen Leinemann: Konkrete Zahlen kenne ich keine. Aber ich denke, dass der Prozentsatz unter den Volksvertretern nicht sonderlich abweicht von dem im Rest der Bevölkerung, insbesondere in Spitzenjobs wie Managern, Ärzten oder Top-Journalisten.
Das Parlament:
Der CSU-Sozialexperte und frühere Bundesminister Horst Seehofer bezeichnet sich selbst als "süchtig nach der Politik". Ist der Mann krank?
Jürgen Leinemann: Es ist immer eine Definitionsfrage, ob man Sucht als Krankheit oder als soziale Störung oder als moralische Entgleisung betrachtet. Ich denke, dass er zumindest krankheitsgefährdet ist.
Das Parlament:
Bloß weil er viel arbeitet?
Jürgen Leinemann: Nicht weil er viel arbeitet, sondern weil er durch die Konzentration auf seine Arbeit sein Leben gefährdet, gesundheitlich und sozial.
Das Parlament:
Man könnte auch einfach sagen, dass eine 90-Stunden-Woche ganz normale Arbeitsbedingungen sind, unter denen in Deutschland Bundespolitik erst gemacht werden kann.
Jürgen Leinemann: So ist das ja auch.
Das Parlament:
Die Arbeitssucht und die Arbeitsbedingungen der Politiker sind also unmittelbar miteinander verbunden?
Jürgen Leinemann: Sie haben miteinander zu tun. Das Entscheidende bei Sucht sind nicht die äußeren Bedingungen und nicht die Drogen. Niemand wird von Arbeit süchtig. Jemand hat eine Suchtstruktur: In seiner Persönlichkeit herrscht ein Mangel, vielleicht ein Unbehangen mit dem Leben oder eine Frustration. Dieses Sinnloch muss gefüllt werden. Dafür kann man viele Drogen benutzen: Der Aufheller Alkohol oder, zur Betäubung des schlechten Gewissens, mehr Arbeit. Es geht nicht um die Arbeit schlechthin, sondern darum, wie man Arbeit einsetzt.
Das Parlament:
Politiker greifen auf verschiedene Drogen zurück?
Jürgen Leinemann: Wenn ich in meinem Buch über die Droge Politik gesprochen habe, dann meinte ich ein Bündel von möglichen Drogen: Macht, Arbeit, natürlich stoffliche Drogen wie Alkohol oder Medikamente, und in verstärktem Maße - besonders bei Jüngeren - sind es die Medien, die öffentliche Aufmerksamkeit. Für einen süchtigen Menschen kann alles zur Droge werden. Politiker unterscheiden sich von anderen Menschen nur dadurch, dass erstens in ihrem Beruf die Drucksituation, die Frustsituationen und die Stresssituationen größer sind als in vielen anderen Berufen, und zweitens, dass die Mittel, die zur Verfügung stehen, um daraus zu flüchten, reichlich zur Hand und auch sehr attraktiv sind.
Das Parlament:
Sind sich die betroffenen Politiker dessen bewusst?
Jürgen Leinemann: Ich glaube, dass sich das kritische Bewusstsein, was ihr Tun angeht, außerordentlich in Grenzen hält. Es gehört zu den Abhärtungsverfahren in diesem Beruf, dass man Selbstzweifel möglichst weit weg drückt.
Das Parlament:
Sind jüngere Politiker suchtanfälliger als die alte Garde aus den Anfangsjahrzehnten der Republik?
Jürgen Leinemann: Ohne Frage. Das ist zunächst einmal aber nicht ihre Schuld - genauso wenig wie es das Verdienst der Älteren war, dem mehr entgegensetzen zu können. Das waren andere Zeiten. Die älteren Generationen sind aufgewachsen unter dem Eindruck der gescheiterteren Weimarer Republik, der Nazizeit, des Krieges sowie der Hungers- und Aufbauzeit danach. Sie mussten sich mit einer unheimlich intensiven Umwelt auseinandersetzen. Der Generation, die jetzt an der Macht ist oder demnächst kommt, ist das Leben zumindest von außen bei weitem nicht so stark auf die Pelle gerückt. Es macht einen Unterschied, ob einer aus einem Gefangenenlager oder aus dem KZ in den Bundestag kommt oder aus dem Hörsaal. Die Jüngeren sind umso mehr genötigt, sich dem Leben zu stellen und sich um diese Unbequemlichkeiten nicht zu drücken.
Das Parlament:
Zugespitzt: Wenn die wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische Situation schlechter wäre, dann wären die Politiker weniger suchtanfällig?
Jürgen Leinemann: Ich glaube schon.
Das Parlament:
Stichwort: Medien. Sie schreiben, dass Politiker wie der frühere Innenminister und Vize-Bundestagspräsident Rudolf Seiters sehr gut daran getan haben, ihre Person aus den Medien zurückzuhalten und empfehlen als Gegenmittel zur Sucht den Verzicht auf die "öffentliche Selbstdarstellung im Licht der Medienscheinwerfer". Ist das nicht weltfremd in einer heutigen Mediengesellschaft?
Jürgen Leinemann: Was heißt weltfremd? Die Welt, so wie sie ist, muss ja nicht das letzte Wort sein. Nirgendwo in meinem Buch finden Sie einen Hinweis, der lautet: Ich will keine Mediengesellschaft. Mit der müssen wir leben. Die Frage ist: Wie komme ich damit zurecht? Und: Was tue ich mir an, welchen Gewinn habe ich und welchen Preis zahle ich dafür? Wenn man sich anschaut, wie etwa Johannes Rau als Bundespräsident versucht hat, sich das Fernsehen vom Leibe zu halten, stellt man fest, dass er anfangs dafür einen ziemlichen Preis gezahlt hat. Er galt als der "unsichtbare Präsident", der in Schloss Bellevue verschollen war. Erst nach einer Weile wurde sein Stil akzeptiert. Johannes Rau hatte nichts gegen das Fernsehen. Er hat nur gesagt: Da wo ich es brauche und wo es vernünftig ist, setzte ich es ein. Wenn es um menschlichen Austausch geht, bin ich besser dran, wenn ich von Mensch zu Mensch rede.
Das Parlament:
Politiker wie Rudolf Seiters oder Johannes Rau konnten sich diese Zurückhaltung in ihrer herausgehobenen Position als Bundestagsvizepräsident beziehungsweise Bundespräsident leisten. Politiker im aktuellen Tagesgeschäft, die auf Initiativen des politischen Gegners schnell reagieren und handeln müssen, sind doch in einer ganz anderen Situation.
Jürgen Leinemann: Aber dazwischen gibt eine breite Spanne. Weder Rau noch Seiters sind als Präsidenten geboren. Sie sind auch dort hin gekommen - obwohl sie sich anders verhalten haben, als ihnen die Mediengesellschaft vorschreiben wollte. Es funktioniert also. Außerdem liegt zwischen reagieren oder sich politisch Bewegen und sich unentwegt vor die Kameras drängen ein weite Spanne. Wir wissen doch, dass es nur gut drei Dutzend Politiker sind, die wirklich in jede Talkshow gehen. Das sind immer die selben Besetzungslisten. Man muss nur schauen, wer bei "Christiansen" sitzt.
Das Parlament:
Ist das die Gruppe der klassisch suchtgefährdeten Politiker?
Jürgen Leinemann: Ich denke, dass das schon ein Ausdruck dafür ist, dass sie das brauchen. Sie benötigen offensichtlich das öffentliche Echo und die Aufmerksamkeit, um sich selber zu sagen, wie bedeutend sie sind.
Das Parlament:
Aber Aufmerksamkeit findet doch jeder schön.
Jürgen Leinemann: Ja sicher. Aber es gibt Unterschiede. Ich spreche aus eigener Erfahrung: Ich habe lernen müssen, dass ich Aufmerksamkeit von außen schön finde, aber dass ich sie nicht brauche, um eine Lebensberechtigung zu haben. Früher habe ich immer um Lob gebuhlt, und immer wenn ich es bekam, dann habe ich mir das wirklich wie eine Droge reingezogen. Genug war es nie, weil ich selber ein so negatives Bild von mir hatte, dass ich gesagt habe: Schön, dass dieser Mensch mich toll findet. Aber wenn der wüsste, was ich eigentlich für ein Armleuchter bin, dann würde er das nicht sagen. Das heißt, das Lob ist auch nichts wert, denn der hat keine Ahnung.
Das Parlament:
Es geht um Selbstbewusstsein?
Jürgen Leinemann: Es geht um Selbstachtung und Selbstbewusstsein und Charakterstärke.
Das Parlament:
Sie schreiben, dass die heutige Gesellschaft immer stärker zu einer Suchtgesellschaft wird, "dahingehend, dass sie ihr Bedürfnis nach Sinn, Glück und Sicherheit mit Ersatzmitteln befriedigt". Ist Sucht dann der Normalzustand?
Jürgen Leinemann: Ja, so ist es wohl.
Das Parlament:
Fassen Sie den Begriff nicht zu weit und entwerten ihn damit?
Jürgen Leinemann: Da bin ich mir nicht sicher. Finden Sie das toll, wie sich Menschen immer mehr selbst isolieren? Wie sie offenbar immer weniger miteinander umgehen können? Wie in den Schulen schon die Kinder Schwierigkeiten haben, sich sozial zu verhalten, weil sie immer nur vor der Glotze gesessen haben und kein Gemeinschaftsleben mehr hatten? Das sind kleine Beispiele. Alle Traditionen und Verbindlichkeiten über den Einzelnen hinaus sind inzwischen in Frage gestellt oder nicht mehr vorhanden. Jeder muss sich sein Leben selbst zurecht basteln. Das macht große Angst. So leben die Leute auch. Menschen müssen immer stärker ihre eigenen Ziele in den Vordergrund stellen, weil es keine übergeordneten Ziele mehr gibt.
Das Parlament:
Was wäre die Therapie?
Jürgen Leinemann: Ich weiß keine. Meine Antwort in diesem Buch heißt: Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Ich nehme den Individualismus und die Verantwortung jedes einzelnen ernst.
Das Parlament:
Damit beißt sich die Katze doch in den Schwanz: Wenn jeder für sich verantwortlich ist, ist auch niemand da, der ihm helfen kann.
Jürgen Leinemann: Das heißt auch, dass ich, wenn ich eigenverantwortlich handle, selber meine Not erkenne und Hilfe hole. Mir geht es erst besser, seit ich in Selbsthilfegruppen gehe. Ich habe doch nicht dadurch, dass ich vor 28 Jahren aufgehört habe zu trinken, mein Alkoholproblem verloren. Das ist genau ein Glas weit entfernt. Wie kommt man da raus? Bei den Anonymen Alkoholikern heißt es: Erfahrung, Kraft und Hoffnung mit anderen zu teilen - also mit anderen reden und mich auf deren Solidarität verlassen. Das ist meine Verantwortung, ob ich das tue. Das gibt es nicht auf Krankenschein.
Das Interview führte Bert Schulz. Er arbeitet als Redakteur für die "tageszeitung" in Berlin.