Das "Rote Kreuz" kennt jeder. Weniger bekannt ist, dass es auch ein "Blaues Kreuz" gibt. 1883 nahm ein in Genf gegründeter "Schweizer Mäßigungsverein" diesen Namen an, und das in bewusstem Bezug auf das "rote" Vorbild, die berühmte humanitäre Organisation, die Henri Dunant kurz zuvor gegründet hatte. Das ehrgeizige Programm des Schweizer Pfarrers Louis Lucien Rochat (1849 bis 1917) hieß "Trinkerrettung". Nicht den Verwundeten der Schlachtfelder, sondern den "Verwundeten der Trunksucht und des Wirtshauslebens" sollte unter dem Signum des blauen Kreuzes auf weißem Grund fortan geholfen werden.
Überhaupt ist das Jahr 1883 in der Geschichte des organisierten Kampfes gegen die Trunkenheit ausgesprochen wichtig. Im selben Jahr wurde in Kassel ein "Deutscher Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke" gegründet. Ein ehrwürdiger Honoratiorenverein, der sich das Ziel gesetzt hatte, Rahmenbedingungen zu schaffen, die dem Alkoholkonsum entgegenwirken sollten. So förderte man Cafés und Trinkhallen, in denen kein Alkohol ausgeschenkt wurde. Man setzte sich dafür ein, dass es der Polizei erlaubt sein sollte, Trinker festzunehmen. Dazu kam eine rege publizistische Tätigkeit. Einzelne Alkoholiker zu therapieren oder zu resozialisieren, war dagegen nicht Ziel des bürgerlichen Vereins.
Dafür fühlten sich schon eher die Guttempler zuständig. Ebenfalls im Jahr 1883 entstand in Deutschland die erste Loge dieses Ordens, der sich in der Folge fast ausschließlich in Norddeutschland verbreitete. Die Guttempler gab es in den USA schon seit 1851; sie wurden auf dem Boden des amerikanischen Protestantismus gegründet, ohne jedoch selbst konfessionell gebunden zu sein.
All diese Organisationen waren die Reaktion auf ein schon seit einigen Jahrzehnten bestehendes gesellschaftliches Problem. "Elendsalkoholismus" oder "Schnapspest" waren die Stichworte. Vor allem der Branntwein, der nach den Befreiungskriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts deutlich verbilligt wurde, trieb unzählige Arbeiterfamilien in den Ruin. Seit den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden ebenso flächendeckend Gaststätten, die oft nur Bier, Wein und Schnaps ausschenkten. Branntwein gehörte bisweilen sogar zur Entlohnung von Land- und Bauarbeitern.
Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte es den organisierten Versuch gegeben, des "Trinkerelends" Herr zu werden. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. interessierte sich für die Arbeit der nordamerikanischen Mäßigungsunion. 1841 gab es in Preußen bereits 302 "Mäßigkeitsvereine". Bei vielen erstreckte sich die Enthaltsamkeit allerdings allein auf Branntwein, in Wein und Bier sah man keine grundsätzliche Gefahr.
Sich beherrschen, zur rechten Zeit aufhören können: Das waren die Ziele, die sich eine eher moralisch-pädagogische Bekämpfung der Trunkenheit zunächst gesetzt hatte. Man ging davon aus, dass alles darauf ankomme, den Willen der Alkoholiker zu stärken. In der "guten" Gesellschaft war er schließlich für viele Genuss-, nicht Suchtmittel. Diese Sichtweise war teilweise noch stark der Aufklärung verhaftet. "Während des 17. und des größten Teils des 18. Jahrhunderts galt die Ansicht, dass die Menschen tranken, weil sie es wollten und nicht, weil sie es mussten", schreibt Günther Emlein in seinem Buch "Gang durch die Geschichte der Sucht". Alles kam aus dieser Perspektive darauf an, das unvernünftige Verhalten mit geeigneten erzieherischen Mitteln zu verändern.
Guttempler und Blaukreuz-Mitarbeiter betraten die Bühne mit einem anderen Ansatz: Alkoholismus war für sie eine Krankheit. Sie konnten sich dabei auf den Moskauer Arzt Brühl-Cramer berufen, der ihn im Jahr 1819 erstmals als eigenständiges Krankheitsbild beschrieben hatte. Wenig später fiel die Aufmerksamkeit auf das biochemische Suchtpotenzial der Substanz. Abschreckendes Anschauungsmaterial für "heavy drinking" fand sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend in den neu entstandenen Schützen- und Gesangsvereinen. Die alten Mäßigkeitsvereine wirkten dagegen relativ machtlos. Sie hatten ohnehin schnell an Einfluss verloren, denn sie erschienen den staatlichen Autoritäten seit der Zeit der Unruhen von 1848 eher als Hort revolutionärer Umtriebe.
Gegen Krankheiten muss man anders vorgehen als gegen Charakterschwächen. "Keine belehrenden oder ermahnenden Worte, sondern eine annehmende, solidarische, eine brüderliche Haltung sowie das alkoholfreie Beispiel soll helfen", so fassen Günter Rudeck und Hans-Günter Schmidt das neuartige Konzept in einer historischen Darstellung zusammen. Abstinenz statt Mäßigung hieß das neue Gebot der Stunde: Ausgerechnet dem Hagener Schreinermeister Johannes Schluckebier blieb es vorbehalten, 1885 als erster die Enthaltsamkeits-Erklärung des ersten deutschen Blaukreuz-Ablegers im westfälischen Hagen zu unterzeichnen.
Mit etwas Verzögerung veränderte bald auch das konfessionelle Gegenstück der Blaukreuzler, der "Katholische Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke", 1896 in "Katholisches Kreuzbündnis" umbenannt, seine Strategie. Noch 1899 wurden ganz bewusst drei Gruppen von Mitgliedern unterschieden: Neben "Vollabstinenten" gab es auch gezielt "Schnapsabstinente" und "Mäßige". Erst 1908 gibt sich das Kreuzbündnis dann den Beinamen "Verein abstinenter Katholiken" und nimmt nur noch Mitglieder auf, die wie die Guttempler und die Mitglieder des Blauen Kreuzes versprechen, dem Alkohol ganz und gar abzuschwören.
Der "Deutsche Arbeiter-Abstinenten-Bund" sammelt zur gleichen Zeit die konfessionell nicht gebundene Arbeiterschaft und linke Politiker, darunter eine ganze Reihe führender Sozialdemokraten. Auch Berufsgruppen bilden nun verstärkt Vereine, deren Mitglieder dem Alkoholgenuss ganz abschwören: Die Lehrer gehen 1896 mit gutem Beispiel voran, es folgen Kaufleute, Eisenbahner, sogar Schüler und Studenten, Pfarrer, Juristen und auch Post- und Telegraphenbeamte. Der im Jahr 1900 gegründete "Deutsche Frauenbund für alkoholfreie Kultur" hat sich besonders eine "gesunde Gastlichkeit" und "gärungslose Früchteverwertung" auf die Fahnen geschrieben. Ziele, die heute etwas banal erscheinen mögen, doch sehr verdienstvoll waren, weil damit der Siegeszug attraktiver Getränke-Alternativen wie Süßmost eingeläutet wurde.
Mit dem Thema "Gemeinde-Verbotsrecht" wird die Bewegung zusehends politischer: Man fordert das Recht der Gemeinden, die Zahl der Schankstätten einzuschränken. Die amerikanische "Prohibition" wird zum leuchtenden Vorbild in Sachen Verbotspolitik. "Wir wollen nicht das Wasser aus der Badewanne schöpfen und zusehen, wie neues zuströmt, sondern wir wollen den Hahn zudrehen", so veranschaulicht der Basler Physiologieprofessor Gustav von Bunge (1844 bis 1920) das Problem.
Er ist der erste moderne Naturwissenschaftler, der fast leidenschaftlich für die Abstinenzbewegung Partei ergreift. "Die Mäßigen sind die Verführer!" ruft er in seiner Antrittsvorlesung aus, in der er eindrücklich die Gefahren des Alkohols beschwört und mit der Meinung aufräumt, er wärme und heile. Ein besonderer Dorn im Auge ist ihm der Alkohol in Medikamenten, die sogar Kindern verschrieben wurden. Auch Forels berühmter Kollege Emil Kraepelin (1856 bis 1926), der täglich mit Betroffenen zu tun hatte, erkannte die Tragweite des Alkoholproblems. Die meisten seiner Kollegen allerdings hielten sich beim Engagement gegen das Suchtproblem zurück. In der strengen Abstinenzbewegung spielten Mediziner keine große Rolle: Im Jahr 1903 hatte der "Verein abstinenter Ärzte des deutschen Sprachgebiets" ganze 199 Mitglieder.
Dabei gehören kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach einer Statistik der Zeitschrift "Die Abstinenz" insgesamt 332.458 Deutsche einem Abstinenzverband an. Die Abstinenzbewegung kann eindrucksvolle 18 Einzelverbände und insgesamt zwölf Zeitschriften zu einem Zentralverband zusammenschließen. Und auch die weniger spektakulären Mäßigungsvereine spielen weiter eine (Neben-)Rolle im Kampf gegen die Trunksucht. Auf einem Fachkongress in Bremen müssen im Jahr 1903 die Auffassungen noch einmal hart aufeinander geprallt sein. Die Verfechter der vollkommenen Enthaltsamkeit wiesen dort immer wieder darauf hin, dass der Begriff "mäßig" dehnbar sei wie Gummi - und dass jeder Trinker einmal "maßvoll" begonnen habe.
Nach dem Krieg bröckeln beide Bewegungen, dafür hält mancherorts und nach und nach ein pragmatischeres Denken Einzug: In einzelnen Orten schließen sich die gegnerischen Richtungen, Mäßigkeit und Abstinenz, zu Arbeitsgemeinschaften zusammen. Die "Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus", in der der Streit zur Ruhe kommt, wird aber erst 1921 gegründet.
Das Gaststättengesetz, das der Reichstag nach langen Debatten erst 1930 verabschiedet, nimmt endlich die Gastwirte in die Pflicht: Sie müssen auch alkoholfreie Getränke anbieten. Außerdem gibt es erstmals Bestimmungen für den Jugendschutz in Lokalen.
Fünf Jahre später wird in den USA dann eine Organisation gegründet, in der die Namenlosigkeit der Hilfesuchenden ebenso zum Programm wird wie der völlige Verzicht auf alkoholische Getränke. Der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören und "trocken" zu bleiben, gilt als einzige Voraussetzung der Mitgliedschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird der Name dieser Organisation sich auch in der Bundesrepublik schnell als Synonym für ein durch Gruppenarbeit gestütztes, konsequent abstinentes Leben einbürgern: Mit dem Ergebnis, dass die "Anonymen Alkoholiker" (AA) heute fast so bekannt sind wie das "Rote Kreuz".
Die Autorin arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in Berlin.