Mit 10,4 Liter reinem Alkohol pro Kopf steht Deutschland an siebenter Stelle des Alkoholkonsums in den Industrieländern. Doch Alkoholabhängigkeit hat viele Gesichter, und zunehmend bemühen sich Forscher und Kliniker um eine individuell zugeschnittene Therapie von alkoholkranken Menschen. Anerkannt wird dabei mittlerweile auch, dass das Rückfallgeschehen notwendiger Teil des Ausstiegs aus der Droge ist.
Denken Sie oft an Alkohol und sorgen immer schon für Nachschub? Brauchen Sie allabendlich ein bestimmtes Quantum Wein, Bier oder Schnaps, um sich zu entspannen? Fällt Ihnen das Alleinsein dann leichter? Haben Sie ein schlechtes Gewissen, wenn Sie abends (zu) viel getrunken haben? Brauchen Sie dann morgens gelegentlich schon mal ein Gläschen, um "auf Touren" zu kommen? Und haben Sie schon ein paar Mal erfolglos versucht, eine Abstinenzphase einzulegen? Das sind einige der 30 Fragen, die in der angenehm unaufgeregten Broschüre der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) aufgelistet sind und helfen sollen, im Selbsttest den eigenen "Trinkstatus" zu ermitteln. Beantworten Sie diese Fragen mehrheitlich mit Ja, dann nimmt Alkohol schon zu viel Platz in Ihrem Leben ein, mehr noch, ist er für Sie bereits zum Problem geworden.
Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit hat viele Gesichter: Da sind die jugendlichen Kumpels, für die Saufgelage zu den Initiationsriten in die Erwachsenenwelt gehören und die sich auf diese Weise frühzeitig an Alkohol gewöhnen; der biedere Familienvater, der in Gesellschaft grundsätzlich über den Durst trinkt und zu Hause dann auch mal gewalttätig wird; die überlastete Familienmutter, die heimlich zum Cognac greift, weil sie es sonst nicht mehr schafft, oder die gestresste Managerin, die sich abends regelmäßig mit einer Flasche Wein vor dem Fernseher entspannt. Der "Alkie", der vor dem Supermarkt herumlungert, um sich möglichst schnell mit "Stoff" zu versorgen, ist nur die traurige Spitze eines Eisbergs aus harten Zahlen: 10,4 Liter reinen Alkohols nahmen im Jahre 2001 die Deutschen pro Kopf zu sich und stehen damit auf dem siebenten Platz der Industrieländer. Nur zehn Prozent der Bevölkerung leben weitgehend abstinent, zwischen zehn und 15 Prozent konsumieren Alkohol in risikoreichen Mengen, rund vier Prozent sind der Kategorie gefährlicher beziehungsweise Hochkonsum zuzuordnen. Man geht davon aus, dass zehn Prozent der trinkfähigen Bevölkerung mehr als die Hälfte des gesamten Alkohols konsumieren.
Zweifelhaftes Alkohol-Gen
Seitdem 1968 Alkoholismus im Rahmen der gesetzlichen Versicherungen als Krankheit anerkannt ist, hat sich die Alkoholforschung und -therapie intensiviert und erheblich differenziert. Beschrieben wurden die psychischen und sozialen Bedingungen, die in die Sucht führen, es existieren Typologien und Verlaufskarrieren der Sucht, diagnostische Verfahren erleichtern die Erkennbarkeit. Sattsam bekannt sind auch die gesundheitlichen Folgeschäden: Herz-Kreislauf-Probleme, Schäden der inneren Organe, insbesondere der Leber, Knochenerkrankungen, erhöhtes Krebsrisiko und nicht zuletzt alkoholbedingte Hirnschädigungen.
Gewandelt hat sich in den letzten Jahrzehnten auch das Bild von alkoholkranken Menschen: Zwar dominiert in der Öffentlichkeit noch immer die Vorstellung vom halt- und charakterlosen "Säufer", der seine Sucht nicht in den Griff bekommt, immer wieder rückfällig wird und ins soziale Abseits gerät, doch es gibt auch gegenläufige "entlastende" Tendenzen, die durch die differenziertere Ursachenforschung und die damit verbundenen Therapieansätze angestoßen wurden. Die Genforschung verhalf im letzten Jahrzehnt zudem dem so genannten "Alkohol-Gen" zu seinem zweifelhaften medialen Aufstieg. Sicher ist, dass Kinder mit alkoholkranken Eltern gefährdeter sind. Ob dies allerdings genetisch bedingt ist oder auf das elterliche Vorbild und das Lernverhalten der Kinder zurückzuführen ist, kann nicht abschließend beurteilt werden. Zeigen lässt sich immerhin, so Andreas Heinz von der Klinik für Psychiatrie der Berliner Charité, "dass bestimmte Gene dazu beitragen, dass man gegenüber den Alkoholwirkungen weniger empfindlich ist". "Trinkfest" zu sein, sei also ein Risikofaktor, der dazu führe, mehr zu trinken. Je länger die beruhigende oder euphorisierende Wirkung anhält, "je länger man also was davon hat und je später die unangenehmen Begleiterscheinungen einsetzen", so Heinz' Schlussfolgerung, "desto höher ist das Risiko, dass man eben gern trinkt".
Das Suchtgeschehen ist allerdings ein viel zu komplizierter Prozess, um ihn einseitig auf genetische oder neurophysiologische Bedingtheiten zu reduzieren. Die Frauengesundheitsbewegung beispielsweise, die mittlerweile vielfältige, spezifisch zugeschnittene Therapieangebote bereitstellt, hat dafür sensibiliert, dass Frauen oft aus anderen Gründen zur Flasche greifen als Männer. "Depressionen, Borderline-Syndrom oder Angstzustände", so Rita Wessels von der Berliner Frauensuchtberatungsstelle FAM (Frauen Alkohol Medikamente) seien häufig der Ausgangspunkt der Alkoholsucht. Dies werde oft aber weder von den Patientinnen, noch von den Ärzten wahrgenommen. Nicht selten gehe der Alkoholkonsum auch mit Medikamentenmissbrauch einher. In vielen Therapieangeboten fallen solche Probleme jedoch oft unter den Tisch, zumal sich auch dort geschlechtsspezifische Kommunikationsmuster durchsetzen und die Frauen den zuhörenden Part übernehmen.
Doch auch in sozialer Hinsicht unterscheiden sich die Sucht- und Abhängigkeitsmuster von Männern und Frauen. Sind Frauen erst einmal süchtig, ist die Gefahr, dass sie von ihrem Partner verlassen werden, viel größer als umgekehrt. Frauen sind bestrebt, den Alkoholkonsum ihrer Männer eher zu verheimlichen oder die Folgen des Alkoholmissbrauchs auszutarieren, um die Familie zusammenzuhalten. Co-Abhängigkeit nennt sich dieses Handlungsmuster, bei dem Frauen ihre eigenen Interessen aus den Augen verlieren: "Wir raten Frauen in solchen Situationen, zunächst ihre Bedürfnisse zu bestimmen, die eigenen Grenzen zu setzen und dann konsequent zu verfolgen", sagt Wessels.
Die Wege in die Therapie sind so vielfältig wie die therapeutischen Maßnahmen selbst. Doch egal, ob ein Entzug in der Klinik, eine ambulante Therapie oder "nur" eine Selbsthilfegruppe geeignet ist und ob die völlige Abstinenz oder kontrolliertes Trinken angestrebt wird, es gibt keine Erfolgsgarantie. Gerade die hohen Rückfallquoten (bis zu 80 Prozent) sind es, die Alkoholkranke immer wieder vor einer Therapie zurückschrecken lassen, weil sie fürchten, "es ja doch nicht zu schaffen".
Die Einsicht, dass der Rückfall ein notwendiger und wichtiger Bestandteil der Therapie ist, setzte sich auch bei Alkoholforschern und Klinikern erst in den letzten Jahren durch. Deshalb gilt dem Rückfallgeschehen nun verstärkte Aufmerksamkeit. So lange sich der Entwöhnte noch im geschützten Raum der Klinik bewegt, geht alles gut; doch ist er erst einmal wieder in den Alltag mit seinen alkoholischen Verführungen entlassen, beginnt der Kreislauf von vorn: Das erste Glas, die Steigerung des Konsums, die Entgiftung und der Aufenthalt in der Suchtklinik. Doch ist es nur Willensschwäche, die den gerade "Geheilten" erneut zur Flasche greifen lässt?
Neuere Ergebnisse der Hirnforschung belegen, dass Alkohol im Gehirn unterschiedlich "ankert" und auf eine Vielzahl von Botenstoffen - Glutamat, Dopamin oder GABA - verschieden wirkt. Das Gehirn stellt sich mit der Zeit auf den Alkohol ein und reagiert auf den Entzug "panisch". Selbst wenn der Süchtige entwöhnt ist, hat das Gehirn die Bilder von Situationen, die mit dem Trinken zu tun haben, in seinem "Suchtgedächtnis" gespeichert. Bei entsprechenden Gelegenheiten werden diese aktiviert. Eine Schlüsselsituation, so beschreibt Andreas Heinz dieses Drama, "setzt einen Schlüsselmechanismus in Gang und führt dazu, dass der abhängige Patient die Kontrolle verliert".
Nachweisbar ist der Zusammenhang zwischen "Suchtgedächtnis" und dem Rückfallrisiko mit neuen bildgebenden Verfahren. "Es ist interessant, was passiert, wenn jemand zum Beispiel nach dem Fußballländerspiel einen Bergsee sieht, vor dem sich ein Bierglas dreht", so Heinz. Möglicherweise werden dann die Basalganglien im Gehirn, die für die automatischen Handlungen zuständig sind, so aktiviert, dass er, ohne sich viel dabei zu denken, zu trinken anfängt. Es geht also darum, Situationen zu erkennen, die zum Rück-fall führen könnten und die Patienten entsprechend zu konditionieren.
Um diesen therapeutischen Prozess zu unterstützen, werden gezielt Medikamente wie Acamprosat und Naltrexon eingesetzt. Acamprosat dämpft die Übererregung, die durch Glutamat ausgelöst wird, Naltrexon blockiert die Rezeptoren für Alkohol. Die Frage ist allerdings, welches Mittel bei wem am besten wirkt, "Acamprosat scheint eher den Stresstrinker anzusprechen, Naltrexon den Genusstrinker, aber so genau weiß man das nicht", bemerkt Heinz, der die Nebenwirkungen der Medikamente relativ gering einschätzt. Rita Wessels beurteilt den additiven Einsatz von Medikamenten viel skeptischer: Weil alkoholabhängige Frauen ohnehin oft mit Medikamenten Probleme haben, sei die Gefahr, Frauen einer zusätzlichen Abhängigkeit auszusetzen, sehr groß. Die Hirnforscher ihrerseits halten es für möglich, dass Suchtkranken irgendwann ein Chip in den Kopf gepflanzt wird, der die Lust auf ein Glas Wein oder eine Zigarette sozusagen per Knopfdruck dämpft. Ob das eine wünschenswerte Perspektive ist, bleibt dahingestellt.
Gerade weil das "Suchtgedächtnis" die Erinnerung an Alkohol aufrechterhält, ist das so genannte "kontrollierte Trinken" als Therapieziel ein Vabanque-Spiel. Von den zehn Prozent, die nach der Entgiftung ihren Alkoholkonsum in einem risikoarmen Bereich halten wollen, ist ein Drittel auf dem Weg in die Abstinenz, ein Drittel steuert in den Rückfall und nur ein Drittel schafft es langfristig.
Wer "auf der Kippe" steht, "nur" zu viel trinkt und noch keine körperlichen Abhängigkeitsmerkmale aufweist, hat im Rahmen bestimmter Programme also durchaus Chancen, seinen Alkoholkonsum unter Kontrolle zu bekommen. Ähnlich äußern sich auch Rita Wessels und Andreas Heinz. Das Beratungsteam von FAM, so schränkt Wessels ein, verfolge zwar eindeutig das Ziel der Abstinenz, doch es gebe durchaus auch Menschen, die es schafften, ihre Trinkgewohnheiten langfristig auf ein gesundheitsverträgliches Maß zu reduzieren. "Abstinenz", so meint auch Heinz, sei "auf jeden Fall viel sicherer". Und er tröstet diejenigen, die es nicht für immer schaffen: "Schon nach einer dreimonatigen Abstinenzphase erholt sich das Gehirn. Es lohnt sich also, auch mal nur eine Phase der Abstinenz einzulegen."
Weitere Informationen:
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: www.bzga.de
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.: www.dhs.de
Wer der Alkoholsucht gerne literarisch auf die Spur kommen möchte: Gunther Kruse/JoachimKörkel/Ulla Schmalz: Alkoholabhängigkeit erkennen und behandeln. Mit literarischen Beispielen. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2000.
Die Autorin ist Redakteurin der Wochenzeitung "Freitag".