Als Bauchladen für alles und jedes bietet das Internet auch das: "Du darfst nie etwas essen, ohne Dich dabei schuldig zu fühlen." Oder: "Dünn zu sein ist besser als gesund zu sein". Schließlich findet, wer möchte, dort auch den Rat, sich das Gesicht mit Penatencreme und Kreide einzuschmieren, um sich vor einem Besuch bei den Großeltern, bei denen meist üppige Mahlzeiten warten, mit dem Hinweis aufs eigene Unwohlsein zu drücken. Angesprochen sind jene, die ihren Bauch und vor allem den Magen ab liebsten verwünschen: Magersüchtige, Mädchen vor allem. Für sie bieten Webseiten der so genannten Pro-Magersucht-Bewegung nicht etwa Hilfe für einen Weg aus der lebensbedrohlichen Krankheit. Sie weisen vielmehr den erfolgreichen Weg dorthin, mit Tipps wie man das eigene Gewicht immer weiter reduzieren kann; scheinbar grenzenlos, denn das Motto dieser aus den USA stammenden Bewegung lautet: "Du bist nie dünn genug." Magersucht ist hier nicht Krankheit sondern Lifestyle.
Der definiert sich allein über ein abnorm niedriges Körpergewicht. Magersüchtig ist man, wenn das Körpergewicht entweder um 15 Prozent unter dem zu erwartendem Gewicht liegt oder einem BMI (Body Mass Index; errechnet aus Körpergröße und Kilogramm) von 17,5 und weniger entspricht. Selbst das reicht den Betroffenen jedoch nicht aus. Entscheidend ist darüber hinaus, den Gewichtsverlust selbst herbeizuführen; entweder durch Hungern oder durch übertriebene körperliche Belastung. "Versuche durch Sport zweimal soviel Kalorien zu verbrauchen, wie du isst", raten deshalb die Aktivisten der Pro-Magersucht-Gemeinde. Um diesen Abmagerungsprozess zu unterstützen helfen besonders die Bulimie-Kranken nach, indem sie ihre Heißhungerattacken durch Erbrechen und den Missbrauch von Abführmitteln oder entwässernden Medikamenten kompensieren.
Zu dieser Art "Lifestyle" gehört aber auch eine enorme Todesrate: In der Bundesrepublik stirbt ein Drittel der Betroffenen an den Folgen der Magersucht (Anorexia nervosa). Die anderen zwei Drittel können die Krankheit überwinden oder zumindest soweit bessern, dass sie ihr Leben in den Griff bekommen. Bei der Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) schaffen 70 Prozent eine vollständige oder teilweise Heilung. Die potentielle Gefahr eines Rückfalls begleitet die Patienten jedoch ein Leben lang: "Selbst wenn die Therapie schon fünf Jahre zurückliegt, können die Symptome in krisenhaften Lebenssituationen wiederkommen. Das ist nicht ungewöhnlich und muss nicht überdramatisiert werden", sagt der Berliner Arzt Bernhard Palmowski, der in seiner Praxis seit Jahren Patienten mit Essstörungen behandelt. "Aber es ist wichtig, dass die Betroffenen in solchen Situationen wissen, wo sie Hilfe finden können", beschreibt er seine Motivation.
Essstörungen (dazu gehört auch die Esssucht) lassen sich nicht auf eine Ursache zurückführen. Es wirkt ein ganzes Bündel davon: biologische, psychchosoziale und gesellschaftliche Faktoren. Auch eine genetische Veranlagung vermuten Wissenschaftler. Zu den Risikofaktoren in der Persönlichkeit der Betroffenen zählt ein vermindertes Selbstwertgefühl, obwohl dies nicht spezifisch für Essstörungen ist. Später Magersüchtige fallen schon als Kinder als sehr angepasst, leistungsorientiert und perfektionistisch auf. Als "Musterkinder" streben sie immer danach, Erwartungen anderer, besonders der Eltern, zu erfüllen - mit dem Wunsch nach Anerkennung. "In der Behandlung der Krankheit schließlich geht es dann auch darum, diesen Leistungsterror abzuwenden", so Palmowski.
Magersucht kann auch "Ausdruck einer Zwangskrankheit" sein. Einem Zwangsregime zu Hause, ausgedrückt auch in dem Zwingen zum Essen, folge ein Aufbegehren dagegen, also die Essenverweigerung, erläutert er. Eine solche von Zwang geprägte familiäre Vorgeschichte sei eine der Ursachen für die Krankheit. Die Familie deshalb in eine Therapie einzubinden sei wichtig; manchmal jedoch hat das unangenehme Folgen: "Ich hatte schon Fälle, in denen mir von seiten anderer Familienmitglieder mit dem Anwalt gedroht wurde, weil sich der Erfolg bei den Patientinnen nicht so rasch einstellte wie erhofft", sagt der Arzt.
Essstörungen können jedoch nicht verstanden werden, ohne einen Blick auf die Schönheitsideale unserer Zeit zu richten, wie sie Medien und Werbung suggerieren. Während Schönheitsköniginnen vor 60 Jahren noch einen gesunden Body Mass Index von 20 bis 25 hatten, liegt dieser heute bei 18,5. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) würde eine Frau mit einem solchen BMI als unterernährt einstufen. In den Chat-Foren der Pro-Magersucht-Bewegung schreiben selbst stark untergewichtige Mädchen davon, sich zu dick zu fühlen und nur ein Ziel zu kennen: abnehmen, koste es was es wolle. Körper, die jeden Knochen unter der Haut abbilden werden als Ideal verkauft. Allein die Waage bestimmt diesen Lebens- rythmus, sagt, was verboten und erlaubt ist, belohnt und bestraft. Reale Probleme treten völlig in den Hintergrund dieser selbst gebastelten Scheinwelt.
Solch eine verzerrte Körperwahrnehmung besitzen aber nicht nur an Magersucht oder Bulimie Erkrankte: Einer Studie der Universität Jena zufolge bezeichneten sich 42 Prozent der befragten Schülerinnen als übergewichtig, obwohl nur acht Prozent tatsächlich zu viel wogen. Umgekehrt waren 33 Prozent der Testpersonen untergewichtig, aber nur sechs Prozent sich dessen auch bewusst. "Sehr viele Mädchen stehen auf der Vorstufe zur Magersucht, sie finden es nicht schlimm, nichts zu essen und verharmlosen die Folgen. Ich erlebe in letzter Zeit vermehrt Mädchen, die es einfach abstreiten, dass Magersucht eine lebensbedrohliche Krankheit ist. Das Erschrecken ist nicht mehr da", fasst Silvia Baeck vom "Beratungszentrum für Essstörungen - Dick und Dünn" in Berlin zusammen, was sie bei ihrer Aufklärungsarbeit an Schulen erlebt.
Bedrohlich ist die Altersentwicklung in diesem Zusammenhang: Immer früher beginnt die übertriebene Beschäftigung mit der eigenen Figur, die in der Wissenschaft als wichtiger Risikofaktor für die Entwick-lung einer Essstörung beschrieben wird. 25 Prozent aller sieben bis zehnjährigen Mädchen haben schon einmal eine Diät gemacht. Gegen diesen Schlankheitswahn anzukämpfen, sei sehr schwierig erläutert Baeck, die etwa acht bis zehn Einzelberatungen in der Woche durchführt. "Ebenso schwierig sei es dann oft, den Mädchen am Beginn der Beratung klar zu machen, dass sie wirklich krank sind. Das wird von vielen Magersüchtigen einfach geleugnet." Ein solches Eingeständnis ist der erste Schritt, dem Problem zu begegnen, aber auch ein Schritt raus aus einer lange aufgebauten und gepflegten Scheinwelt.