Man stelle sich vor: Patricia Highsmith oder Elizabeth George hätten einen Krimi geschrieben, der mit einem philosophischen Streitgespräch über Moral geendet hätte. Wahrscheinlich hätten schon die Verleger gestreikt, spätestens aber die Lesergemeinde. Von Schiller aber gibt es so etwas - wenig beachtet, noch weniger gelesen. Schiller war 28 Jahre, als er wenige Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution die dunkel-mysteriöse Erzählung "Der Geisterseher" schrieb.
Der "Geisterseher" ist prosaisches Fragment geblieben, das Schiller wohl nie wieder angefasst hat. Auf der letzten Seite erfahren wir, dass der Titel seine Berechtigung erst in den - leider ungeschrieben gebliebenen - weiteren Kapiteln erhalten wird. Ein Krimi? Wohl eher eine spannende Kolportage, geschrieben im Gebildeten-Deutsch des 18. Jahrhunderts, das den heutigen Leser zwingt, den damaligen Sprachgebrauch gedanklich ins heutige Deutsch zu übertragen.
Sehr schnell wird man von einer krimihaften Spannung erfasst, obwohl es auf den ersten Blick weder um Mord noch Todschlag geht. Die Geschichte beginnt zur Karnevalszeit in der Republik Venedig des 18. Jahrhunderts. Personennamen der Hauptprotagonisten werden nie genannt, geografische nur ganz selten, man kann darin keine konkrete Spur verfolgen. Im Mittelpunkt steht ein - wahrscheinlich - italienischer "Prinz von …", der inkognito in bescheidenen Verhältnissen und zu seinem "Hof" in einem erst distanzierten, später feindseligen Verhältnis lebt.
Erzählt wird zu Beginn von einem befreundeten "Grafen von O", der ihn besucht und längere Zeit als Gast bei ihm wohnt. Im 2. Kapitel ist der deutsche Graf in seine Heimat abgereist, wird aber, in Briefen eines prinzlichen Angestellten, über den Fortgang der Ereignisse genau informiert. Keines dieser Ereignisse wird restlos aufgeklärt. Denn dem Prinzen widerfahren merkwürdige Dinge: Von einem Unbekannten, einem "Armenier", wird er ständig beobachtet, ja verfolgt. Schließlich gerät der Prinz an einen sizilianischen Magier, der ihm gegen schönes Geld die spiritistische Kontaktaufnahme mit einem verstorbenen Freund verspricht. Diese Sitzung erweist sich alsbald als eine gigantische Gaukelei voller raffinierter und gründlich vorbereiteter Taschenspielertricks. Der Betrug platzt, weil der große Unbekannte wieder eingreift. Der verhaftete Sizilianer enthüllt jetzt dem Prinzen die scheinbar geisterhafte, furchterregend-übermenschliche Natur des Armeniers, ohne dass dieser allerdings konkrete Konturen gewinnt.
Das Persönlichkeitsbild des Prinzen wandelt sich ständig zum Schlechteren. Aus einem an ästhetischen Genüssen interessierten Menschen wird ein liebestoller Hallodri, ein Lebemann und Spieler, der in finanzielle Abhängigkeit von einem reichen venezianischen Erben gerät. Sein "Hof" streicht ihm die Apanage. Dann kommt es zu einer Katastrophe, über deren Ursachen und Ausmaß man aber nichts Genaues erfährt. Die Geliebte des Prinzen wird ermordet, sein jugendlicher Gönner entgeht nur knapp einem Mordanschlag. Der Prinz selbst liegt in einem Kloster danieder und wird dort überraschend von dem geheimnisumwitterten Armenier gepflegt; seine Schulden sind irgendwie bezahlt. Der Vorhang fällt, einigermaßen ratlos bleibt der Leser zurück.
Krimi? Alles wird spannend erzählt, und Schiller erweist sich als ein scharfer Beobachter menschlicher Schwächen und Sehnsüchte. Krimi aber nur deshalb, weil beim Leser der Wunsch nach Aufklärung in dem Maße wächst, wie die Geschichte immer verwirrender voranschreitet.
Dann ist da noch das abschließende "philosophische Gespräch", das der Prinz mit einem nicht identifizierbaren Gegenüber führt. Es nimmt stellenweise die Form eines platonisch-sokratischen Dialogs an. Über axiomatische Prämissen wird in scheinbar zwingender Logik ein unwiderlegbares Ergebnis synthetisiert, von dem das prinzliche Gegenüber trotzdem nicht völlig überzeugt ist. Man kann dieses Gespräch als moralphilosophischen Diskurs in staatspolitischer Absicht lesen oder als Suche nach Antwort auf die Frage, wie der Mensch glücklich werden kann: Mit Religion oder ohne, tätig oder duldend, mehr dem Verstand oder mehr dem Herzen folgend. Einige Sentenzen überraschen durch ihre Aktualität, falls man "Fürst" oder "Herrscher" etwa durch "Politiker" ersetzt.
Der Prinz ist ein Suchender. Er will ausbrechen aus seinem vorgezeichneten Leben, aber wohin, wie und wozu? "Der Fürst, der die Meinung verlacht, hebt sich selbst auf, wie der Priester, der das Dasein eines Gottes leugnet." Man kann vielleicht übersetzen: "Ein Politiker, der sich darüber hinwegsetzt, was allgemeines Verständnis von gut und böse ist, verliert seine Existenzberechtigung."
Nach welchen Regeln soll der Mensch leben? Kann die Religion helfen? Dem Prinzen (und wohl auch dem jungen Schiller) hilft sie offenbar nicht: "Was mir vorherging und was mir folgen wird, sehe ich als zwei schwarze undurchdringliche Decken an, die an beiden Grenzen des menschlichen Lebens herunterhängen und welche noch kein Lebender hochgezogen hat."
Frönte Schiller hier einem allein gegenwartsbezogenen Hedonismus, wenn er zwar eine letzte Zwecksetzung des Menschen außerhalb von ihm nicht leugnet, aber den Prinzen verkünden lässt: "Das, was Sie den Zweck meines Daseins nennen, geht mich jetzt nichts mehr an. … Aber das Mittel, das ihre Natur erwählt hat, um ihren Zweck zu erfüllen, ist mir desto heiliger - es ist alles, was mein ist, meine Moralität nämlich, meine Glückseligkeit."
Zum Schluss klingt der Dichter der Freiheit an: "Der Despot ist das unnützlichste Geschöpf in seinen Staaten, weil er durch Furcht und Sorge die tätigsten Kräfte bindet und schöpferische Freude erstickt." War das nur eine Schillersche Schreibübung, ein beiläufiges Räsonieren über das Verhalten der hohen Stände? Mit dem "Geisterseher" hinterließ Schiller eine unvollen-dete Kolportage mit Zügen einer Kriminalstory und einen teils hochaktuellen Versuch über moralisch gutes Handeln.
Bibliografischer Hinweis
Friedrich Schiller: Der Geisterseher.
Enthalten in allen Werkausgaben.