Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 13 / 29.03.2005
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Wulf Segebrecht

"Zur Kriegsanleihe Nummer Sieben geziemt sich wohl ein ernstes Wort"

Wie Schillers "Lied von der Glocke" parodiert wurde und als Propagandainstrument zum Einsatz kam

"Über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen". Diese despektierliche Briefäußerung Caroline Schlegels aus dem Jahr 1799 - Schillers Lied lag gerade zum ersten Mal gedruckt vor - ist fast ebenso berühmt geworden wie das Gedicht selbst. Hellsichtig sah Caroline voraus: "Die Glocke ... ließe sich herrlich parodiren."

Tatsächlich wurde im 19. Jahrhundert kaum ein deutsches Gedicht so oft parodiert wie Schillers Lied von der Glocke. Daran lässt sich ermessen, wie bekannt, ja gerazu populär es damals war. Das Gedicht gehörte zum selbstverständlichen Besitz jedes gebildeten Bürgers. Der lernte die 430 Verse schon in der Schule auswendig und begegnete in ihnen den bürgerlich-sittlichen Werten des Fleißes und der Zuverlässigkeit, des Vertrauens auf die herkömmliche Ordnung in Familie und Gesellschaft, der Bereitschaft zur Solidarität und zum Frieden.

Wo so viel prinzipielles Einverständnis herrschte, da gab es für solche Parodien, die sich als aggressive "Gegengesänge" oder als freche Verulkungen der Vorlage verstanden, nur wenig Raum. Gewiss erprobten einige Autoren auch ihren Witz und ihre Lust am Unsinn im Umgang mit Schillers Gedicht, doch pure Veräppelungen oder Verhohnepipelungen der Glocke lassen sich unter den zahlreichen Glocke-Parodien kaum finden.

Dafür war der Respekt vor dem großen Schiller viel zu groß. Selbst ein Herausgeber der "geistvollsten Parodien" von Schillers Lied von der Glocke (Friedrich Schaefer), der seine Sammlung als "Hausschatz deutschen Humors" ankündigte, erwies dem Lied mit glühenden Worten seine Referenz:

"Niemals hat eine Glocke herrlicheren Klang gegeben, als jene, welche unserem Jahrhundert den Friedensgruß entgegenläutete. Der große Meister, der sie geschaffen, weilt lange nicht mehr unter uns, die herrliche Glocke aber, die er uns geschenkt, entzückt noch heute durch ihren wundersamen Klang, und die, welche sie hören, gedenken mit Liebe und Ehrfurcht des großen Glockengießers. Gar viele haben sich seitdem bemüht, die Meisterglocke nachzubilden. Die Mischung des edlen Metalles war und blieb aber Geheimnis des großen Meisters ... Der Schreiber dieser Zeilen hat viele Glocken gehört, die jener nachgebildet, manche mit häßlichem, unreinen Ton, manche mit angenehmem Geläut, wenn auch der Wunderklang der Meisterglocke unerreicht blieb."

Form-Nachbildungen nennt Schaefer die Parodien der Glocke aus dem 19. Jahrhundert; zu Recht. Man könnte auch von Aneignungen, Vereinnahmungen oder Indienstnahmen sprechen. Denn weitaus die meisten Glocke-Parodien sind in der Tat Imitationen: Sie übernehmen die charakteristische Form des Vorbildes - den Wechsel von ,Arbeitsstrophen', in denen der Produktionsprozess der Glocke nachvollzogen wird, und ,Betrachtungsstrophen', in denen "muntere Reden" über die menschlichen Verhältnisse die Arbeit begleiten - und tauschen lediglich das Produkt aus.

An die Stelle der Glocke und ihres Gusses treten auf diese Weise andere Produkte mit ihrer Herstellung und den entsprechenden Berufstätigkeiten. So gibt es das Lied vom Brot und von der Sandtorte, vom Kaffee, vom Punsch und vom Bier, von der Wurst und vom Schweineschlachten, das Lied von der Arbeit des Drechslers und des Uhrmachers, des Apothekers und des Photographen, des Buchhändlers, des Juristen und sogar des Gynäkologen als Geburtshelfer - um hier nur einige der imitierenden Parodien zu nennen.

Auf heitere und unterhaltsame, aber auch auf lehrreiche Weise wenden die Autoren dieser Parodien Schillers Vorlage auf ihre eigenen Verhältnisse an; sie bedienen sich des berühmten Vorbilds zu ihren eigenen Zwecken, partizipieren gewissermaßen an dessen Würde und Volkstümlichkeit.

Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts ist allerdings eine zunehmende Politisierung und Ideologisierung der Parodien zu erkennen. Im Umkreis des Vormärz finden sich in der Form von Glocke-Parodien leidenschaftliche Plädoyers für die Freiheit der Presse:

"Wirkungsreich in allen Landen

Ist der Presse weise Macht,

Wenn, befreit aus engen Banden,

Sie des Staates Wohl bewacht!

Wirkt das freie Wort

In den Schriften fort,

Dann erst kann der Staat gedeihen,

Dann gehört er zu den freien."

Immer konkreter beziehen sich die Parodien auf politische und parlamentarische Verhältnisse und Regierungsformen, auf ideologische und kriegerische Auseinandersetzungen. Mit Schiller wird gleichsam Politik gemacht und Krieg geführt; er wird für nationalistische Agitation, für den Kreuzzug gegen den Islam und sogar für einen wütenden Antisemitismus in Anspruch genommen. Statt auf den Friedensklang der Glocke, in den Schillers Gedicht einmündet, hört man mehr und mehr auf die Sprache der Kanonen:

"Nehmet Holz vom Stamm der Eiche,

Grober Klotz will groben Keil,

Spart für fein'ren Guß das Weiche,

Uns're Rüstung fordert Eil.

Wortstreit hilft nicht mehr,

Rasch Kanonen her!

Laßt uns mit den Allzufrechen

Ernsthaft mit Kartätschen sprechen!"

Nicht mehr die Glocke, sondern die Kanone sei "das echte Kind der Zeit und der Nation", heißt es dann 1881 im Vorwort zu einem anderen Lied von der Kanone von M. Reymond: "Für den ernsten Brummbaß der Kanone sei darum Schillers unsterbliches Lied transponiert. Die wichtigste Aufgabe der Gegenwart ist die militärische Erziehung der Nation; diesem Zwecke soll das ,Lied von der Kanone' zum Heile des Vaterlandes dienen."

Dementsprechend werden in oft enger Anlehnung an die Vorlage der Herstellungsprozess der Kanone, ihre Ausstattung, ihre Einsatzmöglichkeiten und ihre Wirkungen im Krieg dargestellt, mit Szenen aus dem Soldatenleben kombiniert und mit ausführlichen, stets sachlichen Erläuterungen im separaten Anmerkungsteil versehen. Das Ganze liest sich wie eine Einübung in stramm nationales und militärisches Verhalten und in unverdrossenen kaisertreuen Untertanengeist, wie die folgende Aktualisierung von Schillers Versen über die Selbstbefreiung der Völker zeigen kann:

"Nur durch die Macht der Staatsgewalten

Kann sich das Völkerglück gestalten;

Jedoch durch Revolution

Entstehet nichts als Konfusion.

Weh, wenn das Volk zerreißt die Kette,

Die das Gesetz ihm auferlegt,

Und selbst der Wink der Bajonette

Es nimmer zur Vernunft bewegt!

Wenn Weiber frech die Zähne fletschen

Dem sonst geliebten Militär!

Dann läßt sich nur noch mit Kartätschen

Die Ordnung wieder stellen her.

Drum hasst, getreu dem Regimente,

Das pünktlich ihm den Sold bezahlt,

Der Krieger all' die Elemente

Die feindlich sind der Staatsgewalt.

Gefährlich sind die Liberalen,

Bedenklich jeder Civilist,

Jedoch der Schrecklichste von allen,

Das ist der rothe Socialist."

Im Ersten Weltkrieg kam Schillers Glocke als Kriegs-propaganda-Instrument zum Einsatz. In der Leipziger Verlagsanstalt Vogel & Vogel, die auf solche Kriegsliteratur spezialisiert war, erschien 1916 zum Preis von zehn Pfennigen, reich illustriert, als separates Heftchen die Darstellung des Lebens der Soldaten Im Unterstand, eine - wie es im Untertitel heißt - "Zeitgemässe Schilderung aus dem Leben unserer Feldgrauen - Frei nach dem Gedicht: ,Die Glocke' von Friedr. v. Schiller" von einem Autor namens Arthur Wohlgemuth. Die ,Arbeitsstrophen' begleiten den Bau des Unterstandes, die ,Betrachtungsstrophen' gelten den Kriegsvorbereitungen, den militärischen Übungen der Soldaten und ihrem Leben im Feld, während der Schlacht und im Urlaub. Das Ganze dient durchaus der politischen Rechtfertigung des Krieges und der agitatorischen Steigerung der Wehrkraft der Soldaten und der Daheimgebliebenen:

"Heute sind wir, Hoch und Nieder,

Nur noch Deutsche, nur noch Brüder!

Lassen wir uns nicht verblenden.

Durch Erfahrung langer Jahre

Uns bewahre

Deutsche Treue! Im Vertrauen

Wir auf Reich und Kaiser bauen.

Wenn's auch uns're Feinde lüstet,

Nach dem alten deutschen Rhein,

Kommt! Ihr findet uns gerüstet."

Illusionslos wird das Schlachtgeschehen unter Einsatz der damals modernen technischen Mittel wiedergegeben, und am Ende, als der Bau des Unterstandes fertiggestellt und auf den Namen "Zur Eintracht" getauft werden soll, heißt es unter Berufung auf Schiller:

"Herbei, herbei!

Kameraden alle! Stellt Euch ein,

Wir weihen jetzt die Hütte ein.

,Zur Eintracht' soll ihr Name sein.

Ein jeder hier zu der Gemeinde

Gehört, wer hilfsbedürftig, Freund und Feinde.

Und dies sei fortan sein Beruf,

Wozu den Unterstand man schuf:

Tief unten hier im Schützengraben

Gelt' er als Deckung uns zumeist,

Musss jemand etwas Ruhe haben,

Man ihn zum Unterstande weist.

Und wenn ein Arzt mit ernsten Mienen,

Bringt einen schwerverletzten Mann,

Schnell soll er als Verbandplatz dienen,

Bis man dem weiter helfen kann.

Für Munition und für die Nahrung,

Bekleidung, Waffenmaterial,

Dien' er zugleich als Aufbewahrung,

Als Speise-, Schreib- und Lesesaal.

So nützet zu gar vielen Dingen,

Der neu erbaute Unterstand.

Heil! Daß uns konnt' dies Werk gelingen!

Heil Kaiser! Heil dem Vaterland!"

Propaganda dieser Art begleitete den Ersten Weltkrieg bis zu seinem Ende. Zu seiner Finanzierung wurde das Volk über Kriegsanleihen zur Kasse gebeten und Schiller in die Pflicht genommen, wie das von einem S. H. Cramer verfasste und "Unserm herrlichen Generalfeldmarschall von Hindenburg zum 70. Geburtstag in Ehrfurcht und Verehrung dankerfüllt" gewidmete Lied von der siebten Kriegsanleihe zeigt, die im Oktober 1917 aufgelegt wurde und 12,5 Milliarden Reichsmark einbrachte:

"Fest gemauert in der Erden

Steht die Front in West und Ost,

Und zu Trümmern sieht man werden

Alles, wo der Sturm getost.

Darum sei betont,

Daß das Land verschont!

Unsern Hindenburg wir loben,

Der uns schützt nächst Gott dort droben.

Zur Kriegsanleihe Nummer 7

Geziemt sich wohl ein ernstes Wort,

Denn trotzdem wir stets Sieger blieben,

Setzt doch der Feind das Ringen fort.

So laßt uns jetzt mit Fleiß betrachten,

Was durch die Kriegsanleih' gelingt,

Den deutschen Mann muß man verachten,

Der willig nicht sein Opfer bringt.

Das ist's ja was den Deutschen zieret,

Daß stolz und froh mit Herz und Hand,

Von seinem Kaiser angeführet,

Er kämpfet für sein Vaterland."

Unzweifelhaft wird Schillers Lied von der Glocke missbraucht, wenn es zur Propaganda eingesetzt wird. Andererseits gehören nicht nur die Versuche, Schiller verehrungsvoll zu bestätigen, sondern auch die Missverständnisse und Missbräuche zu der Geschichte seiner Wirkung, an deren Wege und Irrwege gerade in den ?Schillerjahren' erinnert werden sollte im fortdauernden Bemühen um eine historisch angemessenere und verantwortungsvollere Lektüre von Schillers berühmtem Gedicht.


Wulf Segebrecht arbeitet als Literaturwissenschaftler in Bamberg. Dieser Tage hat er im Carl Hanser Verlag ein Buch "Was Schillers Glocke geschlagen hat" eben zum diesem Thema veröffentlicht.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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