Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 16 / 18.04.2005
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Peter Dudek

Dringende Korrektur im Bildungssystem

Ganztagsschulen und Kindertagesstätten

Über Bildungspolitik und Bildungsreformen in Deutschland zu sprechen war und ist ein Unterfangen, bei dem man sicher sein konnte, dass es Kontroversen auslöst und Ideologen jeglicher Couleur auf den Plan ruft, die am Ende sich in der Bestätigung ihrer eigenen parteipolitischen Vor-Urteile gefielen. Durch die ernüchternden Ergebnisse der zahlreichen nationalen und internationalen Vergleichsstudien sind nun aber nicht nur die Bildungspolitiker gezwungen worden, über den deutschen nationalstaatlichen und den föderalistischen Tellerrand hinauszublicken, um notwendige Reformen im Bildungssystem anzuschieben.

Die Liste der Reformvorschläge ist über Partei- und Ländergrenzen hinweg lang, zugleich häufig widersprüchlich und keineswegs kostenneutral zu realisieren. Das "Turbo-Abitur" etwa will Zeit einsparen; die gleichzeitigen kultusministeriellen Bemühungen, fächerübergreifendes Lernen zu stärken, kosten aber Zeit - das passt nicht zusammen. Zentralisierte Abschlussprüfungen im Haupt-, Real- und Gymnasialbereich mögen Vergleichbarkeitsmöglichkeiten zwischen Schulen und Ländergrenzen erhöhen, ob sie aber wirklich zu einer Qualitätssteigerung der Abschlüsse führen, ist keineswegs gesichert.

Aus der Vielzahl der Reformvorschläge kristallisieren sich gegenwärtig parteiübergreifend zwei Schwerpunkte heraus, an denen intensiv gearbeitet wird: zum einen der Ausbau des schulischen Ganztagsangebotes, zum anderen intensivere Anstrengungen, die vorschulische Betreuung stärker in Richtung Schulfähigkeit auszurichten. Diese Wege denken beide Neuerscheinungen weiter.

Das "Jahrbuch Ganztagsschule 2005" widmet sich dem Leitthema "Investitionen in die Zukunft". Es versammelt eine Reihe von Analysen, Praxisberichten, Stellungnahmen und Anregungen zu weiteren Realisierungsansätzen dieses Schulformangebotes, das von Bund und Ländern nun endlich finanziell unterstützt wird und auch bildungspolitisch gewollt ist. Dabei verlagert der Band im Vergleich zum letzten Jahrbuch die Perspektive von der bislang intensiv diskutierten Ganztagsschulkonzeption hin zu verschiedenen Feldern, welche die Struktur von ganztägigen Schulen weiterentwickeln helfen können:

Nun geht es um die Verbesserung der Schüler- und Lehrermotivation, um die Einbeziehung der Eltern und schulnaher Vereine in die schulische Arbeit, um die Pflege eines kooperativen Schulklimas, die Gestaltung zweckmäßiger Schulbauten, um die Aufnahme von Themen zur ganztägigen Bildung und Erziehung in die Lehrerausbildung, um die Verarbeitung der Einflüsse von "heimlichen Miterziehern" oder um den Blick auf Ganztagsschulen aus ökonomischer Sicht.

Das Jahrbuch bezieht einschlägige Erfahrungen aus Österreich und der Schweiz mit ein, informiert über ganztägige Bildungssysteme in Frankreich, Finnland und den Niederlanden und gönnt sich einen Rückblick auf die Ganztagsschule in der DDR. Für Leser, die sich näher mit der Problematik der Ganztagsschulen befassen wollen, enthält der Anhang die Kontaktadressen der Landesverbände und des Bundesverbandes des "Ganztagsschulverbandes GGT e.V."

Es gelte, so die Herausgeber, den "PISA-Lag" zu überwinden und zu erkennen, dass eine traditionell arbeitende Schule nicht mehr den Anforderungen einer veränderten Arbeitswelt und den Erwartungen unserer Gesellschaft entspricht. Die von der Bundesregierung angestoßenen Ganztagsschulen sollen eine Antwort auf die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse sein, das Jahrbuch möchte diese Antwort reflexiv begleiten und mitgestalten.

Wollen Ganztagsschulen die pädagogische Betreuungspraxis zeitlich ausdehnen, um einer zunehmend veränderten Familienkonstellation gerecht zu werden, so sollen künftig die "Kindertagesstätten" ihre vorschulischen und auf die Schule vorbereitenden Funktionen energisch intensivieren. Auch hier gibt es viele unerledigte Problemen und Aufgaben. Die Autoren des von Gerlinde Lill besorgten Sammelbandes greifen sie auf und diskutieren produktive Vorschläge.

Gleichzeitig wirft das Buch auch Fragen auf, - Fragen danach, ob es Kindheit als unbeschwertes Moratorium im 21. Jahrhundert noch gibt oder ob Kindheit nach PISA zu "Fit machen für Schule und Leistung" retardiert. So extrem wollen es die Autorinnen des Bandes natürlich nicht. Sie sind mit Ausnahme der Herausgeberin und eines Autors Leiterinnen und Erzieherinnen aus Kindertageseinrichtungen der Stadt Bielefeld sowie einschlägige Fachberaterinnen.

Das Buch ist die Dokumentation eines gemeinsamen Lern- und Reformprozesses. Dabei steht die Überzeugung im Mittelpunkt, dass Kindertagesstätten wichtige Bildungseinrichtungen sind. Vor diesem Hintergrund haben 43 Kindergärten in Bielefeld versucht, ihre Bildungsangebote zu verändern und zu erweitern. Sie haben 13 "Bildungspakete" entwickelt, die allen städtischen Kindertagesstätten in Bielefeld zur Verfügung stehen.

Diese Bildungspakete sind in Form von Erfahrungsberichten geschrieben, skizzieren also den Alltag der Bildungspraxis in Form konkreter Projektberichte, welche die Erzieherinnen mit den Kindern ihrer Einrichtungen durchgeführt haben. Sie handeln von Besuchen im Rathaus, von Körper- und Sinneserfahrungen, von Kunst und Gestaltung, vom Umgang mit dem Computer im Gruppenalltag, von Naturbegegnungen oder der Realisierung kleinerer naturwissenschaftlicher Experimente. Unterschiedliche Kulturen, Religion und Ethik, Sport und Bewegung sowie das Wohnumfeld sind weitere Projektbereiche, die in dem Band vorgestellt werden.

Anregend sind diese Berichte allemal und eine alltagsnahe, nützliche Orientierungshilfe für die in der Vorschulpädagogik tätigen Erzieherinnen. Man findet reichlich Anregungen für die eigene Praxis vor Ort.


Stefan Appel / Harald Ludwig / Ulrich Rother /Georg Rutz (Hrsg.)

Jahrbuch Ganztagsschule 2005.

Investitionen in die Zukunft.

Wochenschau-Verlag, Bad Schwalbach 2004, 247 S., 24, 80 Euro


Gerlinde Lill (Hrsg.)

Bildungswerkstatt Kita.

Bildungsmöglichkeiten im Alltag entdecken.

Beltz-Verlag, Weinheim/Basel 2004; 244 S., 19, 90 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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