Der erste Kelch ging an Hans Eichel vorüber: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, dass die Erben der zwischen 1945 und 1949 in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) enteigneten 7.000 Großgrundbesitzer keinen Anspruch auf Rückgabe dieses Besitzes haben. Zahlungen von schätzungsweise bis zu zehn Milliarden Euro bleiben Eichel erspart. Doch in Straßburg schwebt über dem Finanzminister ein anderes Damoklesschwert: Entschädigungen in Milliardenhöhe könnten fällig werden, wenn jetzt auch die Erben der sogenannten "Neubauern" entschädigt werden müssten.
Den "Neubauern" waren nach 1945 die östlich der Elbe konfiszierten Ländereien der "Junker" zugeteilt worden. Zahlungen in Milliardenhöhe würden fällig, sofern die Europarats-Richter jetzt zugunsten der nach der Wiedervereinigung enteigneten Erben dieser "Neubauern" votieren sollten.
In erster Instanz haben diese Kläger in Straßburg bereits gewonnen. Ein weiteres Urteil wird bis zum Sommer erwartet. Innerdeutsche historische Rechtsstreitigkeiten von politischer Brisanz werden also zuletzt von einem internationalen Gerichtshof entschieden - was durchaus eine pikante Note hat. Juristisch werden die "rote Enteignung" in der Nachkriegszeit und die "schwarze Enteignung" in den Neunzigern, die auf einem unter CDU-Kanzler Helmut Kohl verabschiedeten Gesetz beruht, in Straßburg getrennt behandelt. Gleichwohl hängen die Dinge natürlich zusammen, schließlich wurden die unter der Parole "Junkerland in Bauernhand" konfiszierten Äcker und Wälder der Großgrundbesitzer Vertriebenen und kleinen Landwirten als Neubauern zugeteilt - deren Land dann in der DDR meist in Genossenschaften bewirtschaftet wurde. Die bereits etwas betagten Erben der Neubauern haben die Mechanismen der Mediengesellschaft gelernt: Bei den Verhandlungen in Straßburg reckten sie vor dem Gerichtshof Plakate mit dem Slogan "Keine entschädigungslose Enteignung von Bodenreform-Erben" vor allem wegen der vielen TV-Kameras in die Höhe.
Hans Eichel und den ostdeutschen Finanzministern war im Januar 2004 der Schreck in die Glieder gefahren: Entgegen den Erwartungen befand eine Kammer der Europarats-Richter, dass die entschädigungslos enteigneten Erben von Neubauern Anspruch auf staatliche Ausgleichszahlungen haben. Erfolgreich geklagt gegen diese 1992 vom Bundestag beschlossenen und später vom Karlsruher Verfassungsgericht gebilligten Konfiszierungen hatten fünf Betroffene. Insgesamt sollen jedoch um 700.00 Einzelfälle davon betroffen sein - anders ausgedrückt sind rund 100.000 Hektar Land strittig. Nach dem Vermögensrechtsänderungsgesetz von 1992 hatten jene Neubauern-Erben, die ihrerseits nicht in der Land- und Fortwirtschaft tätig waren, die Grundstücke entschädigungslos an den Staat abzutreten. Freilich war im März 1990 zu Wendezeiten unter DDR-Ministerpräsident Hans Modrow ein Gesetz verabschiedet worden, nach dem das sogenannte Bodenreformland der Nachkriegszeit juristisch endgültig als vollwertiges Eigentum der neuen Besitzer eingestuft wurde - und damit ohne Einschränkung vererbt werden konnte.
Die Europarats-Richter argumentierten in ihrem aufsehenerregenden Urteil, der Bundestag habe nach der Wiedervereinigung zwar die Enteignung von Neubauern-Land verfügen dürfen. Eine entschädigungslose Konfiszierung widerspreche jedoch der in der Menschenrechtscharta des Europarats verankerten Eigentumsgarantie. Über die Höhe des im Einzelfall vom Staat zu leistenden Ausgleichs wurden in der Straßburger Entscheidung keine konkreten Angaben gemacht. Schätzungen gehen von Beiträgen zwischen einer und drei Milliarden Euro aus. Angesichts der rechtlichen Grundsatzfragen und der massiven finanziellen Konsequenzen des Urteils legte Berlin Widerspruch ein. Nun brütet die Große Kammer des Gerichtshofs unter Präsident Luzius Wildhaber (Schweiz) persönlich über dem heiklen Dossier. Die Bundesregierung argumentiert, zu DDR-Zeiten sei Bodenreformland wieder an den Staat zurückgefallen, wenn es nicht mehr landwirtschaftlich genutzt worden sei. Aus Sicht Berlins sind die Folgen des Modrow-Gesetzes vom März 1990, das alle Grundstücke diese Art unter das volle Eigentums- und Vererbungsrecht gestellt hat, teilweise inakzeptabel: Wer nicht im Agrarsektor beruflich tätig war, sei als Erbe entgegen der früheren DDR-Praxis zufällig, versehentlich und damit unrechtmäßig zu Vermögen gelangt. Im Namen der Bundesregierung deklinierte Jochen Frowein, Ex-Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht, bei der letzten Verhandlung in Straßburg diesen Standpunkt in allen juristischen Details durch.
Beate Grün, Anwältin der Kläger, hält mit ihrer Interpretation des DDR-Rechts dagegen: Schon vor dem Modrow-Gesetz habe für Bodenreformland das Erbrecht gegolten, ein solcher Besitz dürfe mithin nicht ohne Entschädigung eingezogen werden. Kollege Thorsten Purps wirft der deutschen Regierung vor, 70.000 betroffene Erben "kollektiv zu kriminalisieren", weil sie im Nachgang des Modrow-Gesetzes Vermögen angeblich illegitim erworben hätten: "Dazu sage ich nein, nein und nochmals nein." Mit der "J'accuse"-Attitüde ritt Grün bei der Verhandlung in Straßburg deftige Attacken. Die entschädigungslose Konfiszierung stelle "krassestes Unrecht" dar: "Der Staat verhält sich wie ein Räuber, der seine Beute versteckt und verteidigt." Die Argumentation Berlins sei ein "Konglomerat aus Erdichtungen, Erfindungen und Verrrenkungen", empört sich die Anwältin, "Hauptsache, die Kasse stimmt".
Sollten die Neubauern-Erben in Straßburg auch in zweiter Instanz siegen, würden sich neue brisante Fragen stellen: Wer müsste die Entschädigungen an die Betroffenen überweisen? Die Bundesregierung, weil die Enteignungen auf einem Bundesgesetz von 1992 beruhen? Oder die neuen Länder, die gratis in den Besitz der Grundstücke gelangt sind? Politischer Streit wäre auf jeden Fall programmiert.
(AZ beim Menschenrechtsgerichtshof: 46720/99, 72203/01 und 72552/01)