Kurz nach Kriegsbeginn entwarf Hitler im Deutschen Reichstag "eine neue Ordnung der ethnografischen Verhältnisse" mit dem Ziel, "auf diese Weise wenigstens einen Teil der europäischen Konfliktstoffe zu beseitigen". Weiter kündigte er an: "In diesem Zusammenhang" sei auch "der Versuch einer Ordnung und Regelung des jüdischen Problems" zu unternehmen - und zwar in ganz Europa. Den Ausgangspunkt der Hitler-Rede bildete das Heim-ins-Reich von mehreren Hunderttausend Deutschstämmigen.
Die Rede zielte auf das allgemeine politische Denken der Zeit. Polen hatte 1938 mit Frankreich darüber verhandelt, die Juden des Landes in Madagaskar anzusiedeln; Ungarn hatte im Frühjahr 1939 ein antisemitisches Gesetz erlassen, das die Regierung ermächtigte, "die Auswanderung der Juden zu begünstigen". Kein Wunder, dass sich der ungarische Reichsverweser Horthy für die Umsiedlungsinitiative begeisterte: "Ihre Absicht, die deutschen Minderheiten in ihre Urheimat umzusiedeln", schrieb er an Hitler, "regelt eine Menge Fragen, verhütet Reibungen und es sollte dieser ausgezeichnete Gedanke auf andere Minderheiten Anwendung finden." Im Hinblick auf die geplante Umsiedlung der Südtiroler hob die "Neue Zürcher Zeitung" die "wohltätige Wirkung" solcher zunächst zwar "bitteren, aber verheißungsvollen" Maßnahmen hervor. Italien hatte bereits vor dem Zweiten Weltkrieg einen kleinen Umsiedlungsvertrag mit Jugoslawien geschlossen, das seinerseits schon länger jugoslawische Muslime in die Türkei "rücksiedelte". Mitte September 1939 forderte die Pariser "L' Epoque" für die Zeit nach einem französisch-britischen Siegfrieden: "Es wird notwendig sein, eine massenhafte und vollkommene Austreibung von Elementen einer fremden Minderheit durchzuführen."
In der Tat erklärt sich auch das 1945 geschlossene Potsdamer Abkommen als Produkt einer europäischen Denkschule, die - bei aller Unterschiedlichkeit in den Methoden - eine fortschreitende, notfalls gewaltsame ethnische und soziale Homogenisierung der europäischen Staaten der historisch gewachsenen Heterogenität vorzog. Die Abmachungen der alliierten Siegermächte von 1945 übernahmen die bevölkerungspolitischen Ergebnisse des Hitler-Stalin-Paktes still- schweigend und zielten mit der offenen oder indirekten Förderung des massenhaften Umsiedelns von Deutschen, Polen, Slowaken, Wolgatschechen, Ukrainern, Italienern oder Ungarn auf die ethnographische Nachkorrektur der Pariser Friedensordnung von 1919/20. Von einigen Resten auf dem Balkan oder auf Zypern abgesehen, hatten sich die Europäer bis 1948 so klar nach ethnischen Kriterien geschieden wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Sie reduzierten sich auf homogene Staatsvölker um den Preis nachhaltiger Depotenzierung und kultureller Selbstzerstörung.
Es besteht kein Anlass zu der geschichtsoptimistischen Annahme, für diese Entwicklung seien allein die totalitären Staaten maßgebend gewesen. Es war beispielsweise das republikanische Frankreich, das 1918/19 zur Selektion der Bevölkerung des wiedergewonnenen Elsass die Kriterien erfand, die später die so genannte Deutsche Volksliste in den annektierten Gebieten Polens auszeichneten. 1923 folgte der unter Führung von Frankreich und England verhandelte Lausanner Vertrag als das erste große Beispiel der wechselseitigen völkischen Homogenisierung, der den griechisch-türkischen Krieg mit dem zwangsweisen Bevölkerungsaustausch beendete. Er wird bis heute als "Erfolgsgeschichte" verklärt, doch war im nationalgriechischen Selbstverständnis die Hellenisierung des griechischen Nordens erst mit dem Verschwinden der Juden von Saloniki im Frühjahr 1943 wirklich abgeschlossen. 1947/48 initiierte die weichende britische Kolonialmacht den nach religiösen Kriterien vollzogenen Bevölkerungstransfer zwischen dem später pakistanischen und dem indischen Staat. Unter dem von englischen Strategen erdachten Codewort "Aktion Balkan" entwurzelte das Vertreibungsprojekt zwölf Millionen Menschen und forderte weit mehr als eine Million Todesopfer.
Der Begriff "Arisierung" war 1925 noch unbekannt, während die Enteignungsvokabeln "Tschechisierung", "Polonisierung", "Romanisierung", "Hellenisierung", "Lettisierung" bereits hohe Popularität genossen. Vielerorts hatten die nach 1918 neu entstandenen Nationalregierungen die Notwendigkeit zur Landreform und den Kampf gegen die Massenarmut mit der Politik gegen Minderheiten verknüpft. In Rumänien standen bevorzugt die Besitztümer von Russen, Bulgaren, Türken und Ungarn zur Disposition, wenn es darum ging, den ländlichen Tagelöhnern und Saisonarbeitern mit kleinen Landzuweisungen aufzuhelfen. In den neu geschaffenen baltischen Republiken wurden deutsche, russische und polnische Grundbesitzer enteignet. Überall wurden jüdische Gewerbetreibende gezwungen, die Sonntagsruhe einzuhalten und den christlichen Konkurrenten am Samstag zusätzliche Chancen eröffnet. In Warschau vermittelte das Arbeitsamt 1938 Juden, die schon früh morgens vor dem Arbeitsamt warteten, erst von 14.00 Uhr an - auch das nur dann, wenn zuvor die christlichen Arbeitssuchenden angefordert worden waren.
Das Diskriminieren und Enteignen von Minderheiten, Antisemitismus, Terror und Abwanderungsdruck im Namen der nationalen Gerechtigkeit waren Teile des europäischen nation-building in der Zwischenkriegszeit. Auch deshalb war die spätere deutsche Politik des Entrechtens und Deportierens der Juden in nicht wenigen europäischen Ländern populär oder ließen viele der Angehörigen des so genannten Staatsvolkes gleichgültig. Im November 1945 resümierte die katholische Warschauer Zeitung "Tygodnik Warszawski" trocken die demografischen Folgen des Judenmords: "In Massen verschwanden die von den Deutschen ermordeten Juden. Im heutigen Polen sind nicht nur die Dörfer, sondern auch die Städte rein polnisch. Wir verwandelten uns aus einem Vielvölkerstaat in einen Nationalstaat mit einer einheitlichen polnischen Bevölkerung. Das Nachkriegspolen hat eine geringere Bevölkerung, aber dafür eine kompaktere, die fähig ist, sich ganz mit dem Staat zu identifizieren. Darin liegt unsere Kraft."
Während in Westungarn im März 1945 noch jüdisches Eigentum an notleidende ungarische Flüchtlinge verteilt wurde, ordnete die bereits installierte Provisorische Ungarische Nationalregierung in Debrecen die Enteignung der Deutschen an. Ausgeführt wurde sie von denselben Beamten, die eben die Juden enteignet hatten.
Die Vorstellung die "Endlösung der Judenfrage" in Gestalt einer allein von Deutschen gesteuerten Vernichtungswalze über ein prinzipiell wehrloses Europa hinweggerast, ist falsch. In Holland gelang es den Deutschen fast alle Juden zu deportieren, in Belgien wurden 50 Prozent der jüdischen Bevölkerung gerettet. Das besetzte Frankreich enteignete die Juden in eigener Regie, aber es bewahrte fast alle assimilierten französischen Juden vor der Fahrt nach Auschwitz. Gleichzeitig lieferte es die nicht-assimilierten Ostjuden aus - etwa 25 Prozent der Juden Frankreichs -, die nach 1918 als Arbeitsmigranten, Staatenlose und Flüchtlinge zugewandert waren. Vor den Deportationen hatte der deutsche Botschafter in Paris geraten: "Ähnlich wie in Deutschland speist sich der Antisemitismus auch in Frankreich aus der Zuwanderung von Juden fremder Staatsangehörigkeit. Es wird deshalb psychologisch in den breiten Massen des französischen Volkes wirksam sein, wenn die Evakuierungsmaßnahmen zunächst einmal derartige fremdländische Juden erfassen ..."
Die Slowakei, Griechenland, Bulgarien, Rumänien und Ungarn besaßen die Macht, zu bestimmten Zeitpunkten die Mitwirkung an weiteren Judendeportationen zu verweigern. Das schränkte die Möglichkeiten der Deutschen weitere Deportationen durchzusetzen - sei es in Athen, in Bratislava oder Budapest -, erheblich ein oder machten sie unmöglich. In jedem Land mussten die deutschen Besatzer ihr Projekt zur "Endlösung" politisch neu implementieren. Überall waren die Bedingungen unterschiedlich. Überall hatten die unterworfenen Völker, die regionalen und lokalen einheimischen Verwaltungen die Wahl zwischen Widerstand und Kooperation.
Nirgendwo sonst auf der Welt führte das Konzept "ethnische Homogenisierung" zum Bau von Vernichtungslagern, die sich auch nur entfernt mit Treblinka und Auschwitz vergleichen lassen. Es blieb Deutschland vorbehalten, eine bis dahin unvorstellbare Maschinerie von Bevölkerungsverschiebung, Deportationen und Massenmorden in Gang zu setzen. Die "Selektion" kannte in dieser Konzeption keine innere Grenze. Sie war auf Permanenz angelegt. Die Schuld und die zentrale organisatorische und politische Verantwortung der Deutschen sind unzweifelhaft, nichts daran ist zu revidieren. Der Holocaust konnte sich auf kein historisches Vorbild stützen. Aber als äußerster, extremster Fall gehört er in den Kontext der ethnischen Entmischung Europas. Er kann nur verstanden werden, wenn er als Teil der deutschen und der europäischen Geschichte analysiert wird. Es war der französische Staatspräsident Jacques Chirac, der sich in diesem Jahr, aus Anlass des 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zu dieser Einsicht bekannte.
Götz Aly, Historiker und Publizist, hat zurzeit eine
Gastprofessur für interdisziplinäre Holocaustforschung am
Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main inne.