Die Woge der Globalisierung wird alle, die großen Tanker wie die kleinen Boote, emporheben. Liberalisierung bringt Wachstum, und Wachstum bringt Wohlstand für alle. Das war der Tenor, mit dem dem Süden vor zwei Jahrzehnten die große Wende versprochen wurde. Ein neues Paradigma war auf den Plan getreten. Seine Protagonisten verkündeten, man müsse nur den Einfluss des Staates zurückdrängen, private Unternehmen stärker Zuge kommen lassen, umfassend liberalisieren und deregulieren, dann würde der Markt es schon richten. Dieses Weltbild, das neoliberale, wurde hegemonial und zur Richtschnur der Globalisierung. Die Transnationalisierung von Märkten und Kommunikation - der Kern dessen also, was Globalisierung ausmacht - wurde von dem neuen Leitbild strukturiert.
Armut ist kein Randproblem
Als dann in den frühen 90er-Jahren die privaten Finanzströme in den Süden rasant anstiegen, schienen sich die Versprechungen auch empirisch zu bestätigen. Die Wachstumsraten in einigen emerging markets, vorneweg China, waren enorm. Aber Wachstum per se heißt noch nicht Entwicklung. Es kommt darauf an, dass die Verteilungsmechanismen funktionieren und die ökonomisch verwundbaren und sozial schwachen Schichten von den Wachstumseffekten erreicht werden. Genau dies ist nach mehr als zwei Jahrzehnten neoliberaler Globalisierung nicht der Fall.
Im Gegenteil: 1,2 Milliarden Menschen müssen von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben. Dies bedeutet ständigen Kampf ums physische Überleben, keine medizinische Versorgung, keinen Zugang zu Bildung, sauberem Wasser und sicheren sanitären Einrichtungen. Aber auch das doppelte Einkommen bedeutet noch immer Armut. Weitere 1,6 Milliarden Menschen müssen mit weniger als 2 Dollar auskommen. Insgesamt leben also 2,8 Milliarden Menschen in absoluter Armut - 45 Prozent der Weltbevölkerung.
Doch wäre auch mit dieser Zahl das Problem noch immer nicht adäquat erfasst. So ist es in der Armutsforschung Konsens, dass Armut nicht nur zum physischen Existenzminimum in Relation zu setzen ist, sondern auch zum sozialen und kulturellen Gesamtzusammenhang einer Gesellschaft. "Armut wird als auf einen mittleren Lebensstandard bezogene Benachteiligung aufgefasst." Man spricht dann von relativer Armut. Legt man diese Definition zugrunde, lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Armut, darunter ein wachsender Anteil in den Industrieländern.
"Armut inmitten von Überfluss ist die größte Herausforderung für die Welt," so Weltbankchef Wolfensohn. Die neoliberalen Rezepte haben vor dem Problem vollständig versagt. Dem "Washington Konsens" bescheinigt inzwischen daher auch das BMZ: "Leider brachte dieser Ansatz in den meisten Fällen nicht den Erfolg, der erhofft worden war."
Umverteilungsmaschine
Es wäre verkürzt, Armut allein auf die neoliberal dominierte Globalisierung zurückzuführen. Armut hat komplexe Ursachen. Da gibt es endogene, zum Teil historisch tief verwurzelte Faktoren sowie Schwächen des politischen Systems. Aber die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen spielen eine immer größere Rolle. Dies gilt umso mehr, je weiter ein Land in die globale Ökonomie integriert ist. Gerade die Globalisierung hat die Entwicklungsländer verwundbarer gegenüber externen Schocks gemacht.
Sie hat deshalb dazu geführt, dass die soziale Polarisierung zwischen Nord und Süd sowie innerhalb der Gesellschaften zwischen unten und oben sich verschärft hat. Während der Abstand im Bruttoinlandsprodukt zwischen Nord und Süd 1960 nur bei 1:30 lag, betrug er 1990 1:60, das heißt, er hat sich in diesem Zeitraum verdoppelt. Von 1990 bis 1997, in der Hochzeit der Globalisierung, beschleunigte sich das Auseinanderdriften noch einmal auf 1:74. Unter entwicklungspolitischer Perspektive wirkt die Globalisierung als gigantische Umverteilungsmaschine.
Infolge der Deregulierung des Finanzsektors nach Ende des Systems der festen Wechselkurse 1973 haben die Volatilität und systemische Instabilität des Finanzsystems drastisch zugenommen. Dies führt immer häufiger und in immer kürzeren Abständen zu Crashs - 1994 Mexiko, Südostasien 1997/98, 1999 Brasilien und Russland, 2001 Türkei und Argentinien - durch die über Nacht Entwicklungsanstrengungen von Jahren zunichte gemacht werden.
Aber auch ohne krisenhafte Entwicklung verursacht das quasi "normale" Funktionieren der Finanzmärkte Probleme für Entwicklungsländer: Die Abhängigkeit von externer Finanzierung und das Drohpotential der Finanzmarktakteure, ihr Kapital jederzeit abziehen zu können, hat den Regierungen die Zins- und Wechselkurshoheit aus der Hand genommen. "Als Resultat der erweiterten Exit-Option, die das Kapital genießt", stellt der ehemalige Chefökonom der UNCTAD fest, "ist die Politik der Regierungen jetzt zur Geisel der Finanzmärkte geworden." Die Volatilität der Wechselkurse führt zu ständigem Schwanken in der Schuldendienstzahlung und zu deren Unberechenbarkeit, die Absicherung des Handels gegen die Wechselkursrisiken verteuert Importe und Exporte, zur Absicherung der Außenwirtschaftsbeziehungen sind Entwicklungsländer gezwungen, hohe Währungsreserven zu halten und zur Stützung der eigenen Währung einzusetzen.
Die Schuldenkrise 1984 wäre nicht möglich gewesen ohne die Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte. Sie war eine der ersten großen Globalisierungskrisen und ist für viele Länder, darunter die ärmsten, seit einem Vierteljahrhundert eine unüberwindbare Entwicklungsblockade. Gleichzeitig ist die Geschichte des Schuldenmanagements eine Kette von Fehlschlägen. Zieht man nach fast zwei Jahrzehnten Schuldenkrise Bilanz, so muss man feststellen: Es wurden jahrelang - und es werden noch immer - gigantische Summen an Schuldendienstzahlungen geleistet, die Zwangslage der Entwicklungsländer wurde genutzt, ihnen über die Strukturanpassungsprogramme eine neoliberale Ordnungspolitik aufzuzwingen. Die Transformationen im Zuge der Schuldenkrise verursachten hohe soziale Kosten, die vor allem die sozial Schwachen treffen.
Die Macht transnationaler Konzerne
In Kombination mit den technologischen Umbrüchen hat die Liberalisierung der Finanzmärkte auch starke Impulse für die Globalisierung der Wertschöpfung freigesetzt. Damit sind die ökonomischen Spielräume, Macht und Einfluss transnationaler Konzerne beträchtlich gewachsen. Heute sind von den global 100 größten ökonomischen Akteuren 51 Transnationale Unternehmen. Die Unternehmen orientieren sich natürlich am Shareholder Value und nicht an entwick-lungspolitischen Zielen. Angesichts dessen haben Entwicklungsländer kaum Chancen, entwicklungspolitische Interessen durchzusetzen. Wenn sie überhaupt noch Investitionen erhalten wollen, zwingt sie der globale Standortwettbewerb zu allen möglichen Zugeständnissen - Bereitstellung von Infrastruktur, unbeschränkter Profittransfer, Einrichtung von Freihandelszonen, Steuererleichterungen.
Gleichzeitig führt die Öffnung für die ausländischen Wettbewerber dazu, dass einheimische Unternehmen niederkonkurriert werden.
Offene Finanzmärkte und Internationalisierung der Produktion haben Rückwirkungen auf den internationalen Handel. Der Welthandel hat daher in den 90er- Jahren einen besonders starken Wachstumsschub erlebt. Für die meisten Entwicklungsländer hat die Liberalisierung jedoch nicht die erhofften Ergebnisse gebracht. Untersuchungen kommen immer wieder zu dem Schluss, dass der Wechsel zu einem offeneren Außenhandelsregime die Situation gerade der ärmsten Bevölkerungsgruppen sogar verschlechtert, zum Beispiel wenn durch Zollsenkungen die Staatseinnahmen sinken, was wiederum zu Kürzungen bei Bildung, Sozialem oder Nahrungsmittelsubventionen führt.
So wie der Manchesterkapitalismus des 19. Jahrhunderts gezähmt und zivilisiert wurde - wenn auch nur durch langwierige soziale und politische Augeindersetzungen - so kann die Globalisierung, die zu einem neuen, globalen Manchesterkapitalismus mutiert ist, gezähmt und zivilisiert werden. Eine andere Globalisierung ist möglich. Konkrete Vorschläge dafür liegen auf dem Tisch.
Gerechtigkeit Solidarität und Schutz der Umwelt könnten leichter als je zuvor globalisiert werden. Noch nie in der Menschheitsgeschichte hat es so viel Reichtum, Wissen und technologische Möglichkeiten gegeben wie heute. Sie müssen auf intelligente Weise eingesetzt und gerecht verteilt werden. Dann ist genug für alle da.
Peter Wahl ist Mitarbeiter der NGO Weltwirtschaft, Ökologie
& Entwicklung - WEED mit Sitz in Bonn und Berlin und Mitglied
im Koordinierungskreis von Attac Deutschland.