Wenn Russland den früheren Präsidenten Tschetscheniens, Achmad Kadyrow, ehrt, wirkt es gleich sowjetisch. Auf dem Achmad-Kadyrow-Platz in Tschetscheniens Hauptstadt Grosny ragt seit dem 20. August als tragende Säule des Personenkults eine Statue Kadyrows mit bronzener Persianermütze 13 Meter in die Höhe. Das staatliche Fernsehen huldigt dem "Helden Russlands" in einer Gedenksendung mit Bewunderungsprosa und zeigt ihn, Lenin gleich, im Kreise von Kindern - seinen Enkeln, die mit Plastikmaschinenpistolen spielen. Kadyrow hatte das abtrünnige Land wieder eng mit Russland verknüpft, bis er im Mai vergangenen Jahres einem Bombenattentat zum Opfer fiel. Der russische Präsident Wladimir Putin rühmt ihn: "Er war ein Mensch, der den Irrtum des Separatismus versteht."
Putin will die über Jahrhunderte gesammelte Erde Russlands möglichst für immer sichern. "Wir sind auf ewig hergekommen", steht auf einer Propagandatafel in der Kaserne der 42. russischen Brigade am zerschossenen Flughafen von Grosny. Im vorigen Jahrzehnt, scheint es, kam das Tschetschenenvolk der Unabhängigkeit ganz nahe. Doch das ist ein Mythos. Tschetscheniens Nation-Building blieb stets mehr Traum als Wirklichkeit. Sein Volk wurde ohne Kooperation Russlands und ohne Verständnis der internationalen Gemeinschaft sich selbst zum größten Feind. Moskaus Angst vor dem Verlust Tschetscheniens und dessen Tagträumereien schufen jenes tragische Missverständnis, das eine zerstörte Republik und ein verstörtes Volk im Würgegriff des Kremls hinterließ. Nach zwei Kriegen ist Tschetschenien wie ein lebender Leichnam unter die russischen Provinzen zurückgekehrt, als "failed proto-state".
Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat im Vergleich zu Jugoslawien relativ gewaltfrei zu einer Vielzahl neuer Staatsbildungen geführt. Das Restreich Russland stand innenpolitisch vor zwei separatistischen Herausforderungen: Tatarstan und Tschetschenien. Das Hasardspiel um Macht und Ressourcen, bei dem die Unabhängigkeit als Trumpfkarte diente, endete 1994 in einem weitreichenden Autonomievertrag zwischen dem Kreml und Tatarstan. Der Konflikt mit Tschetschenien führte in den Krieg. Da war die erste Welle der weltweiten Euphorie über das Ende der Blockstarre des Kalten Krieges bereits verebbt. Der Balkan litt im Söldnerkrieg und die US-Truppen durchlebten die Katastrophe von Somalia. Die Weltgemeinschaft reagierte umso vorsichtiger auf neue humanitäre Interventionen und fürchtete das Misslingen künftiger Nation-Building-Projekte.
Erst Jahre später gab Ost-Timor einen wenig beachteten, aber erfolgreichen Präzedenzfall für den Aufbau und die Anerkennung eines neuen Staates durch die internationale Gemeinschaft. Die frühere portugiesische Kolonie hatte seit der Annexion durch indonesische Truppen 1975 ein Martyrium durchgemacht, das Zehntausende von Menschen das Leben kostete. Der Druck der UNO auf Indonesien ermöglichte ein Referendum, bei dem sich knapp 80 Prozent für die Unabhängigkeit aussprachen. Nach dem Einsatz von Friedenstruppen wurde Ost-Timor am 20. Mai 2002 unabhängig. Noch im selben Jahr erkannte Putin den Inselstaat an.
Tschetschenien war das nicht vergönnt. Sein Verhältnis zu Russland ist eine Geschichte des ständigen Vorzugs der Gewalt vor Verhandlungen. Das russische Zarenreich rang das renitente Bergvolk erst nach jahrzehntelangem Kolonialkrieg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nieder. Im Februar 1944 ließ Stalin 400.000 Tschetschenen wegen der angeblichen Kollaboration mit den deutschen Truppen nach Sibirien und Kasachstan deportieren. Innerhalb von fünf Jahren starb jeder Fünfte von ihnen. Die Deportation festigte unter den Tschetschenen das Gefühl eines homogenen Volkes und einer Nation. 1957 durften sie in ihre Heimat zurückkehren.
Erst unter dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow lockerte sich die zentrale Kontrolle über Tschetschenien. Sein Gegenpart Boris Jelzin forderte aus machtpolitischen Gründen die Regionen auf, soviel Souveränität wie möglich an sich zu reißen. Im November 1991 erklärte der neue Präsident Tschetscheniens, Luftwaffengeneral Dschochar Dudajew, die Unabhängigkeit. Er träumte von einem nordkaukasischen Kuwait, während die tschetschenische Ölgewinnung im Wirtschaftschaos von 1992 auf 1993 um die Hälfte sank und die staatlichen Behörden sich zersetzten. Schon bald griffen von Moskau unterstützte Oppositionsgruppen den Präsidenten mal mit Megafon, mal mit Karabiner an. Dudajew verbündete sich zur Gegenwehr mit kriminellen Banden, die auch zum Profit russischer Partner Waffen und Drogen schmuggelten. 1993 riss er alle Macht an sich und herrschte per Präsidialdekret. Je stärker der russische Druck wuchs, desto entschiedener beschwor Dudajew das Irreale, die Unabhängigkeit.
Tschetschenien besaß weder die Erfahrung der Eigenstaatlichkeit noch der politischen Führung durch einzelne Amtsträger. Es hat sich nie als eine politische Einheit mit einem Katalog gemeinsamer Ziele formiert. Die Geschlossenheit diente nur der Abwehr äußerer Feinde. Das vormoderne Herrschaftssystem von mehr als 150 Tejps, den Clans aus einem oder mehreren Dörfern, und den Räten der Dorfältesten schuf ein Netzwerk der Absprachen und Treueverhältnisse. Zudem war das Ziel der Unabhängigkeit umstritten, da sich ein Teil der Elite aufgrund ihrer Sozialisierung Russland verbunden fühlte oder nüchtern verstand, dass eine Abspaltung keine Perspektive besaß.
Moskau tat alles, um die Destabilisierung voranzutreiben. Während es in offiziellen Gesprächsprotokollen Tschetscheniens Unabhängigkeit verbriefte, verhandelte es heimlich parallel mit der tschetschenischen Opposition und schickte angeheuerte Söldner und Spezialtruppen in karmesinroten Baretts zu Putschversuchen nach Grosny los. Präsident Jelzin fürchtete, dass ein unabhängiges Tschetschenien die vielen autonomen Republiken Russlands wie Dominosteine mitreißen könnte. Doch schon 1994 verloren diese Republiken auch im Nordkaukasus die Lust an der Souveränität. Die regionale, zumeist russisch geprägte Elite hatte ihre neuen Claims abgesteckt und kein Interesse an radikalen Veränderungen.
Russlands Staatsführung machte den Fehler, den direkten Kontakt mit Dudajew zu meiden. Die Chance für einen Vertrag wie mit Tatarstan verstrich. Ende 1994 wies der russische Präsident sogar Dudajews bedingungslose Verhandlungsbereitschaft ab. Da war der russische Einmarsch für einen "kleinen, siegreichen Krieg" (Jelzins Sicherheitsberater Oleg Lobow) schon beschlossene Sache. Der Waffengang, der Jelzins Popularität heben sollte, forderte 100.000 Tote und endete im August 1996 mit dem für die russische Armee schmachvollen Waffenstillstandsabkommen von Chassawjurt.
Im Januar 1997 bestimmten die Tschetschenen in einer international anerkannten Wahl Aslan Maschadow zum Nachfolger des ein Jahr zuvor getöteten Dudajew. Er ernannte reihenweise Auslandsbotschafter, obwohl das vom Krieg versehrte Land kaum lebensfähig war. Moskau wartete die Entwicklung in seiner südlichen Republik ab, und den westlichen Staaten galten die Tschetschenen als separatistischer Störfall. Statt Nation-Building erlebte Tschetschenien den inneren Staatsverfall: In vielen Regionen übernahmen die Feldkommandeure die Macht. Öldiebstahl, Waffenschmuggel, das Entführungsbusiness und Sklavenhandel wurden zu lukrativen Wirtschaftssparten. Nur noch jede zehnte Schule arbeitete.
Neben den Machtpolen des Präsidenten Maschadow und der Feldkommandeure etablierten sich fundamentalistische Islamisten mit vor allem arabischer Unterstützung, obwohl der Islam in Tschetschenien traditionell eine weltliche Ausprägung besitzt. Die Wahhabiten verschenkten Lebensmittel und Kleidung, boten den verwahrlosten Jugendlichen Geld, Ausbildung und Lebenssinn. Im Februar 1999 setzten sie die Einführung der Scharia, des islamischen Rechtssystems, durch.
Moskau startete sieben Monate später die Revanche für den ersten Krieg als genialen PR-Coup des fast unbekannten Präsidentschaftskandidaten Putin: den zweiten Tschetschenienkrieg. Auf Seiten der tschetschenischen Kämpfer überschattete der Dschihad den Sezessionskampf, und Russland nahm dankbar das Argument der Abwehrschlacht gegen den internationalen Terrorismus als Blankoschein für jede Grausamkeit an. 10.000 bis 20.000 Tschetschenen kamen nach Schätzungen der Menschenrechtsorganisation Memorial ums Leben, 300.000 mussten fliehen. Die westlichen Staaten schwiegen zumeist über ihren Gas- und Öllieferungen aus Russland. US-Präsident George Bush bekräftigte Russlands Krieg als innere Angelegenheit. Die Europäische Union hielt am territorialen Bestand der Russischen Föderation fest. In den nordkaukasischen Teufelskreis wollte sich keiner wagen.
Da die Entscheidung über eine humanitäre Intervention auf der relativen Macht und Größe des betroffenen Landes und der Wahrscheinlichkeit des Erfolgs basiert, fällt sie bei mächtigen Staaten wie Russland per se negativ aus. Auch das von außen angetragene Engagement der Staatengemeinschaft für das Völkerrecht, die innere Selbstbestimmung und den Minderheitenschutz prallte an der Verweigerungshaltung Russlands ab. Moskau stufte Tschetschenien als innere Angelegenheit ein, beschwor aber zugleich den internationalen Terrorismus als einzigen Schuldigen und bat unbekümmert westliche Staaten um Finanzhilfe zum Wiederaufbau.
Um das State-Building als Voraussetzung für demokratische Verhältnisse und einen nationalen Einigungsprozess in Tschetschenien hat sich Moskau bislang nicht mit jener Verve gekümmert, mit der seine Streitkräfte die Republik verwüsteten. Ein Verfassungsreferendum in sowjetischem Stil im März 2003 diente vor allem dazu, die territoriale Integrität Russlands zu dokumentieren. Die Bestimmung des Volkswillens erstarb in propagandastischen Wahlfarcen: Der Kreml ließ seinen Präsidentschaftskandidaten vom Volk absegnen, nachdem die aussichtsreichsten Gegenkandidaten von der Wahlliste gestrichen wurden. Kadyrow erhielt 2003 in manchen Wahlbezirken mehr als 100 Prozent. Den Partisanenkrieg in der offiziell "befriedeten" Republik hat Moskau längst in einen innertschetschenischen Bürgerkrieg verwandelt. Unter der willkürlichen Gewalt leidet vor allem die Zivilbevölkerung. Mehrere hundert Entführungen zählen Menschenrechtsgruppen pro Jahr. Die Kidnapper tragen oft Uniform und fahren im Schützenpanzer vor. Den Rechtsstaat zum Schutz der tschetschenischen Bürger bleibt Russland schuldig.
Der zweite Krieg hat die ohnehin traditionell in Clangruppen aufgespaltene tschetschenische Gesellschaft nahezu pulverisiert. Vormals unantastbare Traditionen und Werte wie die Solidarität in der Familie und Respekt und Fürsorge gegenüber den Älteren gehen verloren. Die nötige Führungselite ist durch Kollektivierung, Deportation und zwei Kriege weitgehend vernichtet. Viele Jugendliche sind teilnahmslos, ohne Optimismus, und leben isoliert wie auf einer Insel. Sie kennen nur die Normen des Kriegslebens und Karaoke als Zeitvertreib.
So ist die tschetschenische Gesellschaft von den Voraussetzungen für die Eigenstaatlichkeit weiter entfernt denn je. Zwar besitzt die Republik ein definiertes Territorium und ist als Folge der Kriege fast mono-ethnisch geprägt mit wenigen tausend Russen unter schätzungsweise 700.000 Tschetschenen. Das würde das Nation-Building erleichtern. Doch einen Gedanken an die Unabhängigkeit lassen schon Russlands Widerstand und das Desinteresse der internationalen Staatengemeinschaft absurd erscheinen. Als eigenständiger Staat könnte Tschetschenien nicht einmal für die Sicherheit der Nachbarländer vor seiner eigenen Soldateska garantieren.
Johannes Voswinkel ist Moskau-Korrespondent der Wochenzeitung
"Die Zeit".