Das große Projekt, das unter dem Namen "Europäische Union" gerade in letzter Zeit so viele Zweifel aufgeworfen hat, bekommt eine theoretische Grundlage. Unter dem Begriff "Europawissenschaft" hat sich seit einiger Zeit ein noch recht diffuser Forschungszweig herausgebildet. Zum ersten Mal ist jetzt ein Buch unter diesem Titel erschienen, dessen ausdrücklicher Sinn in der Etablierung einer solchen interdisziplinären Disziplin besteht.
Die Herausgeber Gunnar Folke Schuppert und Ingolf Pernice von der Humboldt Universität Berlin sowie Ulrich Haltern von der Universität Hannover haben gemeinsam mit 18 weiteren Autoren einen bemerkenswerten Sammelband veröffentlicht, in dem der Grundstein für diese neue Wissenschaftsdisziplin gelegt und in dem sie auch argumentativ begründet werden soll. Das Vorhaben geht davon aus, dass es intensiver Grundlagenforschung bedarf, um Europa als Gegenstand und als Herausforderung von Forschung gerecht zu werden.
Als zentrale Bestandteile werden hierbei European Gouvernance und European Know-How formuliert. Vor allem erscheint es mehreren Autoren erforderlich, die nationalstaatlichen Denk- und Begriffskategorien zu überwinden. Es geht ihnen allerdings auch in Europa um die Errichtung und Wahrung einer Ordnung des effizienten und legitimen Regierens.
Aber die staatswissenschaftlichen Grundlagen scheinen für dieses Europa, das nicht (nur) Staatenbund und nicht (ganz) Bundesstaat ist und sein wird, nicht ausreichend. Die "dritte Form" benötigt erst einmal einer umrisshaften Beschreibung durch die Grund lagenforschung. In der Tat engen die "klassischen Disziplinen" den theoretischen Ansatz hierfür ein und verhindern wissenschaftliche Phantasie. So mögen sich auch einige der Missverständnisse bei der Formulierung wie bei der Ablehnung des Entwurfs für eine europäische Verfassung in Frankreich und den Niederlanden erklären.
Grundlagenforschung
Gerade das Prozesshafte der europäischen Integration ist für zeitgenössische Teilnehmer an diesem Prozess nicht recht nachvollziehbar. Dieses Konstruktionselement "Entwicklung" bedarf einer stabileren theoretischen Basis. Grundlagenforschung ist keine Veranstaltung für das breite Publikum. Ihre Erkenntnisse, so kontrovers sie im Rahmen dieser neuen Disziplin auch diskutiert werden, fließen aber in die angewandten Wissenschaften und in die Politik selbst. Solche europäische Grundlagenforschung ist unentbehrlich für die Anhebung des öffentlichen Diskurses auf ein Niveau, das der Einzigartigkeit des Vorhabens gerecht wird.
Besonders erhellend sind solche Beiträge, die den multidisziplinären Ansatz bereits in sich selbst entwickeln (Jürgen Kocka, Hans Joas und Christoph Mandry). Hier werden aus historischer, religionsgeschichtlicher, rechtlicher und philosophischer Perspektive Begriffe und Phänomene in einem offenen Diskurs behandelt, in dem der Reichtum der historischen Entwicklung und die gegenseitige Beeinflussung verschiedener Wertekataloge als Ursache dafür benannt werden, dass nicht eine "bloße Addition von Traditionssträngen die Gefahr eines ,Containerverständnisses' von Kultur heraufbeschwört".
Gerade deshalb erfordert in der Geburtsstunde der Europawissenschaft das Buch, das sich als ihre Gründungsurkunde versteht, einen kritischen Blick, ob die Fundamente groß und fest genug sind. Die Einwände richten sich nicht gegen die vorzüglichen Beiträge. Es fragt sich aber, ob das Gewicht des Institutionellen oder Historischen nicht übermäßig ist.
Sicher kann man die Staatlichkeit der Europäischen Union an den drei klassischen Kriterien messen, ob ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet und eine Staatsgewalt bestehen. Aber es ist auch wichtig, wie sich die Menschen in Europa verständigen, welche Sprachen sie sprechen, welche Schriftzeichen sie verwenden. Oder: wie stehen eigentlich Dänen oder Ungarn zu den Überseegebieten Frankreichs?
Methodischer Kritikpunkt
Ein anderes Defizit besteht bei den Problemen, die die klassische Volkswirtschaftslehre, verstanden als Nationalökonomie, nicht lösen kann. Oder auch: Wie viele hochqualifizierte Arbeitskräfte soll Europa für das Inganghalten des Prozesses seiner Einigung, für das Aufrechterhalten einer ordentlichen Gouvernance eigentlich bereitstellen? Derartige Einwände betreffen den Kreis der im interdisziplinären Diskurs zu beteiligenden Wissenschaften, um diese neue Europawissenschaft nicht zu eng auszulegen.
Ein methodischer Kritikpunkt wiegt noch schwerer: Ist eigentlich die Begründung einer Europawissenschaft auf nationaler Basis möglich? Entsteht dann nicht die "deutsche" Europawissenschaft und wachsen in anderen Ländern andere heran, die dann erst später in einem mühevollen Verständigungsprozess wieder ins Gespräch kommen müssen?
Die verfassungs- und völkerrechtlichen Beiträge des Buches sind aus kontinentaleuropäischer Sicht geschrieben. Eine angelsächsische Betrachtung käme sicher zu anderen Ansätzen. Die europäische Grundlagenwissenschaft braucht eine europäische Öffentlichkeit und einen europäischen Diskurs - die hat es zuletzt im Zeitalter der Aufklärung gegeben. Der deutschsprachige Sammelband "Europawissenschaft" stellt diese europaweite wissenschaftliche Öffentlichkeit noch nicht her, wird vielleicht einmal Bestandteil von ihr sein. Er zeigt aber bei all seinen Qualitäten, dass er selbst das Problem des partikularen Ansatzes nicht löst, sondern es eher verschärft.
Gunnar Folke Schuppert, Ingolf Pernice und Ulrich Haltern (Hrsg.)
Europawissenschaft.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2005; 813 S., 78,- Euro