Sieht man von Gezeitenkraftwerken und Geothermie ab, sind die erneuerbaren Energien wesentlich Sonnenenergie: Wind, bewegtes Wasser, Biomasse, direkte Sonnenstrahlen. Für Hermann Scheer, den prominenten Streiter der "Energieautonomie", so der der Titel seines neuen Buches, muss der Wechsel zu diesen Energien erfolgen, weil die fossilen und atomaren Energien aus vielfältigen Gründen untragbar geworden sind: Auch die Umweltbelastungen, insbesondere das klimaändernde Potenzial der fossilen Energie sowie der zivilen und kriegerischen Risiken der der Atomtechnik.
Die Vorräte der Altenergien gehen zu Ende, die Kosten nehmen zu, und trotz aller "Liberalisierung" schreitet die Konzentration der Energieerzeuger und -anbieter voran. Damit wird ihre Machtsonderstellung weiter gefestigt. Die Frage ist also nicht, ob die Energiewende vollzogen wird, sondern wie schnell das geschieht, will man nicht den fossil-atomaren Untergang riskieren.
Scheer räumt dabei mit vielen Vorurteilen auf, denen die "Erneuerbaren" - trotz verbreiteter grundsätzlicher Sympathien - meist noch begegnen: Sie seien doch höchstens was Nettes für die Ökonische, aber nicht fähig, die komplette Energieversorgung einer modernen Industriegesellschaft zu leisten. Dabei stellen sie hierzulande bereits zehn Prozent des Energiebedarfs! Sie würden übersubventioniert, also quasi künstlich ernährt: Dabei werden die gegenwärtigen wie vergangenen Subventionen und Privilegien der zugleich immer teurer werdenden fossil-atomaren Energie geflissentlich übersehen!
Es läuft zurzeit in Deutschland lediglich eine normal unterstützte Einführungsphase der erneuerbaren Energien. Außerdem werden die Technik und die gewonnene Energie, je massenhafter sie Verbreitung finden, umso günstiger gerade im Vergleich zu den Altenergien. Der Zuwachs an regenerativer Energie geht auch nicht mit einem schlagartigen Abschalten der Altenergien einher, sondern ersetzt sie praktisch risikofrei; die Energieversorgung bleibt erhalten.
Die Technik sei noch nicht reif, so ein weiterer Vorwurf: Die vielen praktisch erprobten Anwendungen zeigen aber, dass das für die eigentliche Energieerzeugung nicht mehr zutrifft - was nicht heißt, dass hier noch viel Forschungs- und Optimierungsbedarf etwa bei Solarzellen besteht. Nachholbedarf besteht eher schon bei den Speichermöglichkeiten. Wobei auch hier vieles möglich wäre, man denke nur an unterirdische, durch Stromenergie gefüllte Druckluftspeicher mit angeschlossenem Stromgenerator. Wer nur auf die Einführungssubventionen abhebt, unterschlägt zudem meist alle ökologischen, sozialen und volkswirtschaftlichen Vorteile der erneuerbaren und umgekehrt die Gefahren der fossil-atomaren Energien.
Beliebt ist es auch, den erneuerbaren Energien Umweltbelastungen anzukreiden: Die "Energierückzahlzeit" (die Zeit, in der die eingesetzte Produktionsenergie wieder eingespielt wird) beträgt aber für Solarstromanlagen nicht dutzende, sondern nur zwei bis drei Jahre. Schließlich ist gegen das ästhetische Argument einer "Landschaftsverschandelung" etwa durch Windräder einzuwenden: Die Energieversorgung einer modernen Gesellschaft muss in die Landschaft eingreifen; das tut die Altenergie seit eh und je mit ihren Überlandleitungen, Kraftwerksstandorten, Braunkohlengruben und Abraumhalden. Sie tut es auch mit ihrer Kühlwassererwärmung und unsichtbar mit ihren Emissionen. Wir haben uns halt daran gewöhnt.
Gerade das Aufbrechen alter Energiegewohnheiten ist ein zentrales Thema des Buches. Ebenso geht es hier nicht so sehr um die letztlich machbare Technik, sondern um die politischen Strategie zur Durchsetzung der erneuerbaren Energien. Und dazu muss man sich zunächst, so der Autor, ein ungeschöntes Bild der Energierealität machen.
Sie wird bestimmt durch die Macht des traditionellen, international verankerten und multifunktionalen Energiesystems: Die Stromnetzbetreiber sind meist auch die Strom- und zugleich die Primärenergieerzeuger. Die Kraftstoffanbieter verarbeiten nicht nur das Rohöl zu Kraftstoff, sondern sind oft auch an der Rohölförderung beteiligt und haben die Tankstellen, also die Vermarktungskette, im Griff. Sie bilden aufgrund ihrer Risiken kleine Staaten im Staate.
Diese "Energiewirtschaft" fürchtet zu Recht, dass nur die erneuerbaren Energien ihre Macht brechen können. Denn sie machen die Altenergie überflüssig. So ist es nicht verwunderlich, mit welcher Vehemenz und auf allen erreichbaren Medienkanälen die erneuerbaren Energien verniedlicht oder darüber Falschmeldungen verbreitet werden. Mittlerweile ist es andererseits auch gängige Praxis, die Befürworter der Neuenergien zu "umarmen", statt sie auszugrenzen. Aber ihre Befürworter sollten wissen, dass sie damit in die Nische gedrängt und kleingehalten werden.
Indem sich die großen Systemakteure selbst eine Solaranlage zulegen oder für regenerative Großkraftwerke werben, demonstrieren sie scheinbar Aufgeschlossenheit, können aber umso unbehelligter am Alten festhalten. Eine solch großmächtige und gefestigte Struktur kann gar nicht anders, als zu versuchen, sich zu erhalten. Die Energiewende wird deshalb nur neben und in Unabhängigkeit von der Altenergiewirtschaft gelingen.
An dieser klaren Frontstellung führt kein Weg vorbei. Dazu braucht es auch auf der internationalen Ebene feste politische Institutionen. Mehr oder weniger lockere "Netzwerke" reichen nicht aus gegen die geballte Macht etwa von EURATOM oder IAEA, den internationalen Atomagenturen, sowie der Internationalen Energieagentur IEA. Nur eine Internationale Erneuerbare Energie Agentur, IRENA, kann, so Scheer, ein wirksames Gegengewicht bilden.
Die atomar-fossilen Energiekrisen und -risiken drängen zum Handeln. Da es auf eine rasche Emissionsminderung ankommt, ist nach Scheer auch keine Zeit, um mit großem bürokratischem Aufwand Emissionsrechte etwa gemäß den "flexiblen Instrumenten" des Kyoto-Abkommens zu schachern, was letztlich doch nur zu einem minimalen Reduktionsziel führen würde.
Deutschland, die drittgrößte Industrienation der Welt, hat vor allem mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) eine politische Vorreiterrolle übernommen, von der auch für die Zukunft dieser Energien in anderen Ländern viel abhängt. Es beeindruckt, mit welcher begrifflich-sprachlichen Klarheit Scheer die Hindernisse, aber auch die nötigen strategisch-politischen Schritte auf dem weiteren Weg zur Energiewende herausarbeitet. Erst die Ersetzung der Altenergien durch die erneuerbaren Energien bringt Autonomie ins Spiel, einen neuen Handlungsspielraum, ja eine neue soziale Kultur auf vielen Ebenen: vom selbstbewusst energieerzeugenden Bürger über den Ölsaaten anbauenden Landwirt bis zur energieautarken Kommune. Man ahnt, welch neue Handlungskraft einem Staat zuwächst, der nicht mehr dem Diktat von Energiewirtschaft und -import unterliegt.
Hermann Scheer
Energieautonomie,
Eine neue Politik für erneuerbare Energien.
Verlag Antje Kunstmann, München 2005; 316 S., 19,90 Euro