Das Parlament
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Nr. 47 / 21.11.2005
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Daniela Weingärtner

Ein Mammutkompromiss

Umstrittene Chemikalienrichtlinie passiert EU-Parlament

Zwei Jahre lang hatten sich Gegner und Befürworter einer strengen Chemikaliengesetzgebung heftige Argumentationsschlachten geliefert. Es geht um mehr als 100.000 Altstoffe, die in der EU verwendet werden, ohne dass ihre Wirkung auf Umwelt und menschliche Gesundheit erforscht ist. Sie sollen nun innerhalb von elf Jahren schrittweise bei der neuen Chemieagentur in Helsinki registriert werden. Die geforderten Nachweise sind nach produzierter Menge und vermutetem Risiko abgestuft. Während die Industrie vor unvertretbar hohen Kosten warnt, gehen vor allem grünen Politikern und Umweltverbänden die nun beschlossenen Regeln nicht weit genug.

Mit deutlicher Mehrheit einigten sich Sozialis-ten, Liberale und Konservative am 17. November in Straßburg im Europaparlament auf einen Kompromiss für die geplante Registrierung chemischer Stoffe. Allerdings sind die Anforderungen im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf der damals verantwortlich zeichnenden EU-Umweltkommissarin Margot Walström stark abgeschwächt worden. Für die Zulassung neu entwickelter Chemikalien werden die jetzt geltenden strengen Regeln abgeschwächt.

Bei der Zulassungsprozedur für Altstoffe erhielt das von den Grünen eingebrachte Paket eine knappe Mehrheit. Danach müssen Stoffe, die nach der Registrierung in die Kategorie gefährlich eingestuft wurden, alle fünf Jahre bei der Chemieagentur vorgelegt werden. Sind in der Zwischenzeit Ersatzstoffe gefunden worden, darf der gefährliche Stoff nicht mehr ver-wendet werden. Diese strenge Regelung, die den Innovationsdruck erhöhen würde, gilt aber nicht für Importe. Importeure müssen lediglich sehr gefährliche Stoffe für den Verbraucher kenntlich machen. Dadurch entsteht für europäische Hersteller ein Standortnachteil, den man in dem Gesetzespaket eigentlich vermeiden wollte.

Bei der Registrierung sind in der Mengenkategorie von einer bis zehn Tonnen Jahresproduktion die Anforderungen erheblich reduziert worden. Diese Gruppe umfasst 20.000 der insgesamt 100.000 nicht dokumentierten Substanzen. Es müssen nur noch jene Stoffe umfassend getestet werden, die auf der Grundlage vorhandener Daten von vornherein in Verdacht stehen, problematisch zu sein. Ferner sollen alle Substanzen geprüft werden, die zur Freisetzung in die Umwelt bestimmt sind. Das aber betrifft nur ganz wenige Stoffe.

Die neue EU-Richtlinie REACH (Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien) wurde ursprünglich entworfen, um die völlige Unkenntnis über die Eigenschaft von Stoffen zu beenden. Schließt man eine große Gruppe von Substanzen von vornherein als vermutlich ungefährlich vom Testprozess aus, ohne viel über sie zu wissen, bleiben die Risiken weiter unbekannt und unentdeckt, kritisieren die Umweltverbände.

Auch Stoffe, die sich als Ersatz für giftige Substanzen eignen würden, werden nicht herausgefunden. Damit wird eine Grundidee von REACH, schädliche Stoffe mittelfristig auszumerzen, ausgehebelt. In der Kategorie von mehr als zehn Tonnen Jahresproduktion, die etwa 10.000 Stoffe umfasst, sind die Anforderungen ebenfalls stark reduziert worden. Wenn eine Substanz nur innerhalb der Fabrik freigesetzt und dort "angemessen kontrolliert" wird, fallen die meisten Tests weg. Auch hier gilt, dass von "angemessener Kontrolle" eigentlich nur die Rede sein kann, wenn die Stoffeigenschaften bekannt sind. Welche Schutzkleidung ist angemessen, wenn über die Eigenschaften einer chemischen Substanz so gut wie nichts bekannt ist?

Die Bringschuld, die übrigen Stoffe dieser Kategorie innerhalb von elf Jahren umfassend zu dokumentieren, lag im ursprünglichen Entwurf beim Hersteller. Nun soll die neue EU-Chemieagentur sich darum kümmern, dass sie ausreichend Daten bekommt. Das bürdet der neuen Einrichtung, die in Helsinki in Finnland angesiedelt werden soll, eine enorme Arbeitsbelastung auf. Kosten werden so auf öffentlichen Haushalt verlagert.

Das Prinzip "one substance one registration" (OSOR), hätte vor allem kleinen Unternehmen und nachgelagerten Anwendern in der Produktionskette helfen sollen, Kosten zu sparen. Ursprünglich sollten die Produzenten verpflichtet werden, ihren Datensatz der Chemieagentur zur Verfügung zu stellen. Nicht nur die chemische Industrie hatte sich dagegen mit dem Argument gewehrt, Produktionsgeheimnisse könnten von der Konkurrenz kopiert werden. Auch kleine und mittlere Betriebe hatten darauf hingewiesen, dass Rezepturen oft ihr wertvollstes Betriebskapital darstellen.

Der neue Entwurf stellt es dem Hersteller unter bestimmten Bedingungen frei, auf Vertraulichkeit von Daten zu beharren. Die Kehrseite ist, dass Mehrfachtests dadurch unvermeidlich werden. Allerdings besteht weiterhin die Möglichkeit, dass mehrere Hersteller die Tests gemeinsam anteilig finanzieren. Für Daten aus Tierversuchen ist der Informationsaustausch sogar Pflicht. Tierschützer bewerten das Abstimmungsergebnis deshalb positiv, da es mittelfristig die Laborversuche an Tieren reduzieren könnte.

61 Abgeordnete hatten sich am 15. November bei der Debatte im Straßburger Europaparlament zu Wort gemeldet. Dass zeigt, wie das Dossier REACH die Politiker umtreibt. Berichterstatter Guido Sacconi, ein italienischer Sozialist, berichtete von den aufwühlenden Gesprächen mit Konservativen, Grünen und Liberalen. Er habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Sacconis konservativer Kollege Hartmut Nassauer hatte keine vergleichbaren Zweifel durchlebt. Er hatte von Anfang an den Standpunkt vertreten, REACH sei für die europäische und vor allem für die deutsche Chemieindustrie unzumutbar.

Dagegen erinnerte die grüne Abgeordnete Hiltrud Breyer, die die Stellungnahme des Frauenausschusses vorstellte, an die gestiegenen Krebsraten in der EU. Brustkrebs habe sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt, jede neunte Frau in Europa sei von Krebs betroffen. 15 Prozent der Paare seien ungewollt kinderlos. Deshalb verlangte der Frauenausschuss verbindliche umfassende Tests auch für kleinste Produktmengen. Sämtliche Stoffe, die Hinweise auf Gesundheitsrisiken erkennen ließen, müssten ersetzt werden. Der Antrag fand keine Mehrheit.

Der Pariser Onkologe Dominique Belpomme nannte bei einer Pressekonferenz in Brüssel erschreckende Zahlen. So steigt die Krebsrate bei Kindern jährlich um ein Prozent und ist zur zweithäufigsten Todesursache geworden. Prostatakrebs bei Männern hat sich im gleichen Zeitraum verdreifacht. Auf vier bis neun Prozent wird der Anteil der Bevölkerung geschätzt, der unter schwersten Umwelterkrankungen wie chronischer Ermüdung oder schwerem Asthma leidet.

Stimmen diese Zahlen, dann müssen die von der chemischen Indus-trie aufgestellten Kostenrechnungen völlig neu bewertet werden. Die EU-Kommission geht davon aus, dass die Registrierung von ungefähr 30.000 chemischen Substanzen 2,3 Milliarden Euro gekostet hätte - verteilt auf elf Jahre. Die gesamten Mehrkosten, inklusive der Entwick-lung von Ersatzstoffen und der gestiegenen Preise für den Endverbraucher werden auf ungefähr 5,2 Milliarden Euro geschätzt. Würden dadurch die umweltbedingten Krankheiten um zehn Prozent reduziert, könnten in den kommenden dreißig Jahren 50 Milliarden Euro an Gesundheitskosten gespart werden.

Nach zwei Jahren erbitterter Debatten zwischen den Kommissionsabteilungen Umwelt und Industrie und zwischen den Ländern mit starken chemischen Industrien (ein Viertel des Jahresumsatzes von 440 Milliarden Euro wird in Deutschland erwirtschaftet) und den ökologisch orientierten Nordländern, herrscht nun fast Harmonie. Die EU-Kommission hat den Kompromiss zur Registrierung gelobt. Die Chemieindustrie sagt, die Belastungen seien vertretbar, bei der Zulassung bestehe aber Nachbesserungsbedarf. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung heißt es, REACH müsse "mit dem Ziel verändert werden, die Chemikaliensicherheit zu verbessern, ohne dabei die Herstellung von Chemikalien zu verteuern oder ihre Anwendung zu behindern". Auch von deutscher Seite ist also kaum mit Widerstand zu rechnen, wenn der Entwurf Ende des Jahres im Ministerrat verhandelt wird.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.