Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 47 / 21.11.2005
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Nikolaus Piper

Innovationen müssen Spitze sein

Offensiv im internationalen Wettbewerb

Die Globalisierung macht den Deutschen Angst. Die Menschen nehmen die Weltwirtschaft wahr als eine anonyme Macht, die Arbeitsplätze und Wohlstand frisst, die möglicherweise gesteuert wird von anonymen finsteren Finanzgewaltigen ("Heuschrecken"). Die Furcht vor der verschärften Konkurrenz aus Ländern mit Stundenlöhnen von fünf Euro und weniger und vor der vertieften internationalen Arbeitsteilung - und nichts anderes ist Globalisierung - prägt die Auseinandersetzungen um Reformen in Deutschland, um Kostensenkungen in den Unternehmen und den Umbau der Sozialsysteme.

Manche Gewerkschafter glauben vielleicht noch, die Globalisierung sei eine bloße Ausrede für geldgierige Unternehmer oder Investoren, um die Löhne zu drücken und die Gewinne zu Lasten der Arbeitnehmer in unanständige Höhen zu treiben. Doch die eigentliche Botschaft ist längst ins allgemeine Bewusstsein gedrungen: Die Osteuropäer produzieren billig, die Chinesen noch viel billiger, und wenn wir nichts unternehmen, wird bald der gesamte Wohlstand ins Ausland gehen.

Der Münchner Ökonom Hans-Werner Sinn spricht von Deutschland als einer "Basar-Ökonomie": Wegen der internationalen Konkurrenz sinkt der Anteil der deutschen Wertschöpfung an "deutschen" Produkten zusehends, immer mehr Arbeit wandert ins Ausland, die Bezeichnung "Made in Germany" wurde zum Etikettenschwindel.

Und was heißt schon "deutsches" Unternehmen? Die so bezeichneten Konzerne emanzipieren sich zusehends von ihrer Heimat. Siemens erzielt die meisten Umsätze im Ausland, die Mehrheit der Mitarbeiter leben jenseits der deutschen Grenze. Die Allianz wird eine europäische Aktiengesellschaft, Umgangssprache im Vorstand wird Englisch. Viele Mittelständler tun es den Konzernen nach. Die Entfernungen sind so gering, dass sich von München oder Nürnberg aus auch eine Fabrik in Tschechien führen lässt.

Dabei geschieht noch etwas ganz anderes: Die gesamte Basis für das alte Modell der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik scheint zu erodieren. Die Unternehmer entziehen dem Staat seine Finanzbasis, weil sie Wertschöpfung ins steuergünstigere Ausland verlagern. Den Deutschen geht die Arbeit aus, dem deutschen Staat laufen die Steuerzahler davon. So ungefähr ist die Wahrnehmung. Aber ist sie auch richtig?

Bei genauem Hinsehen werden die Dinge wesentlich komplizierter. Vieles, was in den öffentlichen Debatten der Globalisierung zugerechnet wird, ist in Wirklichkeit hausgemacht, was auf den ersten Blick wie eine Schwäche der deutschen Wirtschaft aussieht, könnte sich noch als Stärke erweisen und umgekehrt.

Zum Beispiel Steuern: Tatsächlich ist in Deutschland nach dem Jahr 2000 das Aufkommen aus der Körperschaftsteuer zusammengebrochen. Zeitweise zahlten die deutschen Kapitalgesellschaften in toto nicht nur keine Steuern, sie ließen sich sogar netto welche erstatten. Ein in der Geschichte der Bundesrepublik einmaliges Ereignis, das die Haushaltsnöte von Bund und Ländern dramatisch verschärft hat. Nur hat diese Entwicklung eben mit der Globalisierung überhaupt nichts zu tun. Die Steuerausfälle waren ein ungewollter Nebeneffekt der rot-grünen Steuerreform von 1999. Der Gesetzgeber stellte damals Beteiligungsverkäufe von Aktiengesellschaften steuerfrei, was diese dazu nutzten, in großem Stil stille Reserven steuerunschädlich aufzulösen. Die alte Deutschland AG, also das Geflecht von Überkreuzbeteiligungen, das vor allem den Finanzsektor in der Bundesrepublik zusammenhielt, löste sich auf - zu Lasten der Staatskasse. Das war ein handwerklicher Fehler des Bundesfinanzministeriums, aber keine Folge der Globalisierung. In jüngster Zeit steigt das Aufkommen aus der Körperschaftsteuer wieder.

Oder die Sache mit der "Basar-Ökonomie": Tatsächlich haben die deutschen Unternehmen in den vergangenen Jahren massiv Produktion ins kostengünstigere Ausland verlagert. Nicht nur Großkonzerne, auch viele Mittelständler wollen nach Osteuropa oder China gehen oder haben den Schritt bereits vollzogen. Siemens hat sogar seine gesamte Handy-Produktion an ein Unternehmen aus Taiwan verschenkt, weil der Konzernvorstand es sich nicht mehr zutraute, den Bereich aus eigener Kraft zu sanieren. Zwar ist Deutschland Vizeweltmeister beim Export von Waren und Dienstleistungen, aber die exportierten Produkte wurden zu einem immer größeren Teil im Ausland vorproduziert. Der Porsche Cayenne kommt zum größten Teil aus Ungarn und gilt trotzdem als deutsches Produkt - für Hans-Werner Sinn das Paradebeispiel für den von ihm behaupteten Basar-Effekt. Im Jahre 1991 noch mussten von jedem aus Deutschland exportierten Euro 26,7 Cent vorher importiert werden, 2002 waren es bereits 38,8 Cent, rechnete das Statistische Bundesamt aus.

Nur, was auf dem Papier so erschreckend aussieht, ist in Wirklichkeit ein Ausdruck der potenziellen Stärke Deutschlands: Die Unternehmen gliedern sich in die internationale Arbeitsteilung ein und sichern so ihre Zukunft - und auch die der Arbeitsplätze in Deutschland. Anton Kathrein, Weltmarktführer für Antennen aus dem bayerischen Rosenheim, hat im vergangenen Jahr 1.500 neue Arbeitsplätze geschaffen; davon entstanden zwei Drittel im Ausland - die waren aber die Voraussetzung dafür, dass das restliche Drittel in Deutschland entstehen konnte. Die globalisierte Produktion half den Deutschen, ihren Export viel stärker zu steigern als andere europäische Staaten. Allgemeiner gesprochen: Ohne die Verlagerung der Produktion wäre die Lage für die deutschen Arbeitnehmer noch schwieriger. Dann würde im Zweifel die ausländische Konkurrenz das Rennen machen, und die Arbeitsplätze gingen komplett verloren.

Die Beispiele zeigen: Die Globalisierung ist keine Bedrohung für Deutschland, sie ist eine Chance. Es kommt aber darauf an, diese Chance zu nutzen und zwar so, dass möglichst viele der heute noch knapp fünf Millionen Arbeitslosen und das Gemeinwesen insgesamt etwas davon haben. Und das bedeutet zuallererst, sich dem internationalen Wettbewerb offensiv zu stellen.

Deutsche Finanzpolitiker beklagen immer wieder den internationalen Steuerwettbewerb - doch an der Tatsache, dass es ihn gibt, lässt sich nun einmal nichts ändern. Das Problem sind dabei weniger osteuropäische Staaten wie Estland oder die Slowakei, die mit ihren niedrigen Einheitssteuern Schlagzeilen machen. Deren Modelle lassen sich kaum auf entwickelte westliche Industrieländer übertragen. Das Problem aus deutscher Sicht sind konkurrierende Länder auf vergleichbarem Wohlstandsniveau, zum Beispiel Österreich, die ein effizienteres Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen geschaffen haben.

Eine der logischen Folgen der Globalisierung ist es, dass es mehr Chancen gibt und dass derjenige, der sie nutzen kann, über viel mehr Alternativen verfügt als früher. Mobile Produktionsfaktoren, also Kapital und hochqualifizierte Arbeit, können sich viel leichter als früher die besten Standorte aussuchen. Deshalb muss sich der Fiskus wohl oder übel besonders um diese Faktoren kümmern. Die Konsequenz daraus wird sein, dass künftig Kapitaleinkommen niedriger besteuert werden als Arbeitseinkommen. Der Sachverständigenrat der "fünf Weisen" arbeitet an einem entsprechenden Modell, die "Stiftung Marktwirtschaft" in Berlin hat mit Steuerexperten aus allen Lagern bereits ein Modell vorgelegt.

Das alles widerspricht zwar auf den ersten Blick dem Gerechtigkeitsempfinden, interessanterweise haben jedoch gerade die nordeuropäischen Staaten dieses Konzept gewählt, ihren Weg in der Globalisierung zu machen. Die gezielte Entlastung der Unternehmen mittels einer dualen Einkommensteuer trägt dazu bei, leistungsfähige Unternehmen zu erhalten, die dann ihrerseits die ökonomische Grundlage für einen weiterhin umfangreichen Sozialstaat erhalten.

In der Globalisierung können die Deutschen nur noch um so viel teurer sein, wie sie besser sind. Das bedeutet: Der Wohlstand der Deutschen hängt davon ab, dass sie bei Innovationen international an der Spitze stehen. Bedrohlich ist es, wenn es zwischen vier und fünf Millionen Arbeitslose gibt, aber trotzdem die hochqualifizierten Ingenieure fehlen, um zum Beispiel den neuen Airbus zu bauen. Hier ist jahrelang mit der Zukunft Deutschlands gespielt worden. Konkret müssen Schulen und Hochschulen ausgebaut werden, die Förderung hat aber auch schon im Kindergarten zu beginnen. Zu Recht will die große Koalition die Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts heben; derzeit sind es knapp über zwei Prozent.

Aber nicht alle Produktion kann Spitzenproduktion sein. Deshalb lohnt es sich, auch weiterhin um die Massenfertigung von Industriegütern zu kämpfen. Dazu müssen die Gewerkschaften über ihren Schatten springen: Die Unternehmen brauchen mehr Flexibilität bei den Löhnen. Mancher Arbeitsplatz ist zu retten, wenn künftig statt 38 wieder 40 oder gar 42 Stunden gearbeitet werden oder wenn Samstagsarbeit möglich ist. Mit dem Tarifvertrag von Pforzheim 2004 hat die IG Metall einen großen Schritt getan, um mehr betriebliche Bündnisse für Beschäftigung zu ermöglichen. Wichtig ist es, dass solche Bündnisse rechtzeitig und nicht immer erst in letzter Minute geschlossen werden.

Die Erträge der maßvollen Lohnpolitik zeigen sich bereits: Die Lohnstückkosten in Deutschland sinken, die preisliche Wettbewerbsfähigkeit steigt.

Und je mehr Jobs in Deutschland bleiben oder neu geschaffen werden, desto mehr Einnahmen bekommt der Fiskus und desto schneller können die öffentlichen Haushalte aus der Krise herauswachsen. Auch die Gesundung der Staatsfinanzen hängt elementar davon, ab, dass Deutschland die Herausforderung der Globalisierung annimmt.


Nikolaus Piper leitet das Wirtschaftsressort der "Süddeutschen Zeitung" in München.


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