Ein kurzer Blick in den Kragen Ihres Pullovers, Ihrer Bluse oder Ihres Sakkos reicht aus, um die Ausmaße der Welttextilproduktion zu erfassen. "Made in Turkey", "made in Croatia" - oder immer häufiger "made in China" - steht auf dem Etikett. Und dabei ist es egal, ob es sich um ein Oberteil der Luxusmarke Escada handelt oder eines Billiganbieters wie Hennes & Mauritz. Der Herkunftshinweis macht klar, dass der Streit um Textilquoten nur noch ein Scheingefecht ist. Die Welttextilproduktion ist längst global.
Die Schneiderei der Welt
Seit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001 dominiert China den Textil- und Bekleidungswelthandel mit einem Anteil von 20 Prozent. In dieser Zeit löste das Reich der Mitte trotz Importquoten auch Mexiko und die Türkei als traditionell wichtigste Lieferländer der USA und der Europäischen Union (EU) ab. "Der Aufstieg Chinas zur Schneiderei der Welt ist nicht mehr aufzuhalten", sagt Eric Heymann, Branchenanalyst der Deutschen Bank.
Die letzte Hürde für die Übermacht China sollte zum Jahreswechsel 2004/2005 fallen. Nach vier Jahrzehnten sollte der internationale Textil- und Bekleidungshandel endgültig den allgemeinen WTO-Regeln der Handelsliberalisierung und Nicht-Diskriminierung unterliegen. Das Welttextilabkommen - und somit die Importquoten für chinesische Textilien - endete auch. Doch führten die Proteste der traditionellen Produ-zentenländer aus Süd- und Osteuropa Mitte Juni 2005 zu neuen Quoten.
"Die Schutzfunktion neuer Quoten für die heimische Produktion in der EU und den USA wird überschätzt", sagt Heymann. Zumal bis Ende 2008 alle Quoten laut WTO endgültig fallen müssen. Und auch in diesem Zeitraum bieten neue Quoten den traditionellen europäischen Herstellerländern wie Italien, Portugal und Spanien nur scheinbare Sicherheit. Das Handelsministerium in Peking erklärte jüngst, China werde in den kommenden zwei Jahren seinen Anteil am europäischen Textilmarkt auf ein Drittel ausbauen. Quoten hin, Quoten her.
Vor allem große chinesische Textilproduzenten haben ihre Produktion nicht nur auf das heimische Reich konzentriert. Sie weichen in andere Nachbarstaaten aus, die keinen Quoten unterliegen und die Standarderzeugnisse günstig herstellen und liefern können. Der Hersteller Tack Fat Group aus Hongkong etwa lässt schon lange in Kambodscha fertigen. Auf die neuen Quoten reagierte der Lieferant von internationalen Handelsketten und Marken schnell, flexibel und pragmatisch. Bis Ende März will Tack Fat die Produktion um ein Drittel erhöhen und rund 100 Milliarden Dollar in Kambodscha investieren - "made in Cambodia" steht künftig auf den Etiketten des chinesischen Textilriesen.
Die Gründe für den Aufstieg Chinas zur Welttextilmacht liegen dabei nicht ausschließlich im hohen Arbeitskräftepotenzial. Auch sind die Stundenlöhne in Indien, Bangladesch und Kambodscha eher niedriger als höher. China zeichnet sich durch die geringste Abhängigkeit von Importen textiler Vorprodukte aus. So ist das Land zum Beispiel auch der weltgrößte Produzent von Baumwolle. Die Wertschöpfungskette ist somit komplett integriert. Die Produktivität der chinesischen Bekleidungsexporteure erreicht 55 Prozent des US-Niveaus - die der indischen Kollegen liegt nur bei 35 Prozent.
Zurückzuführen ist die hohe Produktivität auch auf massive Investitionen in den vergangenen Jahren. Nach Angaben der International Textile Manufactures Federation (ITMF) wurden von 1994 bis 2003 über 55 Prozent aller weltweit ausgelieferten Webmaschinen in China installiert. Allein deutsche Firmen lieferten nach Angaben des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) 2004 Textilmaschinen im Wert von einer Milliarde Euro ins Reich der Mitte. "China ist nicht nur billig. China ist auch technologisch auf der Überholspur", sagt Peter Breuer, Konsumgüter- und Chinaexperte der Unternehmensberatung McKinsey.
Japan bestand nie auf Einfuhrquoten
Welche Rolle China als Lieferland spielen kann, zeigt das Beispiel Japan. Das Land zählt mit den USA und Europa zu den weltgrößten Bekleidungs- und Textilimporteuren, bestand allerdings nie auf Einfuhrquoten. Gut 80 Prozent seiner Bekleidung kommt heute aus China.
Pekings Vormachtstellung erdrückt die süd- und osteuropäischen Länder, die sich im Schatten der Quoten ihre traditionellen Strukturen bewahrt, oder Länder, die sich erst zu Textilproduzenten entwickelt haben. Dazu gehören asiatische Länder wie Bangladesch, Sri Lanka, Indonesien und die Philippinen. Einen ersten Vorgeschmack erhielten diese Staaten Anfang des Jahres. Nach dem vorläufigen Fall der Quoten schossen in der Europäischen Union die Importe aus China in die Höhe - während die Lieferungen aus anderen Ländern dramatisch zurückgingen.
Auch die wegen ihrer regionalen Nähe zur EU und den USA als verlängerte Werkbänke fungierenden Länder spüren die Stärke Chinas. "Mexiko, die Karibik-Staaten, Osteuropa, die Türkei und Nordafrika werden für die USA und die EU nur dann wichtige Lieferländer bleiben, wenn sich diese künftig stärker auf Qualität, Liefergeschwindigkeit und Design konzentrierten", schreibt Hildegunn Kyvik Norda, Branchenanalystin bei der WTO in Genf.
Dass China droht, gerade auch diesen Ländern den Rang abzulaufen, zeigt die Befragung von 200 deutschen Bekleidungsherstellern durch die Technische Universität Darmstadt. China ist demnach nicht nur im Hinblick auf die Arbeitskosten unschlagbar günstig. Auch in Bezug auf Qualität und Lieferzuverlässigkeit hat China die Türkei abgehängt. "Die Nähe zum deutschen Markt wird von vielen türkischen Lieferanten noch unzureichend genutzt. Mit ihrer Unpünktlichkeit ecken sie bei deutschen Herstellern an", berichtet Hans-Christian Pfohl, Professor für Unternehmensführung und Logistik an der TU Darmstadt. Nur in der Trendberatung seien türkische Lieferanten ihren chinesischen Konkurrenten noch überlegen. Allerdings ist die Trendberatung für viele deutsche Bekleidungsunternehmen von geringer Bedeutung. Mehr als die Hälfte der befragten 200 Hersteller nutzen überhaupt keine externe Trendberatung.
Der Stern der Türken sinkt
Die Stärken und Schwächen der beiden Länder spiegeln sich in den Produktschwerpunkten wider. Schwer konfektionierende Bekleidungsstücke wie Jacken, Mäntel und Anzüge werden vor allem aus China bezogen. Ihre lohnintensive Produktion wäre in der Türkei viel teurer. Demgegenüber hat sich die Türkei als Fertigungsland für das hochmodische Bekleidungsstück Jeans profiliert. Läuft alles glatt, ist die Ware aus der Türkei binnen drei Werktagen da. Ein Schiff von Shanghai nach Rotterdam ist im Durchschnitt 27 Tage unterwegs. Allerdings sinkt auch dieser Stern der Türken. "Händler steigen bei hochmodischen Produkten zunehmend auf Luftfracht um. Der Arbeitskostenvorteil in China ist so hoch, dass die Transportkostennachteile überkompensiert werden", beobachtet Breuer. Die Schnelligkeit in der Produktion und im Transport sind nötig, da sich die Trends immer schneller überholen.
In Deutschland hat sich die Modeindustrie in den vergangenen Jahren wie in kaum einem anderen Land umgekrempelt. Der arbeits- und lohnintensive Herstellungsprozess von Kleidern ließ der Branche im Hochlohnland Deutschland schon Ende der 70er-Jahre kaum eine Alternative. Kreiert, gemanagt und vertrieben wird heute aus Deutschland, geschnitten und genäht in der Türkei, in Osteuropa und in Asien, zunehmend in China. Gefertigt werden hier zu Lande nur noch Musterkollektionen, wenn man von Nischen wie den Trigema-Werken in Baden-Württemberg absieht. 95 Prozent ihrer Waren importieren die deutschen Bekleidungshersteller. Jedes dritte Teil kommt aus China. In den vergangenen zehn Jahren schrumpfte die Zahl der Beschäftigten noch einmal um über 60 Prozent auf rund 45.000.
Der Strukturwandel hat die deutsche Modebranche stark gemacht. Die Aushängeschilder sind internationale Konzerne wie Hugo Boss, Escada und Gerry Weber mit mehreren tausend Angestellten und eigenen Produktionsstätten auf der ganzen Welt. Sie glänzen mit ihren Marken.
Das in anderen Branchen wie dem Maschinenbau gültige Qualitätssiegel "made in Germany" zählt in diesem Falle nicht. Noch flexibler zeigen sich die mittelpreisigen Modekonzerne. Tom Tailor aus Hamburg, Esprit aus Ratingen oder Street One aus Hannover sind lediglich noch Großhändler mit angeschlossener Design- und Marketing-Abteilung. Sie verfügen weder über eigene Fabriken noch über eigene Läden. Ihre Kreationen fertigen Lieferanten in Asien, die zum Teil von Saison zu Saison wechseln. Die deutsche Modeindustrie hat sich somit auf das konzentriert, was sie kann: nämlich grundsolide Kleider massenhaft produzieren zu lassen. Eine Zukunft als Produktionsstandort hatte und hat Deutschland nicht.
Die Mode-Avantgarde sitzt aber nach wie vor im Süden Europas - und hat sich ihre etablierten Traditionen und Strukturen weitgehend bewahrt. Produziert wird noch stark im eigenen Land, mit der Schneiderei im eigenen Haus kann rasch auf modische Trends reagiert werden. Beispiel Italien: "Made in Italy" ist nach wie vor das Qualitätsmerkmal in der Modeszene. Ein Aushängeschild, das sich aber nur noch Luxuskonzerne wie Prada oder Ermenegildo Zegna leisten können. Über diese feine, kleine Welt des Luxus hinaus werden sich auch die Südeuropäer der Welttextilmacht China beugen müssen. Quoten hin, Quoten her.
Tanja Kewes ist Redakeurin beim "Handelsblatt" in
Düsseldorf.