Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 47 / 21.11.2005
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Oliver W. Schwarzmann

Boom auf Pump ist eine Milchmädchenrechnung

Die Macht der Finanzströme: Wie sie die wirtschaftliche Entwicklung ganzer Kontinente bestimmen und "künstliche" Finanzkrisen erzeugen können

Die Analyse der augenscheinlichen Übermacht der Finanzströme und der offenkundigen Krisenanfälligkeit, die sich im wachsendem Maße über alle Volkswirtschaften hermacht, entspringt einem Phänomen, das sich am besten als Beschleunigung des globalen Kapitalismus beschreiben lässt. Für die geradezu wildwüchsige Dynamik des internationalen Finanzsystems lassen sich fünf wesentliche Ursachen beziehungsweise Ingredienzien festmachen:

Der technologische Fortschritt: Die elektronische Vernetzungsdichte ermöglicht finanzielle Transaktionen um die Welt in Sekundenschnelle, jenseits jeglicher Physis einer Volkswirtschaft, der Authentizität eines Marktes oder der Plausibilität seines Wachstums. Die Zunahme der weltweiten Verwebung von Finanz-, Wirtschafts- und Unternehmenssystemen erhöht Anzahl und Geschwindigkeit internationaler Einflussfaktoren auf nationale Volkswirtschaften. Das sich beschleunigende Zusammenspiel von ökonomischen Abhängigkeiten, Wechselwirkungen und Konstellationen steigert die strukturelle Labilität des internationalen Wirtschaftssystems. Instabilität wird zur Konstante der ökonomischen Entwicklung. Und Instabilität ist der Nährboden für Finanzkrisen. Hinzu kommt: Je dichter und offener die nationalen Märkte in der globalen Ökonomie werden, desto höher ist die Kapitalmobilität und desto mehr Raum finden kurzfristige Investitionen. Kurzfristigkeit ist das Wesen der Spekulation. Und Spekulation ist der Treibstoff für Finanzkrisen.

Gigantisches Potenzial

Die Öffnung geschlossener Märkte: Mit dem Niedergang kommunistischer und sozialistischer Systeme öffneten sich bis dato abgeschottete Märkte mit einem gigantischen Potenzial an gut ausgebildeten Fachkräften auf niedrigem Lohnniveau. Diese Entwicklung setzt nach wie vor etablierte und hochpreisige Lohnländer unter Druck, da im globalen Business dort produziert werden kann, wo es am billigsten ist. So werden bisher nahezu unbekannte Regionen via Outsourcing ruckartig an die Weltwirtschaft gekoppelt.

Zudem ergibt sich daraus ein weiterer Aspekt: Der Kapitalismus ist ohne Konkurrenz, immer mehr Volkswirtschaften folgen ihm. Der bisher äußere Wettbewerb der unterschiedlichen Systeme verlagert sich in das Innere des Kapitalismus und führt zu einem massiven Verdrängungswettbewerb unter seinen Teilnehmern. Dieser Verdrängungsdruck gipfelt in einen Kampf um Wettbewerbsfähigkeit. Internationale Wettbewerbsfähigkeit wird in Innovation, Dynamik, aber vor allem noch in Preisen gemessen. Immer mehr Volkswirtschaften bemühen sich daher, die Nase möglichst schnell und kostengünstig vorne zu haben, was sie für schnelles Geld öffnet. Es werden sich nach und nach Länder für den globalen Markt anbieten, die heute noch unerschlossen oder durch Konflikte gehemmt sind.

Die Liberalisierungsbewegung: Immer mehr Länder wollen am internationalen Wirtschaftssystem ihren Anteil haben, öffnen sich damit dem globalen Kapitalismus, senken Beschränkungen und Kontrollen oder setzen sie komplett aus. Viele Länder, deren Finanzstruktur noch nicht reif für die Kraft des globalen Kapitals oder zu klein für dessen Massen ist, profitieren letztlich kaum bis nicht vom Zulauf internationaler Finanzen. Sobald Währungsaufwertungen zu stark und Auslandsschulden zu hoch werden und die Volkswirtschaften in strukturelle Probleme geraten, zeigt sich vor allem kurzfristig orientiertes Kapital als extrem flüchtig. Die einsetzende Kapitalflucht löst die Umkehrung der zunächst positiven Effekte aus und führt in die Währungsabwertung, die durch entsprechende Spekulationen beschleunigt wird. Die Anhäufung solcher Finanzkrisen birgt einen Lerneffekt für ein neues Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit dem erleichterten Zugang zum globalen Kapital.

Die Herden werden größer: Durch die herrschende Vernetzungsdichte der globalen Märkte und die internationale Kapitalmobilität kommt es zu einer Verstärkung von Finanzströmungen. Wie beim Dominoeffekt bauen sich Investitionsbewegungen auf oder Krisen verbreiten sich epidemisch. Zwar erhöht sich mittels der Informationsdichte die Transparenz der Märkte, dennoch basieren Entscheidungen von Anlegern auf dem Phänomen des Massentrends. Dieser ist an sich nicht verwerflich, denn Wachstum ist auf eine Expansion der Nachfrage angewiesen, dennoch hat jeder Markt eine begrenzte finanzielle Aufnahmekapazität. Wird der kritische Massepunkt durch das bekannte Herdenverhalten überschritten, kommt es sowohl zum strukturellen Zusammenbruch als auch zu irrationalem Verhalten, das die Situation verschärft. Hochspekulative Hedgefonds verstärken diesen Hebelmechanismus, da sie die Herden organisieren. Die Bündelung von Investoren besitzt durch die so mögliche Ansammlung gigantischer Mittel eine hohe Spekulationsmacht. Allerdings geraten Hedgefonds selbst unter Druck, denn durch ihre wachsende Kapitalgröße werden sie auch träger und benötigen sowohl aufnahmebereite als auch aufnahmefähige Märkte. Es wird, wie gesagt, auch zukünftig spekulative Boomlands geben, doch durch die weltweit steigende Spezialisierung der Märkte verändern sich Wachstumsstrukturen, die zunehmend Investitionen in Forschung, Entwick-lung und Bildung erfordern. Auf die veränderten Wachstums- und in Folge Profitbedingungen reagieren Equity-Manager verstärkt mit nachhaltigen Investitionsstrategien.

Globalisierung und Regionalisierung: Mit dem internationalen Wirtschaftssystem verhält es sich wie mit dem Klima: Zwar braut es sich global zusammen, doch interessieren sich die Menschen vielmehr für das Wetter vor Ort. Je intensiver und volatiler die internationalen Verflechtungen werden, desto stärker sind die regionalen Auswirkungen oder anders gesagt - die regionalen Unterschiede werden größer. Eine Entwicklung, welche die Regionalisierung zu einem der heißesten Themen der kommenden Jahre machen wird. Denn Aufmerksamkeit und Sensibilität für regionale Effekte werden durch den internationalen Einfluss steigen. Der gesteigerte Fokus auf nationale Interessen und die Abschottung regionaler Handelsblöcke sind die Folge. Da sich die ökonomische Globalisierung derzeit noch durch regionale Handelsblöcke organisiert, äußert sich die Absicht aufstrebender Volkswirtschaften im globalen Markt anzukommen in einem wachsenden Teilnahmedruck auf die bestehenden Handelsblöcke. Was den bereits erwähnten, internen Verdrängungswettbewerb verstärken wird, denn die wachsenden Handelsblöcke geraten immer mehr in ein Mahlwerk zwischen der Optionalität freier Märkte, dem Teilnahmedruck aufstrebender Volkswirtschaften, einem verschärften Verdrängungswettbewerb und der Sicherung ihrer jeweils regionalen beziehungsweise bündnisorientierten Interessen. Damit hängt der Globalisierungserfolg an der Verbindung zwischen internationaler Freiheit und regionalem Nutzen.

Macht am Scheideweg: Die Beschleunigung des globalen Kapitalismus ist unumkehrbar. Die hohe Kapitalmobilität ermöglicht schnelle, spekulative Investitionen, die wachsende Verkettung der Märkte erschafft neue Hebelwirkungen, deren Kräfte sich multiplizieren. Das globale Wirtschaftssystem benötigt für seine Funktion daher neben einem strukturellen, abgestimmten Wachstum ein ausbalanciertes Verhältnis zwischen Vermögen und Verschuldung, zwischen Gewinnern und Verlieren. Selbst Spekulationen sind ohne funktionierende Finanz- und Wirtschaftssysteme nicht möglich, weshalb auch Spekulanten daran gelegen sein wird, den Raum ihrer Investitionen zu erhalten.

Auf der Suche nach Märkten

Die wirtschaftsstarken Finanzzentren produzieren auch weiterhin durch ihr hohes Vermögen große Liquiditätsmengen, die immer auf der Suche nach geeigneten Märkten sind, die schnelle Rendite versprechen. Es sind auch noch genügend aufstrebende Länder in der Pipeline, die für schnelles Kapital aufnahmebereit sind und damit ihr dynamisches Wachstum meist über kurzfristige Konsum-, Immobilien- oder Aktienbooms versorgen. Boom auf Pump ist eine Milchmädchenrechnung, bei dem schlussendlich das Land selbst auf der Strecke bleibt. Gerade die Finanzkrisen in den 1980er- und 1990er-Jahren sind auf kurzfristige (Auslands-)Kredite zurückzuführen und dann als Menetekel zu werten, wenn sich die spekulative Kurzfristigkeit als Prinzip der Kapitalströme erhält. Doch die Bereitschaft aussichtsreicher Wachstumsländer, über kurzfristige Kredite schnelle Investitionen für den schnellen Boom zu tätigen, wird zunehmend in Frage gestellt. Denn der beschriebene Verdrängungsdruck erfordert eine Verlagerung des Investitionsfokus auf die Sicherung und Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Die ist in den kommenden, hoch spezialisierten Wissensmärkten zunehmend durch Innovation und Flexibilität zu erzielen. Beides benötigt kreatives Potenzial, Wissen und technologische Infrastruktur. Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung sind nicht auf kurzfristige Effekte zu reduzieren, sondern orientieren sich an einer hochwertigen Zukunftsvision. Die Macht der Finanzströme steht somit am Scheideweg ihrer bisherigen Absicht: Sie muss sich nun an nachhaltigen Perspektiven orientieren, um sich selbst zu erhalten.


Oliver W. Schwarzmann war früher im Bankgeschäft tätig und arbeitet heute als Publizist zu Finanzthemen im Raum Stuttgart.


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