Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 25 / 19.06.2006
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Silvia Feist

Städte am Meer: New York - Heimat der Einwanderer


Manchmal vergessen die New Yorker, dass sie am Wasser leben. Die Stadt ist Stein. Ihre Ströme sind Finanzen. Ihre Wellen, Kunst, Mode und Musik. Dabei kann man nirgends in Manhattan auch nur zwei Kilometer vom Ufer entfernt sein. Und weder die Stadt noch das Land wären heute das, was sie sind, läge New York nicht am Atlantik und am Hudson. Doch in diesem Frühjahr inszeniert sich New York als Hafenstadt. Das hat nichts mit dem Rekordhoch im drittgrößten Containerhafen der USA zu tun, wo der Wert der umgesetzten Fracht 2005 um mehr als 15 Prozent auf 132 Milliarden Dollar gestiegen ist. Es liegt an der Einweihung eines neuen Bootlandungsstegs. Einem millionenteuren Pier für die "Queen Mary 2" und ihre Luxuslinerschwestern wie die "Princess Crown", die hier gerade Mitte Juni zu ihrer Jungfernfahrt aufgebrochen ist.

So wie in der Frühphase der Stadt Schiffe Reich und Arm zusammen ins Land brachten, trifft jetzt der Luxus dieser Schiffe auf eine der ärmsten Nachbarschaften. Denn sie legen nicht in Manhattan an, sondern in Brooklyn. Genau genommen in Red Hook, einem Viertel, das seine Glanzzeiten hatte, als Marlon Brando sich hier vor mehr als 50 Jahren einen Oscar als Hafenarbeiter erspielte. Damals arbeiteten mehr als 40.000 Männer in den Docks, heute sind es noch rund 3.000. Nun soll die Schifffahrt erneut zum Wachstumsmotor werden. In der unerwarteten Luxusvariante, von der sich viele einen Wirtschaftsimpuls für das Viertel versprechen, in dem lange Zeit nichts war als die "Projects", eine Armensiedlung in der fast niemand Arbeit hatte. Ein paar Künstler zogen in die Nachbarschaft, weil die Mieten billig waren, Investoren erkannten das Potenzial der baufälligen Docks und der Grundstücke am Wasser. Und seitdem die Königinnen und Prinzessinnen der Meere hier ankern, wartet die Gegend auf ihren Aufschwung. Der Atlantik als Schicksalsmacher.

Die Entwicklung der Stadt, die sich heute als Zentrum der Welt versteht, begann gemächlich. Eine französische Expedition hatte 1524 die Bucht von New York entdeckt. Doch es dauerte noch 100 Jahre, bis sich die ersten weißen Siedler in Manhattan niederließen. Dann wuchs die kleine Kolonie schnell zur größten Stadt Amerikas und als 1825 der Erie-Kanal fertig gestellt wurde, begann New Yorks Aufstieg zum wichtigsten Hafen des Landes. Der Kanal verband den Atlantik über den Hudson River mit dem Erie-See und den anderen Großen Seen. "Go west" war nie zuvor so einfach gewesen, und gleichzeitig mit der zunehmenden Besiedlung des Mittleren Westens wurde der Kanal zum Haupthandelsweg, der die Kornkammern und fetten Viehweiden des Herzlandes mit der Ostküste verband. Amerika, das goldene Land.

Für jeden, der weiterzog, gingen gleich mehrere Neueinwanderer in New York von Bord. Iren, die vor der Hungerkatastrophe in ihrem Land flohen, landlose Bauern, arbeitslose Handwerker, politisch Verfolgte, die nach der Deutschen Revolution von 1848 in eine freiere Welt aufbrachen. 1870 war New York der geschäftigste Hafen der westlichen Welt. Zu dieser Zeit überschritt Manhattans Einwohnerzahl erstmals die Millionengrenze - ein Drittel darunter Deutsche. Der Beginn der Dampfschifffahrt beflügelte die nächste Einwanderungswelle. Allein im Spitzenjahr 1907 wagten mehr als 1,25 Millionen Menschen den Aufbruch in die neue Welt. Ein Viertel der Neuankömmlinge machte New York zu ihrer Heimat. Die Schiffe legten damals in Manhattan an den Hudson Piers an. Wer es sich leisten konnte, erster oder zweiter Klasse zu reisen, der durfte hier von Bord. Alle, die die Passage im Zwischendeck gebucht hatten, mussten auf eine Fähre nach Ellis Island warten. Die kleine Insel vor den Küsten Manhattans und New Jerseys trug den Beinamen "Insel der Tränen", denn für fast 300.000 Menschen endete der Traum von Amerika hier und sie wurden zurück nach Europa geschickt. Mehr als zwölf Millionen Menschen wanderten bis 1924 über Ellis Island ein. Fast jeder zweite Amerikaner soll die Wurzeln seiner Familie auf die Insel zurückverfolgen können.

Der Hafenbetrieb rückte im Laufe des 20. Jahrhunderts aus dem Blick. Manhattan entwickelte sich zum Finanz- und Kulturzentrum der Welt. Das Hafengeschehen verlegte sich nach Brooklyn, Staten Island und an die Küste des Nachbarstaats New Jersey. Zusammen bildeten diese Containerterminals bis Anfang der 90er-Jahre den größten Hafen der USA. Dann zogen Los Angeles und Long Beach vorbei. New York hatte plötzlich das Nachsehen im Vergleich zu den Hafenstädten an der Westküste.

Der Terroranschlag vom 11. September stellte die Häfen vor eine neue Herausforderung: Millionen von Containern aus aller Welt. Und in jedem konnte eine schmutzige Bombe stecken; ein konventioneller Zünder und geringe Mengen radioaktiven Materials oder biologischer Kampfstoffe - und eine ganze Stadt könnte jahrzehntelang unbewohnbar werden. "Container Security Unit" heißt das Pilotprogramm, mit dem nicht nur New Yorks Hafen für die Zukunft gesichert werden soll. Die Einheit wird per Satellit rund um die Uhr überwacht und prüft, ob ein Container unerlaubt geöffnet wurde. Die Welt ist zu komplex geworden, um eine schnelle Lösung zu erwarten.

In Red Hook, anderthalb Kilometer vom Luxusanlegesteg, hat der exklusive Lebensmittelmarkt Fairway eröffnet. Die Angestellten, die etwas verloren erscheinen zwischen teurem französischen Käse und australischem Wein, leben in den Projects. Für die meisten ist es der erste Job ihres Lebens. Der Laden steht am Ufer. Der Blick auf Manhattan. Gute Aussichten.

Die Autorin berichtet als freie Korrespondentin aus den USA.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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