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Ansprache anläßlich der gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat am 1.7.1999 zu Vereidigung und Amtsantritt von Bundespräsident Johannes Rau

Es gilt das gesprochene Wort

"Im Namen des Deutschen Bundestages und des Bundesrates heiße ich unsere Ehrengäste aus dem In- und Ausland willkommen. Besonders herzlich begrüße ich den scheidenden Bundespräsidenten, Prof. Dr. Roman Herzog, und seine Frau Christiane sowie unseren künftigen Bundespräsidenten Johannes Rau mit seiner Frau Christina.

Heute morgen haben wir in einer langen und eindringlichen Debatte über 50 Jahre Demokratie in Deutschland diskutiert. Dabei stand der Abschied von Bonn im Mittelpunkt - und der Dank für das, was von und in dieser Stadt in fünf Jahrzehnten Bundesrepublik Deutschland geleistet worden ist.

Der Wechsel vom Rhein an die Spree steht schon in wenigen Tagen an. So ist unsere gemeinsame Sitzung zugleich die letzte in diesem Plenarsaal. Wir haben uns hier zur Vereidigung und Amtseinführung des neugewählten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland versammelt. Gleichzeitig wollen wir Prof. Dr. Roman Herzog danken, der nach fünf Jahren aus dem Präsidentenamt ausscheidet.

Die Verabschiedung des bisherigen und die Amtseinführung des neuen Bundespräsidenten im Deutschen Bundestag in Bonn spiegelt jene Ver änderungsprozesse wider, in denen wir seit 1990, dem Jahr der deutschen Einheit stehen. Erinnern wir uns: Sie, sehr geehrter Herr Prof. Herzog, wurden in der ersten gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat im Berliner Reichstagsgebäude am 1.7.1994 in Ihr Amt eingeführt. Als erstes der Verfassungsorgane haben Sie schon bald darauf Ihren Amtssitz nach Berlin verlegt. Ihr Nachfolger Johannes Rau, wird als erster Bundespräsident von Anfang an in Schloß Bellevue amtieren. Gleichwohl haben beide, der bisherige wie der neugewählte Präsident, sich stets in besonderer Weise auch Bonn verbunden gefühlt. Wenn nun die Verabschiedung von Roman Herzog und die Amtseinführung von Johannes Rau als letzte Sitzung hier im Bonner Plenarsaal stattfindet, stiftet dies eine Verbindung zwischen dem alten und dem neuen Parlaments- und Regierungssitz, der wir über den heutigen Dank an Bonn hinaus Bestand wünschen.

An die Spitze unseres Gemeinwesens haben die Väter und Mütter unserer Verfassung unseren Bundespräsidenten gestellt. Das höchste Staatsamt in unserer zivilen Bürgergesellschaft wird in besonderem Maße von der Persönlichkeit des Amtsinhabers geprägt. Sie, sehr geehrter Herr Prof. Herzog, brachten hierfür eine Voraussetzung mit, die in dieser Form keinem Ihrer Vorgänger gegeben war. Als der Verfasser des maßgeblichen Verfassungskommentars zum Amt des Bundespräsidenten vermochten Sie die souveräne Kenntnis der Verfassungstheorie in die politische Praxis Ihrer Amtsführung einfließen lassen. Anders ausgedrückt: Bei schwierigen Fragen konnten Sie mit sich selbst zu Rate gehen. Ich darf - sicher in unser aller Namen - feststellen: Diese ungewöhnliche Konstellation hat dem höchsten Amt in unserem Staat zusätzlichen Respekt verschafft.

In Ihrer Antrittsrede haben Sie 1994 klare Schwerpunkte gesetzt und sie in den folgenden Jahren - im ganz wörtlichen Sinne - abgearbeitet. Das Zueinanderführen der Menschen in Ost und West war Ihnen ein sehr persönliches Anliegen.

Mit einer Vielzahl von Besuchen haben Sie, wie Sie gelegentlich humorvoll anmerkten, die ostdeutschen Landschaften, Städte und Gemeinden geradezu "durchpflügt". Dabei ging es Ihnen vor allem um das Zuhören. Sie hatten stets ein offenes Ohr für die Probleme und Erfahrungen der Ostdeutschen. Damit haben Sie ein Beispiel gesetzt, geht es doch darum, den oder die anderen mit ihren Lebensgeschichten ernst zu nehmen. Ihr Interesse, Ihre Offenheit und Einfühlsamkeit ist im Osten wie im Westen aufmerksam registriert worden. Dieses Engagement für das Zueinanderfinden der Deutschen wird von den Menschen nicht vergessen werden. Und - noch wichtiger: Es hat Schule gemacht.

Ihr besonderes Augenmerk galt der Notwendigkeit, veraltetete Denkweisen und überkommene Strukturen zu verändern. Immer wieder machten Sie deshalb auf die Folgen der Globalisierung und des technologischen Wandels aufmerksam. Der Bildung und Ausbildung wieder zu dem ihnen gebührenden Stellenwert zu verhelfen, war eines Ihrer gelungenen Anstrengungen, die sich aus dieser Überzeugung ergab. Bildung - die Sie immer in einem umfassenden Sinne verstanden haben - ist unverzichtbare Voraussetzung für Mündigkeit, für die Ausbildung von Urteils- wie Kritikfähigkeit. In den Zugangschancen zur Bildung wie in der Effizienz unseres Bildungssystems liegen entscheidende Voraussetzungen für die Einübung von Partizipation und Zivilcourage, aber ebenso von Solidarität und Gemeinwohldenken.

Bildung - so wurden Sie nicht müde zu erklären - ist dabei zugleich Voraussetzung für unsere Zukunftssicherung. Nur wer bereit ist, stets weiterzulernen, wer sich für Veränderung und Innovation offen zeigt, bleibt zukunftsfähig. Das gilt für die Einzelne wie für die Gesellschaft insgesamt.

In der immer enger zusammenrückenden Welt weisen diese Perspektiven über die Grenzen unseres Landes und unseres Kontinents hinaus.

Diese Beziehungen zu unseren europäischen Nachbarn haben Sie umsichtig gepflegt und gefördert. Dabei lagen Ihnen enge Kontakte zu Osteuropa, namentlich zu Polen, besonders am Herzen. Dies ist auch von den Westeuropäern richtig verstanden worden als das Ziel, das ganze Europa zusammenzuführen. Nur so können wir unserer Verantwortung auch für andere Teile der Welt gerecht werden. Ihre Besuche auf den anderen Kontinenten unseres Globus, in Afrika und in Asien, im pazifischen Raum wie in Nord- und Südamerika haben dies immer wieder bewußt gemacht - den Gastgebern, aber auch uns selbst.

In diesem Zusammenhang wird immer häufiger von der 'einen Welt' gesprochen. Sie, sehr geehrter Herr Prof. Herzog, haben uns die Konsequenzen dieses Verständnisses vor Augen geführt. Leben in der 'einen Welt' - das bedeutet, nicht mehr nebeneinander, sondern miteinander zu leben, es bedeutet, aufeinander angewiesen zu sein. Wir müssen - so Ihre Aufforderung - begreifen, daß die globalen Probleme nur global, also gemeinsam gelöst werden können. Das ist leichter gesagt als getan, denn es bedarf der Anstrengung, Fremdheiten und Vorurteile abzubauen, aufeinander zuzugehen und mehr übereinander in Erfahrung zu bringen.

In diesem Sinne haben Sie das Gespräch zwischen den Religionen und Kulturen gefordert und gefördert. Dieser interkulturelle Dialog kann nur gelingen - auch dies haben Sie immer wieder herausgestellt -, wenn wir uns auf das Anders-sein fremder Kulturen einlassen, was Offenheit, Sensibilität und Toleranz voraussetzt.

Das Amt des Bundespräsidenten ist in besonderer Weise dem geschriebenen und gesprochenen öffentlichen Wort verbunden. Wie kein anderes Amt eröffnet es die Chance, Denkanstöße zu geben, Aufmerksamkeit zu lenken auf Entwicklungen und Probleme, die im gesellschaftlichen wie im politischen Bewußtsein nicht oder noch nicht so klar gesehen werden.

Dies ist Ihnen, sehr geehrter Herr Prof. Dr. Herzog, auf unverwechselbare Weise gelungen. Sie haben so mit den Menschen gesprochen, daß sie verstanden werden konnten. Die Klarheit und Eindringlichkeit Ihrer Sprache, Ihre ebenso präzisen wie prägnanten Formulierungen, Ihre Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte zu übersetzen, haben die Distanz überwunden, die das höchste Staatsamt zu schaffen vermag. Das hat der Demokratie und es hat der Würde Ihres Amtes gut getan. Wir, Politikerinnen und Politiker aller Parteien und auf allen Ebenen können uns daran ein Beispiel nehmen. Ihren Humor und Ihre unverwechselbare Neigung zu milder Ironie wird niemand nachahmen können. Auch damit haben Sie dem höchsten Amt eine besondere Farbe gegeben, Ihren persönlichen Stempel aufgeprägt.

In allen diesen Aufgaben wurden Sie von Ihrer Frau Christiane unterstützt. Sehr geehrte Frau Herzog, Sie haben sich engagiert, sich eingesetzt, sich bewährt, als ob Sie selbst von der Bundesversammlung gewählt worden wären. Sie waren die erste Frau in unserem Staat, und deshalb gebührt Ihnen persönlich ein besonderer Dank, eine besondere Anerkennung. Gemeinsam habe Sie sich um die Randgruppen unserer Gesellschaft, um Arme, Obdachlose, um arbeitslose Jugendliche und älteren Menschen in schwierigen Lebenslagen gekümmert. Sie haben stets über die Grenzen unseres Landes hinaus- gewirkt und -gedacht. Auf Not und Kranheit in den armen Ländern des Südens, und in anderen Teilen der Welt haben Sie ebenso aufmerksam gemacht, ebenso unsere Solidarität eingefordert wie für die Benachteiligten im eigenen Land.

Bei allem politischen Engagement haben Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, die parteipolitische Neutralität Ihres Amtes gewahrt. Aber nicht, indem Sie in der Sache selbst, der Sie sich widmeten, allen Meinungen gerecht zu werden suchten. Sie haben die parteipolitische Neutralität gewahrt durch Kritik, durch Anregungen, die mal die eine, mal die andere Seite besonders herausgefordert hat. Als heilsam werden es auch viele empfunden haben, vom Bundespräsidenten zu erfahren, daß es auch ein Leben neben der Politik gibt. Die Politik kann nicht alles und sie ist auch nicht alles. Der erste Bürger in unserem Gemeinwesen hat uns allen in den vergangenen fünf Jahren gezeigt, was es heißt, nah beim Leben der Menschen zu sein. Ihr Beispiel beweist, daß es sich lohnt, auf die Bürgerinnen und Bürger zuzugehen, sie anzuhören und sie zu ermutigen zum Engagement für die parlamentarische Demokratie.

In diesem Sinne, sehr geehrter Herr Prof. Herzog, wird Ihre 5jährige Amtszeit zukünftig reiche Früchte tragen. Hierfür danken wir Ihnen sehr herzlich. Wir wünschen Ihnen und Ihrer Frau für die Zukunft alles Gute, vor allem Gesundheit und Zufriedenheit.

Sehr geehrter Herr Rau, Sie werden heute Ihr Amt antreten, in das Sie die Bundesversammlung am 23. Mai gewählt hat. Dieses Amt steht auch für die Kontinuität der jungen deutschen Demokratie. Zugleich bedeutet jede Persönlichkeit, die dieses Amt antritt, einen Neuanfang. Es ist ein guter Anfang, daß die Bundesversammlung offenbar eine Wahl getroffen hat, die mit der Wahl der Mehrheit der Menschen im vereinten Deutschland übereinstimmt. Sie bringen Ihnen Ihr Vertrauen entgegen.

Ich wünsche Ihnen im Namen aller, die hier versammelt sind, in diesem Sinne eine glückliche Hand."

Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/1999/019
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