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Bundestagspräsident Thierse spricht bei Bußgottesdienst 22.11.2000

Es gilt das gesprochene Wort

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse nimmt heute an einem Bußgottesdienst von amnesty international in Hamburg (Hauptkirche St. Katharinen, Katharinenkirchhof 1) teil. In einer Rede während des Bußgottesdienstes führt der Bundestagspräsident aus:

Vor einigen Wochen bin ich gefragt worden, zu welchem Thema ich heute sprechen möchte. "Über den Umgang mit Fremden in unserer Mitte", habe ich geantwortet - und nicht geahnt, dass wenig später eine politische Debatte das Selbstverständliche meiner Formulierung in Frage stellen würde: dass nämlich Menschen fremder Herkunft mitten in dieser Gesellschaft leben. Doch nun kursiert ein Schlagwort, das suggeriert, die "Mitte" dieser Gesellschaft sei den Deutschen vorbehalten. Nun führen wir plötzlich eine Diskussion, die den Anschein erweckt, das Zusammenleben in dieser Gesellschaft sei von Ausländern bedroht - und nicht von Rechtsradikalen.

Ich zumindest habe den Eindruck, dass wir nicht die deutsche Kultur zu verteidigen haben, sondern vielmehr die Fremden, die hier leben. Mir scheint deshalb auch die Frage, wie Einheimische und Fremde miteinander umgehen, bei weitem nicht so abstrakt, wie die aktuelle Diskussion um Begriffe vorgibt. Deshalb möchte ich heute mit einer Geschichte beginnen: mit dem bekannten, aber oft auch verkannten Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

Mit diesem Gleichnis verhält es sich merkwürdig: Es ist so oft gelesen und erzählt worden, dass sich der Ruf der Samariter im Laufe der Jahrhunderte geradezu in sein Gegenteil verkehrt hat. Samariter gelten bei uns als besonders hilfsbereite, barmherzige Menschen. Damals aber galten die Samariter als Ketzer, die von den frommen Juden verachtet und gemieden wurden. Es lohnt sich, das Gleichnis noch einmal so zu erzählen, wie es die jüdischen Gesetzeslehrer damals aufgenommen haben mögen - als eine Geschichte unerhörter Begebenheiten.

Die drei Männer und ihre Rolle sind mit Bedacht gewählt: Mit jedem von ihnen verbindet sich eine bestimmte Erwartung. Aber gleich dreimal werden die Erwartungen der Zuhörer enttäuscht und ihre Vorurteile als haltlos entlarvt: Hilfe erwarten sie vom Priester - aber sie bleibt aus. Hilfe erwarten sie vom Leviten - aber sie bleibt aus. Vom Samariter erwarten sie nichts Gutes - aber er ausgerechnet hilft dem Überfallenen.

Als Nächster hat sich dem Überfallenen derjenige erwiesen, "der barmherzig gehandelt hat" - wie der Gesetzeslehrer sagt. Er sagt nicht etwa: "der Samariter", denn das Gleichnis hat ihm klargemacht: Ob sich jemand als unser Nächster erweist, das hängt nicht davon ab, welchen Glauben, welche Herkunft oder welchen sozialen Status er hat, sondern einzig und allein davon, wie er handelt. Und umgekehrt auch davon, wie wir selbst handeln, wenn der andere auf Hilfe angewiesen ist. Denn wer - wie das Opfer in diesem Gleichnis - die Hilfe des Nächsten entgegen nimmt, der soll auch bereit sein zu helfen, wo seine Hilfe gebraucht wird.

Barmherzigkeit, das heißt, im Menschen den Menschen zu sehen. Das klingt banal und ist doch alles andere als selbstverständlich. Wie oft sind wir schon in ganz alltäglichen Situationen "unbarmherzig"? Wenn wir nach den Ursachen des Rechtsradikalismus suchen, dürfen wir ruhig bei uns selbst anfangen. Das Gleichnis vom Samariter kann uns jedenfalls vor Augen führen, wie schnell aus Vorurteilen eine "Ideologie der Ungleichwertigkeit" (Heitmeyer) werden kann, die die Kraft hat, das Zusammenleben zu vergiften, auch wenn sie aller Vernunft und aller Erfahrung widerspricht.

Jahrzehntelang war der Umgang mit Fremden kein brisantes Thema in Deutschland - in der DDR sowieso nicht, weil sie ein eingesperrtes Land war -, aber auch nicht in der Bundesrepublik, weil man meinte, im Grundgesetz die notwendigen Regeln des Zusammenlebens fest geschrieben und garantiert zu haben. Menschenwürde und Grundrechte sollten nach den schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten in Deutschland nicht mehr verletzt werden.

Doch nun treten rechtsradikale Schläger die Grundlagen dieser Demokratie - die Achtung der Menschenwürde, Toleranz und friedliche Auseinandersetzung - buchstäblich mit Füßen. Wir haben uns auseinanderzusetzen mit Überfremdungsängsten und Ausländerfeindlichkeit, mit Rassismus und Sündenbock-Theorien, denen zufolge Ausländer die Schuldigen an allen möglichen Krisensymptomen seien. Nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in Westdeutschland und in anderen europäischen Ländern steigt die Zustimmung zu rechtsextremem, nationalistischem, rassistischem Gedankengut. Rechtsradikale Parteien haben Zulauf, die Zahl der rechtsextrem motivierten Gewalttaten steigt. 93 Tote in den letzten zehn Jahren, 93 Opfer rechtsextremistischer Gewalt sind zu beklagen.

Ich erinnere an den Angolaner Amadeu Antonio, der am 25. November 1990 in Eberswalde zu Tode geprügelt wurde; ich erinnere an den Algerier Farid Guendoul, für den am 13. Februar 1999 eine Hetzjagd in Guben tödlich endete, ich erinnere an den Mosambikaner Alberto Adriano, der am 14. Juni dieses Jahres in Dessau erschlagen wurde. Auch Obdachlose und Sozialhilfeempfänger sind Opfer rechtsradikaler Gewalt geworden. Die vergangenen Monate haben wieder einmal deutlich gemacht, wie erschreckend das Ausmaß an Ablehnung und Aggression ist, an Gleichgültigkeit und Gewalt. Wir haben allen Grund uns zu fragen, was wir - wir Demokraten, wir Christen - falsch gemacht haben. Ich fürchte, wir haben den Rechtsextremismus zu lange als Abnormität behandelt, als Sache einiger Asozialer und geistig minder Bemittelter. Wir haben uns zu lange in der Sicherheit gewähnt, Demokratie und Menschenrechte seien in Deutschland fest verwurzelt. Dabei haben wir übersehen, dass sich die Verdienste und Vorzüge unserer demokratischen Grundwerte nicht von selbst an die nächste Generation weiter vermitteln. Die Botschaft des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter erinnert daran, dass Toleranz und Respekt, Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft die Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens sind. Wie fest das demokratische Bewusstsein in unserer Gesellschaft verankert ist, das erweist sich nicht zuletzt daran, wie wir mit den Menschen zusammenleben, die hier fremd und in der Minderheit sind. Um so notwendiger es ist, Vorurteile und Ängste gegenüber Menschen anderer Kultur, Religion und Nationalität abzubauen.

In Deutschland leben heute mehr als 7 Millionen Ausländerinnen und Ausländer. Deutschland ist ein Einwanderungsland, und es ist an der Zeit zu überlegen, wie wir mit dieser Tatsache umgehen wollen. Ich hoffe und glaube immer noch, dass wir zu einer europäischen Migrationspolitik kommen werden, die die umher wandernden, vertriebenen, verzweifelten Menschen, die ihr kleines Glück, ihre kleine Chance nur außerhalb ihrer Heimatländer zu finden glauben, auf würdige und vernünftige Weise behandelt. Sicher: Das Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländern - übrigens auch das zwischen Deutschen und Deutschen - kann nicht immer konfliktfrei und problemlos verlaufen. Um so wichtiger ist es zu klären, wie viel Verschiedenheit diese Gesellschaft aushält, wie viel Gemeinsamkeit sie nötig hat. Leider wird die Diskussion darüber bisher mit mehr Emotionen als Argumenten geführt. Dahinter stehen Überforderungsängste und Vereinfachungsbedürfnisse, die zwar verständlich, aber trotzdem keine guten Ratgeber sind.

Die wirtschaftliche Globalisierung geht mit vielen sozialen, politischen und kulturellen Umwälzungen einher. Entsprechend groß ist das Bedürfnis nach Bindung, nach Beheimatung, nach sozialer Zugehörigkeit. Denn der schnelle Wandel, in dem sich unsere Gesellschaft befindet, schafft ja keineswegs nur freudige Aufbruchstimmung. Viele haben einfach nur Angst, nicht mithalten zu können und den Anschluss an diese Entwicklung zu verlieren. Auf Gefühle von Unsicherheit oder gar Bedrohung reagieren Menschen ganz unterschiedlicher kultureller Herkunft offenbar ähnlich: mit dem Rückzug auf das Vertraute und Traditionelle, mit Abgrenzung oder Aggression gegen das Fremde, mit einem Hang zu bequemen Dichotomien und simplifizierten Feindbildern. Die Rechtsextremisten haben leichtes Spiel, daran anzuknüpfen.

Der Rechtsextremismus ist zwar kein ostdeutsches Phänomen, aber es gibt dafür durchaus auch spezifisch ostdeutsche Ursachen. Zum einen ist der gesellschaftliche Wandel dort eine besonders einschneidende, für einige geradezu traumatische Erfahrung. Zum anderen gab es in der DDR praktisch keine Möglichkeit, den Umgang mit Fremden zu lernen und das Aushalten von Differenzen einzuüben. Auf diesem Boden gedeihen heute Vorurteile, die eine gefährliche Wirkung entfalten können - zum Beispiel über die Zahl der Ausländer. Ich war vor einiger Zeit in Hoyerswerda, einer Stadt, in der gerade einmal 500 Ausländer leben. In einer Diskussion fragte ich junge Leute, die übrigens alle nicht dem rechten Spektrum angehörten: Wie viele Ausländer gibt es denn hier? Sie nannten Zahlen zwischen 2.000 und 10.000. In Ostdeutschland besonders müssen wir an solchen Vorurteilen arbeiten, die von einer unerträglichen Zähigkeit sind. Auch vor diesem Hintergrund lese ich heute das Gleichnis, auch vor diesem Hintergrund verstehe ich es als einen Aufruf zu Toleranz und Menschlichkeit.

Doch Barmherzigkeit, so meinen heute die Dynamischen, die Eiligen, die Erfolgreichen, sei allenfalls eine Sache der Kirchen und Diakonien. In einem Klima von Wettbewerb und Konkurrenz werden hilfsbereite Menschen "Samariter" genannt, als handle es sich um eine seltene, fast ausgestorbene Spezies. Selbst gläubige Christen haben ihre Probleme mit der Botschaft dieses Gleichnisses: "So gehe hin und tue desgleichen".

Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich viel - vielleicht zu viel - verlangt, im Alltag so barmherzig zu handeln wie der Samariter. In allen Zeiten haben Christen denn auch versucht, Erklärungen und Entschuldigungen für das Verhalten des Priesters und des Leviten zu finden, in denen sie wohl auch ein Stück weit sich selbst erkannt haben. Denn jeder von uns ist schon einmal vorbeigegangen - vielleicht aus purem Egoismus, vielleicht auch nur aus Unsicherheit.

Schließlich, so haben wir uns gesagt, kann ein einzelner ohnehin nicht allen helfen. Wer das Gleichnis genau liest, der wird aber entdecken, dass Nächstenliebe und Barmherzigkeit alles andere sind als ein realitätsfernes, unerreichbares Ideal. Barmherzigkeit hat nichts mit "Samaritertum" zu tun, wie wir es landläufig verstehen. Denn der Samariter tut nicht mehr und nicht weniger als das, was vernünftig, was naheliegend, was human und geboten erscheint: Er verschließt nicht die Augen vor der Not des Überfallenen, sondern leistet erste Hilfe. Aber er opfert sich auch nicht auf: Er ändert seine eigenen Pläne nicht, sondern veranlasst weitere Hilfe und setzt seinen Weg fort. Barmherzigkeit heißt also, nicht wegsehen und weitergehen, wenn Hilfe gebraucht wird, sondern tun, was in unserer Macht steht.

Ich finde das ermutigend und beunruhigend zugleich: Ermutigend ist es, weil wir Christen nicht gefordert sind, Unmögliches, Unmenschliches zu leisten. Beunruhigend ist es, weil wir uns nicht mehr hinter vermeintlich zu hoch gesteckten Erwartungen verstecken können: Was jeder tun kann, dürfen auch wir Christen, dürfen gerade wir Christen nicht verweigern. Zivilcourage hat nichts mit Heldentum zu tun, aber viel mit Aufmerksamkeit und mit Verantwortungsbereitschaft.

In der Nacht zum 3. Oktober schleuderten Unbekannte Brandsätze gegen die Synagoge in Düsseldorf. Eine Frau aus der Nachbarschaft sah das Feuer und lief zur Synagoge, um zu löschen. Ohne ihr schnelles Eingreifen, so berichteten die Medien später, hätte die Synagoge gebrannt. Den Namen der Frau haben wir nicht erfahren. Sie wollte nicht namentlich in der Öffentlichkeit gelobt werden. "Das hätte doch jeder an meiner Stelle getan", wiegelte sie ab, zum Teil aus Bescheidenheit, zum Teil aus Angst vor den Gewalttätern.

Ich glaube das nicht. Wie viele Menschen hätten an ihrer Stelle weggesehen, wie viele Menschen hätten aus dem Fenster geschaut, ohne etwas zu tun, wie viele hätten allenfalls die Feuerwehr gerufen? Herausragend sind solche Taten, weil sie - noch - selten sind. Aber sie sind häufiger, als wir denken, denn oft erfahren wir gar nicht davon. Die Medien arbeiten nach ihren eigenen Regeln, und eine davon heißt, dass nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind. Also berichten sie mehr über die Täter als über diejenigen, die den Tätern in den Arm fallen und den Opfern unter die Arme greifen. Mich stimmt die Angst der Frau, an die Öffentlichkeit zu treten, nachdenklich: Müssen sich bei uns diejenigen, die Zivilcourage zeigen, dafür verstecken? Damit kann und will ich mich nicht abfinden. Deshalb fordere ich immer wieder, dass wir die falsche Faszination durch Gewalttäter und Gewalttaten überwinden und uns wieder faszinieren lassen durch den normalen, den alltäglichen Anstand.

Nur am Rande sei daran erinnert, dass der alltägliche Anstand von Nachbarn und Freunden im nationalsozialistischen Deutschland vielen Menschen das Leben gerettet hat. Und vergessen wir nicht, dass damals viele Deutsche in ihrer Heimat unerwünscht und darauf angewiesen waren, dass ihnen andere Länder eine neue Heimat boten. Das Grundgesetz ist die Lehre aus dieser Zeit. Es macht unmissverständlich klar, dass unser Staat zwar säkular ist, aber keineswegs wertneutral. Die Grundwerte unserer Verfassung kommen aus christlichem Geist, aber sie haben sich längst davon gelöst. Man muss nicht unbedingt Christ sein, um Werte wie Menschenwürde und Toleranz, Hilfsbereitschaft und Solidarität zu teilen. Aber wir Christen sind aus unserem Glauben heraus in besonderer Weise verpflichtet, nicht wegzusehen, wo unsere Hilfe gebraucht wird. Auch das gehört für mich zur Auseinandersetzung mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Wo sich jeder um sich selbst und niemand mehr um den anderen kümmert, da können Menschenwürde und Freiheit nicht lange überleben.

Wir können nur dann eine offene Gesellschaft bleiben, wenn sich keine Inseln bilden, die außerhalb unseres gesellschaftlichen Grundkonsenses liegen. Wer bei uns leben will, muss deshalb bereit sein, die Grundwerte unserer Verfassung und unsere demokratischen Regeln zu akzeptieren. Das gilt aber auch und vor allem für die Rechtsextremisten, die mit ihren schäbigen Gewalttaten gegen Ausländer diesen Konsens brechen. Ihnen müssen wir klarmachen, dass auch alle Bürger - unabhängig von Herkunft oder Hautfarbe - den Schutz der Grundrechte genießen, allen voran den Artikel eins. Ihnen vor allem müssen wir klarmachen, dass unsere Demokratie die Aufgabe und den Willen hat, die Menschenwürde zu schützen und sich überall da zu wehren, wo die Grundrechte gefährdet sind. Intoleranz, Ausländerhass und Gewalt sind einer demokratischen Zivilgesellschaft unwürdig. Es wäre ein Fehler, würden wir nach fünfzig Jahren - im Bewusstsein, in einer starken und stabilen Demokratie zu leben - die demokratische und moralische Erziehung vernachlässigen. Der Umgang mit Gewalt ist nur eines, aber sicher ein besonders wichtiges Beispiel: Wenn Gewalt der wichtigste Gegenstand der abendlichen Fernsehunterhaltung ist, dann brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, dass bei jungen Menschen Hemmschwellen sinken und Tabus fallen.

Eine Erziehung zu demokratischer Gesinnung und Gesittung muss mehr leisten als junge Menschen resistent zu machen gegen die Verführungskünste politischer Rattenfänger. Sie muss vor allem auch ihre Courage stärken. Für die Regeln des Anstands und der Toleranz einzutreten, ist nicht Aufgabe von Politik, Polizei und Justiz allein, sondern Angelegenheit aller Bürgerinnen und Bürger. Unsere Gesellschaft hat ein vitales Interesse daran, die demokratischen Werte zu schützen und weiter zu vermitteln. Und dabei geht es nicht nur darum, eine Minderheit rechtsextremer Gewalttäter in ihre Schranken zu weisen; es geht vor allem darum, die Mehrheit wachzurütteln, die voller Unsicherheit, Ängste und Vorurteile ist.

Es ist gut, dass sich immer mehr Prominente und nicht Prominente in den Medien zu Wort melden, dass immer mehr Jugendliche in den Schulen und Freizeiteinrichtungen aktiv werden. Für viele Bürger gehört die Unterstützung von Flüchtlingen, der kulturelle Austausch oder einfach die gute Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Ausländern zur schlichten Normalität des Alltags. Auch Kirchen und Jugendwerke, Stiftungen und Verbände sind vielfach zu Orten der Begegnung geworden. Ein beeindruckendes, inzwischen weithin bekanntes Beispiel ist die Amadeu-Antonio-Stiftung, benannt nach dem angolanischen Arbeiter, der 1990 von Rechtsradikalen ermordet wurde. Die Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Verbreitung rechtsradikaler Alltagskultur zu stoppen und die Kräfte der demokratischen Zivilgesellschaft zu stärken. Jugendarbeit vor Ort, in den Kommunen, ist ein Schwerpunkt ihrer Arbeit.

Inzwischen gibt es weitere Initiativen dieser Art. Es gibt überall in Deutschland viele Menschen, die keine falsch verstandenen "barmherzigen Samariter" sind, sondern die menschlich und vernünftig handeln, indem sie tun, was sie tun können. Die nicht wegsehen, sondern die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Aufforderung zur Tat, zur Abwehr, wenn friedliches Zusammenleben gefährdet ist, darum geht es. Erst vor knapp zwei Wochen, am 9. November, hat die große Demonstration in Berlin gezeigt, wie viele Menschen bereit sind, "für Menschlichkeit und Toleranz" einzutreten. Auch dieser Gottesdienst und viele weitere Initiativen zeigen, dass die Gegenwehr ebenso von unten, aus der Mitte der Gesellschaft kommt wie der Extremismus.

Ich will mit einem letzten Beispiel schließen, mit einem Beispiel für die kleine, alltägliche, richtig verstandene Nächstenliebe: Am 21. November 1992 wurde ein junger Mann, der der linken Szene zugehörte, von Rechtsradikalen erschlagen (Silvio Meier). Freunde und Nachbarn taten sich spontan zusammen und halfen seiner schwangeren Lebensgefährtin. Die Trauer konnte ihr niemand abnehmen, aber dank der Hilfe brauchte sie sich keine Sorgen um ihren Lebensunterhalt mehr zu machen. Am Ort der Tat erinnert heute eine Gedenktafel an das Verbrechen. Sie hängt in Berlin-Friedrichshain, in der U-Bahn-Station Samariterstraße.

Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2000/023
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