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Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse anläßlich der Eröffnung des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Frankfurt/Main am 13. Juni 2001

Sperrfrist: Beginn der Rede, 18.00 Uhr
Es gilt das gesprochene Wort

"Es mag ein Zufall sein, ein Glücksfall könnte es werden, dass wir in dieser Stadt Deutschlands im Jahre 2001 den ersten Evangelischen Kirchentag des neuen Jahrhunderts, des dritten Jahrtausends unserer christlichen Zeitrechnung feiern.
Diese Stadt ist für unser Land ein Synonym für Weltoffenheit und globaler Präsenz. Die Börse, die Banken, das Luftkreuz sind mächtige Agenturen weltumspannender Verflechtung. Jeder Dritte Einwohner dieser Stadt kommt aus einem anderen Land. An diesem Ort, wie an keinem anderen in unserer Region, erscheint die Weite des Erden-Raumes wirklich zugänglich, fußläufig. "Du stellst meine Füße auf weiten Raum": Wo wäre dies anschaulicher, begreifbarer als hier?
Gleichzeitig begegnet uns hier noch etwas ganz anderes. Auf diesem Platz, dem "Römer", fließen die Dimensionen der Zeit ineinander. In seinem Namen haben sie sich eingeschrieben, an diesem Ort finden sich Zeugnisse aufeinanderfolgender Zeiten, liegen oder stehen sie dicht nebeneinander. Da sind die Türme unserer Moderne, der Institutionen des Geldes, dort, dicht daneben sind die steinernen Zeugnisse der Geschichte, auch des Christentums und der politischen Geschichte Deutschlands, von Kaiserkrönung bis Paulskirchen-Parlament.
Der Wandel der Zeiten, Werden und Vergehen, sind hier geradezu mit Händen zu greifen. Will uns das nicht sagen: Nichts bleibt wie es war und wie es ist? Die Zeit ist nicht in unseren Händen. "Meine Zeit steht in Deinen Händen", heißt es im Psalm 31, wenige Verse nach dem Wort, das uns als Motto dieses Kirchentages begleitet.
Raum und Zeit formen den Horizont der Wirklichkeit, Freiheit und Grenze unseres menschlichen Lebens. In ihrer Freiheit erschließt sich die Menschheit den ganzen Raum, wächst global ineinander, schreitet in neue Räume vor, über den Erdball hinaus in den Weltenraum. Die Weite des Raumes steht uns tatsächlich offen. Und gerade in dieser stürmischen Bewegung der Menschheit wird ein Maß immer deutlicher: die begrenzte Zeit. Die Verheißung unbegrenzten Wachstums beruht auf einem einzigen Prinzip: der Beschleunigung. Zeitgewinn ist die Ressource, die wir dabei anzapfen. Geschwindigkeit ist das Mittel. Denn unser Zeitrahmen bleibt begrenzt - in Gottes Händen.
Die Chancen weltweiter Kommunikation und Zusammenarbeit sind ein Geschenk der Freiheit. Freizügigkeit, freier Handel und Austausch über Ländergrenzen und Kontinente hinweg, sind die Kennzeichen der Gegenwart. Wir sind Zeugen einer rasanten Entwicklung, die uns besonders in den letzten zehn Jahren die Welt vielgestaltig und bereichernd nahe gebracht hat.
Gleichzeitig sind die Gefahren globaler Verwerfungen uns immer deutlicher vor Augen, neue Kriege und Gewalt, überwunden geglaubte Krankheiten, Armut und Unsicherheit - bis in die Winkel unserer Städte. Dies ist der Preis der Expansion, dort sind die Opfer der Beschleunigung, des Konkurrenz- und Leistungsdruckes. Neben dem Reichtum, der Wirtschaft und Kultur aufblühen läßt, wachsen soziale Probleme, Bindungslosigkeit und Desintegration, die den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gefährden. Es wäre also kein Zufall, wenn sich die Diskussionen auf diesem Kirchentag vor allem mit den Folgen der Globalisierung beschäftigen werden: Es geht um die Wanderungsbewegungen von den armen und ärmsten Ländern dieser Welt in die reichen Industriestaaten, um die Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlichen Fortschritts und um das Kräfteverhältnis zwischen einer global operierenden Wirtschaft und einer überwiegend national organisierten Politik. Wir beginnen zu begreifen, dass sich gesellschaftliches Zusammenleben nicht allein nach den Kriterien wirtschaftlichen Handelns - nach Nutzen und Schaden, nach Gewinn oder Verlust, nach Kosten und Effizienz - regeln läßt. Der Mensch ist mehr als Konsument und Produzent. Es ist ein Gebot der Menschenwürde, den Wert eines Menschen nicht allein nach seinen marktgemäßen Rollen zu bemessen. Das gilt gerade auch für die aktuellen Fragen, vor denen unsere Gesellschaft steht: Dürfen Menschen in Not bei uns ihr kleines Glück suchen, auch wenn sie keine Computerexperten sind? Müssen dem wissenschaftlichen Fortschritt Grenzen gesetzt werden, wenn Menschen zum Forschungsmaterial werden? Muß wirtschaftlicher Macht Einhalt geboten werden, wenn sie demokratische Werte und Verfahren zu unterlaufen droht? Die Diskussion über die Werte und Ziele, die diese Gesellschaft in Zukunft tragen sollen, hat gerade erst begonnen.
Ich halte die Verankerung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität für die größte europäische Kulturleistung. Die christlichen Kirchen hatten daran bekanntlich großen Anteil. Auch weiter gilt: Die Kirche vermag für diese Gesellschaft mehr zu leisten als Seelsorge und moralische Nachsorge. Es muss auch in Zukunft noch Werte geben, die nicht an der Börse gehandelt werden. Deshalb bin ich froh, dass sich auf diesem Kirchentag Christen aus aller Welt einmischen, zu Wort melden, Gehör verschaffen. Wer, wenn nicht wir Christenmenschen, wäre aufgefordert daran zu erinnern, dass der Mensch mehr ist als ein Homo oeconomicus! "Der Herr gibt uns nicht in die Hände des Feindes, sondern er stellt unsere Füße auf weiten Raum." Ich lese das Motto dieses Kirchentages als Aufforderung an uns Christenmenschen, nicht nachzulassen und nicht vor dem vermeintlich Unabänderlichen zu resignieren: Jeder Einzelne hat von Gott die Freiheit und die Pflicht bekommen, mit zu entscheiden, wie wir uns in diesem weiten Raum einrichten, wie weit wir gehen, wo und wie wir Grenzen setzen. Vielleicht sind wir Christenmenschen in der Minderheit. Aber wir alle sind zuständig dafür, dass Menschenwürde, Freiheit und Demokratie ihren Platz in dieser Gesellschaft behaupten. Es liegt an uns."

Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2001/010
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