Vier Wochen Tag der offenen Tür
Die Plätze von CDU/CSU sind schon fast vollständig besetzt, die Reihen von FDP und Bündnis 90/ Die Grünen füllen sich ebenfalls, und auch auf den Bänken der Fraktionen von SPD und Die Linke. findet sich kaum noch Platz: Doch statt Abgeordneten in Anzug und Kostüm sitzen hier im Plenum Jugendliche in T-Shirt und Turnschuhen, Touristen mit Rucksack und Berlin-Stadtplan und sogar Fußballfans in bunten Trikots. Draußen vor der Bundestagsarena warten noch mehr Besucher. Manche blicken so gebannt auf Bundesadler, und Kuppel, dass sie am Eingang sogar die "Saaldiener" übersehen, die ihnen ihre "Stimmkarten" reichen wollen. Dabei ist das gar nicht so einfach: Zu zweit stehen die Besucherbetreuer in ihren leuchtend roten T-Shirts an den Eingängen: "Warten Sie, Entschuldigung", rufen sie und drücken den verdutzen Besuchern drei Karten in die Hand, auf denen "Ja", "Nein" und "Enthaltung" steht. "Die brauchen Sie doch für die Abstimmung!"
Seit Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft hat sich das Berliner Regierungsviertel noch stärker als sonst zum Publikumsmagneten entwickelt. Die Fanmeile am Brandenburger Tor ist nicht weit entfernt. Und auf dem Platz der Republik vor dem Reichstagsgebäude steht die "Adidas-Arena". Doch die Aufmerksamkeit der Besucher gilt hier mitten im politischen Zentrum der Hauptstadt nicht nur dem Ballsport: Der Reiz der Reichstagskuppel etwa ist ungebrochen, täglich warten Tausende darauf, sie zu besichtigen. Das Innere des Parlaments können verglichen damit nur wenige der Besucher erkunden. "Selbst am Tag der offenen Tür können nur etwa 250 Gäste pro Stunde den Plenarsaal besuchen", schätzt Erik Pust vom Besucherdienst, "und einen Eindruck, wie es im Plenarsaal tatsächlich abläuft, bekommen die Menschen auch nicht, weil sie das Geschehen nur höchstens von der Tribüne aus beobachten können".
Das wollte der Bundestag ändern und ließ sich etwas Besonderes einfallen: Während der Weltmeisterschaft steht nun zwischen Kanzleramt und Paul-Löbe-Haus eine zweite "Reichstagskuppel" aus Aluminium und transparenter Kunststofffolie. Darunter befinden rund 550 Sitzplätze halbreisförmig angeordnet und nach Fraktionsstärke eingeteilt, samt Rednerpult und Bundesadler. "Hier können die Leute ganz sinnlich erfahren, wie der Bundestag funktioniert", sagt Pust, der das Projekt "Bundestagsarena" betreut. Die Menschen sollen sich hier als Abgeordnete, nicht als Besucher fühlen, so das erklärte Ziel des Besucherdienstes. Mit viel Liebe zum Detail ist eine Präsentation vorbereitet worden, die versucht, die Abläufe im Plenarsaal zu plastisch wie möglich darzustellen: Über die Arbeit des Parlaments informiert so etwa ein Mitarbeiter des Besucherdienstes am Rednerpult stehend, in Gestus und Sprechweise einen Abgeordneten imitierend. Immer wieder wird dieser unterbrochen von einem zweiten Mitarbeiter in der Rolle des Bundestagspräsidenten, der darauf drängt, die Redezeit einzuhalten: "Ich bitte Sie nun wirklich, zum Ende zu kommen". Solche Mahnungen ernten Gelächter im Plenum. Der Original-Gong des Bundestages ruft die "Abgeordneten" schließlich zur Abstimmung. Soll der Bundespräsident künftig direkt oder weiterhin von der Bundesversammlung gewählt werden? Die Stimmkarten werden in die Höhe gestreckt: Rote bedeuten "nein", blaue "ja" und weiße "Enthaltung". Die Entscheidung ist eindeutig: Die Mehrheit ist für direkte Wahlen.
Politik lässt sich aber auch live in der Bundestagarena miterleben: Denn neben den Informationsveranstaltungen sind hier auch öffentliche Ausschusssitzungen geplant, und die Fraktionen nutzen die Kuppel für eigene Aktionen. Die 30-minütigen Präsentationen finden noch bis zum 9. Juli, dem Tag des Endspiels, stets zur vollen Stunde statt. Die erste beginnt um 9 Uhr, die letzte um 21 Uhr. Immer um 14 Uhr bietet der Besucherdienst zudem Info-Veranstaltungen in englischer Sprache an, nach Voranmeldung auch in Französisch oder Spanisch - schließlich soll sich die Welt "zu Gast beim Parlament" fühlen. Ein Motto, das Programm ist, wie Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) am 6. Juni bei der feierlichen Eröffnung der "Bundestagsarena" sagte: "Unser ,Tag der offenen Tür' dauert in diesem Jahr vier Wochen statt zwei Tage", betonte er.
Aus: Das Parlament, Ausgabe 26/2006