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Zehn Länder treten im Mai der Europäischen Union bei. Mit Blick auf dieses historische Ereignis wird auch ein möglicher Beitritt der Türkei lebhaft diskutiert. Aber wie viele Staaten verträgt die EU? Und wo liegen ihre Grenzen? Blickpunkt Bundestag hat die Bundestagsfraktionen um Stellungnahmen gebeten.
Der Türkeibesuch von Romano Prodi Anfang des Jahres hatte historische Dimension. Über 40 Jahre war kein Präsident der Europäischen Kommission mehr in der Türkei gewesen. Zum letzten Mal war der erste Kommissionspräsident Walter Hallstein 1963 in Ankara, um das Assoziierungsabkommen mit der Türkei zu unterzeichnen. Jetzt hatte Prodi einen ähnlich bedeutenden Auftrag: Im Dezember wollen die EU-Staats- und Regierungschefs über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschließen – und es ging bei dem Besuch darum festzustellen, ob die Türkei für diesen Schritt reif ist.
Auch wenn noch keine endgültige Entscheidung über einen EU-Beitritt der Türkei ansteht. Die Aufnahme konkreter Verhandlungen ist dennoch wohl die wichtigste Frage, der sich die EU in diesem Jahr stellen muss. Und die Wogen schlagen hoch in der Debatte um das Verhältnis EU-Türkei: CDU/CSU-Politiker, wie die CDU-Chefin Angela Merkel oder Hessens Ministerpräsident Roland Koch, sagen gar das Ende der Europäischen Union voraus, wenn die Türkei beitritt. Außenminister Joschka Fischer hält dagegen ein EU-Mitglied Türkei für ein strategisches Muss, ohne das die EU kein vernünftiges Verhältnis zu den anderen islamischen Nachbarstaaten entwickeln kann.
Ob die Türkei EU-Mitglied werden kann, ist auch deshalb wichtig, weil es nicht nur um einen weiteren Mitgliedstaat geht, sondern auch darum, wo überhaupt die Grenzen der Europäischen Union liegen. Sind 25 und mit Rumänien und Bulgarien bald 27 Mitglieder nicht genug? Formal hat die EU nur eine Festlegung: Jeder europäische Staat kann sich um eine Mitgliedschaft bewerben, heißt es im EU-Vertrag. Geografisch wäre diese Grenze mit der Türkei wohl überschritten. Ukraine, Weißrussland, die Staaten des Balkans können insofern mit größerem Recht eine EU-Mitgliedschaft beanspruchen. Doch mit einem EU-Mitglied Türkei kämen im Grunde auch Russland und die Staaten des Kaukasus in Frage.
Blickt man auf die Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs, so ist die EU-Mitgliedschaft der Türkei im Grundsatz schon entschieden. Ein Beitritt wurde dem Land schon 1963 in dem Assoziierungsabkommen zwischen Ankara und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), dem Vorläufer der EU, in Aussicht gestellt. Im Dezember 1997 haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union dann ausdrücklich die Eignung der Türkei für eine EU-Mitgliedschaft anerkannt. Seit 1999 ist die Türkei nun offiziell auch Kandidat für den EU-Beitritt und Verhandlungen sollen aufgenommen werden, wenn das Land stabile staatliche Institutionen als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung hat und die Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten garantiert ist. Diese Bedingungen sind Teil der so genannten Kopenhagener Kriterien, die auf einem EU-Gipfel 1993 in der dänischen Hauptstadt für alle Kandidaten als Voraussetzung für eine Aufnahme in die EU festgelegt wurden.
Lange sah es so aus, als würde die Türkei ohnehin die Kriterien der EU nicht erfüllen. Doch das hat sich geändert. In den vergangenen Jahren hat das Land eindrückliche Veränderungen hinter sich, die auch von den Gegnern eines EU-Beitritts ausdrücklich anerkannt werden. Die gemäßigt-islamische Partei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat mit einem Reformpaket unter anderem die Abschaffung der Todesstrafe und die Begrenzung der Macht des Militärs durchgesetzt. Kritiker weisen darauf hin, dass die Reformen zwar auf dem Papier beschlossen, aber nicht umgesetzt sind. So lobt Amnesty International in einem Bericht vom Februar 2004 auch die Reformen der Regierung, berichtet aber weiter von Folter in türkischen Polizeistationen und Gefängnissen. Dennoch mehren sich die Aussagen, dass die Türkei die Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen im Herbst erfüllen könnte. Auch Bundeskanzler Gerhard Schröder hat sich bei seinem Besuch in der Türkei Ende Februar so geäußert.
Ob die Türkei die Kriterien erfüllt, darüber wird die Europäische Kommission im Herbst Bericht erstatten. Schon jetzt gibt die Brüsseler Behörde jedes Jahr einen so genannten Fortschrittsbericht über die Entwicklung in der Türkei ab. Über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen entscheiden dann die Staats- und Regierungschefs der EU auf einem Gipfel Ende 2004.
Wie die EU-Kommission die Entwicklung der Türkei bewertet, ist noch nicht klar. Die Kriterien klingen zwar auf den ersten Blick eindeutig, lassen der Kommission aber einen Spielraum für politische Erwägungen. Und der Druck auf die Kommission, die Entwicklung in der Türkei positiv zu zeichnen, ist groß. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Verhandlungen um die Lösung des Zypernkonflikts, in dem die Türkei als Schutzmacht der türkischen Zyprioten eine entscheidende Rolle hat. Die EU-Staats- und Regierungschefs haben mehrfach betont, dass eine Lösung des Zypernkonflikts für den Beitrittswunsch der Türkei förderlich sein könnte.
Die Gegner einer EU-Mitgliedschaft der Türkei glauben längst auch, dass das Land die Kopenhagener Kriterien erfüllen könnte. Sie sorgen sich vielmehr darum, dass die EU nicht in der Lage sein könnte, die Türkei aufzunehmen. Die Kritik macht sich im Wesentlichen an drei Punkten fest:
Erstens sind da zunächst die wirtschaftlichen Unterschiede. Die Wirtschaftsleistung der Türkei liegt pro Kopf gerade einmal bei einem Drittel der EU und weit unter dem Niveau der jetzigen Beitrittsstaaten. Mit der Türkei käme ein großes Empfängerland in die EU, was für die Nettozahler wie Deutschland teuer werden könnte.
Zweitens käme zudem mit der Türkei ein politisches Schwergewicht in die EU, was das Institutionengefüge der Union verändern wird. Ein Land mit dann vergleichbarer Einwohnerzahl wie Deutschland könnte die EU zwar nicht dominieren, hätte aber einen vergleichbaren Einfluss wie Deutschland.
Drittens wird angeführt, dass die Türkei kulturell nicht zur Europäischen Union passe. Die Türkei habe die wesentlichen Etappen, die die europäischen Gesellschaften prägen, nicht mitgemacht. In Europa habe sich eine Trennung von Kirche und Staat vollzogen und mit der Aufklärung eine Gesellschaft herausgebildet, in der die Freiheit des Individuums von zentraler Bedeutung ist. Die Türkei könne auf eine solche Entwicklung nicht zurückblicken. Soll sich irgendwann einmal eine europäische Identität he-rausbilden, dann wäre die Türkei ein Fremdkörper, der dies im schlimmsten Fall verhindern könnte.
Sollte dies tatsächlich der Fall sein, dann hätte die EU auch ohne die Türkei ein kaum zu bewältigendes Problem. Denn wenn eine EU-Mitgliedschaft der Türkei an unüberbrückbaren kulturellen Hindernissen scheitert, dann bestünden auch kaum Chancen, die Muslime, die bereits in Europa leben, in die europäischen Gesellschaften zu integrieren. Denn sie bringen ja genau die Prägungen mit, die die Gegner eines EU-Beitritts der Türkei gern außerhalb der Union sehen wollen. Die Befürworter einer EU-Mitgliedschaft der Türkei heben denn auch genau die strategische Rolle des Landes für die EU hervor: Eine Integration der Türkei wäre der beste Beweis dafür, dass es keinen unüberwindbaren Bruch zwischen dem christlich geprägten Europa und den islamischen Staaten gibt.
Der türkische Ministerpräsident formulierte das Problem, vor dem die EU steht, so: „Sie können sich über die Dornen der Rosen beschweren oder sich darüber freuen, dass Dornen Rosen haben“, sagte Erdogan im Januar in Berlin.
Text: Matthias Rumpf
Fotos: Deutscher Bundestag, picture-alliance
Grafik: Karl-Heinz Döring
Interesse an Einbindung Privilegierte Partnerschaft Die Türkei gehört
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