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Die Gegenwart der Vergangenheit

Bild: Namen ermordeter Reichstagsabgeordneter auf Gedenktafeln
Dieter Appelts Gedenktafeln für die 1933 bis 1945 ermordeten Reichstagsabgeordneten.

Bild: Mauersegmente mit aufgedruckten Zahlen der Mauertoten pro Jahr
Reste der Berliner Mauer im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus.

Bild: Geräumige Lobby
Blick in die Abgeordnetenlobby mit „Sonnenkorona“.

Bild: Mauerreste mit Jahreszahlen
Reste der Berliner Mauer im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus.

Bild: Hohes Fenster zwischen Säulen
Eine Bronzetafel erinnert an die Ausrufung der Republik 1918.

Bild: Drei Stehpulte mit aufgeschlagenen Biografien
Sonnenkorona über Abgeordnetenbiografien.

Bild: Gasse rostiger Kästen mit nackten Glühlampen dazwischen
„Archiv der Deutschen Abgeordneten“.

Bild: LED-Leiste neben Fahrstuhl
Die Stele von Jenny Holzer mit Redetexten in LED-Laufschrift.

Bild: Vorderseite des Deutschen Doms
Dauerausstellung „Wege, Irrwege, Umwege“ im Deutschen Dom.

Erinnerungskultur im Bundestag

Das Holocaust-Mahnmal beschäftigt die Menschen im In- und Ausland. Ein Stelenfeld hält mitten in Berlin, unmittelbar neben dem Parlamentsviertel, das Gedenken an sechs Millionen ermordete Juden wach. Wie geht der Bundestag mit der Vergangenheit um? Immer wieder beschäftigen sich die Abgeordneten als „Forum der Nation“ in Debatten und Gedenkstunden mit dem Geschehenen. Daneben gibt es viele weniger bekannte Orte, Plätze, Werke und Zeugnisse der Vergangenheit im und um den Bundestag – und faszinierende Kunstwerke, die sich mit der deutschen Geschichte und der Rolle des Parlaments auseinander setzen.

Schon die Anordnung der neuen Bauwerke des Bundestages ist eine einzige Antwort des wiedervereinigten Deutschlands auf die Vergangenheit der Hauptstadt. Denn das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus mit dem Anhörungssaal und der Bibliothek des Bundestages, das Paul-Löbe-Haus mit Abgeordnetenbüros und Ausschusssälen sowie das Kanzleramt ergeben das „Band des Bundes“, das ganz bewusst eine Ost-West-Achse bildet und die Spree überspringt. Es überwindet damit nicht nur die jahrzehntelange Teilung Deutschlands und Berlins in durch Mauer und Schießbefehl getrennte Staaten, sondern ist auch eine demokratische Antwort auf die gigantomanischen „Germania“-Pläne, die Adolf Hitlers Baumeister Albert Speer in Berlin in Nord-Süd-Ausrichtung verwirklichen wollte.

Im Zentrum dieses Parlamentsviertels finden sich viele Zeugnisse aus jenen Zeiten. Zwischen Brandenburger Tor und Tiergarten können Passanten durch die Pflasterung mitten über die Straße den Verlauf der Mauer verfolgen. Und dieses Bodenband zieht sich an einem kleinen Gedenkhain für die getöteten Flüchtlinge vorbei über den Ebertplatz zur Spree. Kleine Platten mit der Aufschrift „Berliner Mauer 1961–1989“ sind als Erläuterung an einigen Stellen in den Boden eingelassen. Viele Besucher sind erstaunt darüber, wie nah die Grenze am Reichstag vorbei führte. Die bedrückende Wirklichkeit während dieser 28 Nachkriegsjahre von 1961 bis zum Fall der Mauer wird zusätzlich deutlich durch ein Stück „Hinterlandssicherungsmauer“, das in das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus integriert wurde. Ein eindringliches Symbol für die Überwindung der Teilung.

Anfang und Ende des NS-Wahns

Als sowjetische Soldaten im Mai 1945 in das Berliner Regierungsviertel eindrangen und schließlich auch das Reichstagsgebäude erreichten, war der Nationalsozialismus endgültig besiegt und der Zweite Weltkrieg beendet. Tausende waren noch im Kampf um die Eroberung der letzten Straßenzüge gefallen. Umso befreiender das Gefühl, durch die eroberten Gemäuer zu gehen – und so hinterließen viele ihre persönlichen Botschaften. Die kyrillischen Schriftzeichen wurden fünf Jahrzehnte später beim Umbau des Reichstagsgebäudes wieder freigelegt, konserviert und als Spuren der Geschichte erhalten. An 17 verschiedenen Stellen befinden sich fast 200 derartiger „Graffiti“ aus dem Mai 1945. Während diese Wandinschriften für das Ende des nationalsozialistischen Größenwahns stehen, hält ein Stück eines alten Rohrleitungsganges die Erinnerung an die Anfangszeit der NS-Schreckensherrschaft wach. Der Brand des Reichstages am 27. Februar 1933 lieferte den Nazis den Vorwand, den Ausnahmezustand zu verhängen und „zum Schutz von Volk und Staat“ gegen ihre politischen Gegner vorzugehen. Nie ganz geklärt wurde, ob der aufgrund eines nachträglich erlassenen Gesetzes wegen der Brandstiftung zum Tode verurteilte Marinus van der Lubbe allein für die Tat verantwortlich war oder ob einer anderen Theorie zufolge SA-Angehörige durch diesen Gang vom Reichstagspräsidentenpalais aus in den Reichstag eindrangen und dort Feuer legten. Heute befindet sich ein Teil des Ganges als ständige Mahnung auf einem Betonpodest in der unterirdischen Verbindung zwischen dem Reichstag und den Abgeordnetenbüros im Jakob-Kaiser-Haus.

Ein „Rückgrat“ für die Standhaften

Das Reichstagsgebäude trägt jedoch auch die hoffnungsvolleren historischen Momente und Phasen mit und in sich. Architekt Norman Foster behielt beim Umbau in den 90er Jahren trotz aller neu geschaffenen Funktionen den Wiedererkennungswert im Auge. Abgeordnete und Besucher können sich an vielen Stellen genau vorstellen, wie der Bau wirkte, als am 10. Dezember 1894 genau hier das Parlament der Deutschen seine Arbeit am Rande des Berliner Tiergartens aufnahm. Eine Gedenkinschrift auf einer Bronzetafel erinnert an der Westfront zudem daran, dass von einem der dortigen Fensterbalkone am 9. November 1918 der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die Republik ausrief.

Ein paar Meter weiter Richtung Tiergarten befindet sich draußen ein eher unscheinbares Denkmal: Es handelt sich um eine Reihe von gebrochenen Tafeln aus Eisenguss. Erst durch näheres Hinsehen erschließt sich über die an der Oberkante ablesbaren Namen, Daten und Sterbeorte (Buchenwald, Bergen-Belsen, Plötzensee, Theresienstadt), dass hier an die in der NS-Zeit ermordeten Reichstagsabgeordneten erinnert wird. Der Berliner Künstler Dieter Appelt entschied sich für diese unspektakuläre, aber eindrückliche Form, um den frei gewählten und vom NS-Regime verfolgten Repräsentanten des deutschen Volkes zu gedenken.

Eine Entsprechung dazu findet sich im Inneren des Gebäudes in der Abgeordnetenlobby: drei Pulte, auf denen Bücher mit Biografien der Parlamentarier liegen, die ermordet, inhaftiert oder in die Emigration getrieben wurden. Darüber ein großformatiges fünfteiliges Fotogemälde der Düsseldorfer Künstlerin Katharina Sieverding. Ihre Sonnenkorona lässt sich sowohl mit dem Reichstags- als auch dem Weltenbrand assoziieren und bietet zudem eine Verbindung zum Wiederentstehen der deutschen Demokratie aus der Asche der Zerstörung. Eindeutig zudem die Bedeutung der Röntgenaufnahme mit dem Rückgrat als zentraler Aussage: Hochachtung vor denen, die standhaft blieben – und etwa gegen das Ermächtigungsgesetz der NS-Regierung stimmten.

5.000 rostige Metallkästen

Es ist kein Zufall, dass sich eine ganze Reihe beeindruckender Kunstwerke im Reichstagsgebäude mit der Vergangenheit dieses Ortes befassen. Dahinter steckt das „Kunst-am-Bau“-Konzept, das der Bundestag im Zusammenhang mit dem Umzug von Bonn nach Berlin unter der federführenden Beratung von Professor Götz Adriani (Tübingen) und der Kasseler Professorin Karin Stempel entwickelte. Es wurden keine „irgendwie passenden“ Werke angekauft, sondern der Bundestag lud Künstler ein, sich mit den Gebäuden auseinander zu setzen. Während bei den Neubauten die Orientierung an Architektur und Funktion im Vordergrund stand, lag es beim Reichstagsgebäude nahe, vor allem die Geschichte in den Blick zu nehmen. „Es wurden Künstler von internationalem Rang eingeladen, schließlich ist das Reichstagsgebäude der zentrale Ort unserer Demokratie“, erläutert der Kurator der Bundestagskunstsammlung, Andreas Kaernbach. Es waren deutsche Künstler, und es waren – in Erinnerung an die vier alliierten Mächte, die Deutschlands Neubeginn bestimmten – Künstler aus Frankreich, Großbritannien, den USA und der früheren Sowjetunion.

Die Eingeladenen kamen, sahen und entwarfen. In einem engen Abstimmungsprozess mit dem Kunstbeirat des Parlamentes entstanden Ideen, Vorschläge, Modifikationen – und schließlich die Werke, die an dieser Stelle nur beispielhaft erwähnt werden können.

So etwa das „Archiv der Deutschen Abgeordneten“ des Pariser Künstlers Christian Boltanski im Untergeschoss des Osteingangs. In zwei länglichen Blöcken lagern 5.000 angerostete Metallkästen neben- und übereinander. Wie die Aufschriften mit Namen und Daten und Parteizugehörigkeit zeigen, steht jeder für einen der zwischen 1919 und 1999 demokratisch gewählten Abgeordneten in Reichstag und Bundestag. So entsteht der Eindruck eines „Kellerarchivs“ aus vielen einzelnen engagierten Politikern, die alle gleichermaßen, ob „Hinterbänkler“ oder Prominenter, quasi die demokratische „Grundlage“ bilden, die das aktuelle Geschehen trägt. Schwarze Bänder an manchen Kästen weisen auf ermordete Abgeordnete hin, eine schwarze Box für die Jahre 1933 bis 1945 auf die Zeit, in denen die nationalsozialistische Diktatur demokratisches Leben unmöglich machte.

Lyrik, Leuchtschrift, Labyrinthe

Ein anderes Kunstbeispiel, das schon viele Besucher fasziniert hat, ist die Stahlstele von Jenny Holzer aus New York am Nordeingang. Auf allen vier Seiten ist eine LED-Anzeige angebracht, auf der kontinuierlich eine Leuchtschrift abläuft. Wie die Betrachter schnell merken, handelt es sich jeweils um Reden, die in Reichstag und Bundestag zwischen 1871 und 1999 gehalten worden sind. Zwischenrufe werden durch Aufblinken kenntlich gemacht, so dass auch ein Hauch der Sitzungsatmosphäre wiedergegeben wird. Parallel laufen jeweils vier Reden zum gleichen Thema. Das zeigt, dass es auf jede Frage nicht nur eine Antwort gibt. Die laufenden Buchstaben spiegeln sich in den umgebenden Glasfronten – das hier Gesprochene bleibt, lässt sich dies deuten, nicht ohne Widerhall in der Gesellschaft. Gerade in den Abendstunden tritt das Material der Stele optisch vollständig hinter den Leuchtbuchstaben zurück: Das Reichstagsgebäude scheint also gestützt zu werden von den Reden, die in seinem Inneren gehalten wurden. Die letzte der in dem Kunstwerk enthaltenen 447 Beiträge ist die Eröffnungsrede im Plenum des umgebauten Reichstagsgebäudes von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im April 1999.

Mit großer Intensität sind auch weitere Künstler auf die deutsche (Parlaments-)Geschichte eingegangen. Bernhard Heisig (Brandenburg) etwa liefert in seinem Gemälde für die Cafeteria ein breites historisches Panorama in freier persönlicher Assoziation von der 1848er Revolution über Friedrich den Großen, Bismarck und Hitler bis zu einem kleinen Jungen ganz rechts, der mit seinem rosaroten Flugdrachen das Lied der DDR-Band Puhdys („Geh zu ihr“) illustriert – und damit die Sehnsucht ausdrückt, dass die Irrungen und Wirrungen deutscher Geschichte endlich überwunden sein mögen. Oder Anselm Kiefers lehmfarbenes Gemälde in Anlehnung an Ingeborg Bachmanns Gedichtzeile „nur mit Wind mit Zeit und mit Klang“ für einen Raum in einem der Ecktürme des Reichstagsgebäudes, in dem, so Kaernbach, „eine Art Predigt über die Vergangenheit“ ein sehr übergreifendes Gedenken ausdrückt.

Zu den Kunstwerken, die in den übrigen Bundestagsbauten die Vergangenheit aufgreifen, gehört Franka Hörnschemeyers Gitter-Labyrinth in einem der nördlichen Innenhöfe des Paul-Löbe-Hauses. Was nur verspielt scheint, nimmt tatsächlich die frühere Bebauung des Spreebogens mit Mauer, Bauten und Hundezwinger der DDR-Grenztruppen auf und verschränkt sie mit dem Grundriss des Paul-Löbe-Hauses – die Verklammerung von Vergangenheit und Gegenwart. In einem anderen Hof lässt Jörg Herold über einen Spiegel das Sonnenlicht über runde Betonscheiben laufen, die verschiedene historische Daten enthalten. Vor allem weniger beachtete Ereignisse treten auf diese Weise immer wieder für kurze Zeit aus dem Dunkel der Vergangenheit hervor.

Fenster zur aktuellen Szene

Ein guter Tipp für alle, die an der Entwicklung des deutschen Parlamentarismus interessiert sind, ist der Deutsche Dom am Berliner Gendarmenmarkt. Auf sechs Etagen beleuchtet der Bundestag hier „Wege, Irrwege, Umwege“. Ein paar Stufen führen zu einer Originalfahne in Schwarz-Rot-Gold aus der Zeit des Hambacher Festes 1832 herunter. Daneben gibt es viele weitere Informationen über den deutschen Frühparlamentarismus.

Eine Etage höher steht unter anderem die Wahlurne des ersten Deutschen Bundestages mit den Wappen der damals existierenden westlichen Bundesländer. Hier geht es auch darum, wie das parlamentarische System funktioniert. Historische Reden im Bundestag können über die weiteren Etagen des Domes hinweg verfolgt werden, auf denen sich die Ausstellung um den Parlamentarismus im kaiserlichen Deutschland und in der Weimarer Republik, um den NS-Staat und das Scheinparlament in der DDR, um Frauen in der Politik, die europäische Integration und die interparlamentarische Zusammenarbeit drehen. In der Kuppel des Domes steht schließlich eine Reihe von Modellen, zum Beispiel vom ersten Umbau-Entwurf Fosters für den Reichstag, von Speers „Halle des Volkes“ oder des Reichstages und seiner Umgebung im Jahr 1894.

Nicht zu vergessen ist der Verein der ehemaligen Abgeordneten, die „Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments“. Darin haben sich rund zwei Drittel der gut tausend früheren Parlamentarier organisiert. Er dient nicht nur dem Zusammenhalt der Ausgeschiedenen. Er vermittelt auch ihre wertvolle Erfahrung in die politische Bildung, an Universitätsseminare und nicht zuletzt an die aktuellen Abgeordneten selbst und fungiert so als Reservoir des persönlichen Erinnerns für das kollektive Gedächtnis der Demokratie. „Wer nicht mehr in die Fraktionsdisziplin eingebunden ist, kann die Dinge nüchterner und gelassener sehen“, schildert der Geschäftsführer, Nils Diederich. Dazu gehört oft auch eine kritische Betrachtung der eigenen Politik. Für viele ist mit dem Ende des Mandates das politische Leben nicht zu Ende; sie machen sich auf vielen Ebenen nützlich.

Im September öffnet der Bundestag im Rahmen seines Kunstkonzeptes zudem ein Fenster zur aktuellen Kunstszene – durch Ausstellungen im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus. Bei der Premiere zeigt Herlinde Koelbl ihre Werke. Darunter auch die „Spuren der Macht“ – in den Porträts prominenter Parlamentarier. Also auch eine Art Auseinandersetzung mit Geschichte.

Text: Gregor Mayntz
Fotos: studio kohlmeier
Erschienen am 29. Juni 2005


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