Es war am Ende des Budapester Halbmarathons im September 2002. Wir trabten auf brennenden Sohlen unter einem Himmel voller Hitze die letzten Meter zum Ziel im Stadtwäldchen. Angefeuert von den Einwohnern der Stadt, die offensichtlich auch gerade nichts Besseres zu tun hatten. Nett war, dass der Sprecher jeden Eintreffenden mit Namen begrüßte. Und als ich ihn rufen hörte: Detlev Lücke, Berlinröl, was aus Berlin heißt, wurden mir die letzten Schritte leichter und die Brust breiter.
Noch viel netter jedoch war, dass den ausländischen Teilnehmern ein erholsamer Aufenthalt im Széchenyi-Bad spendiert wurde. Dort lagen wir den Nachmittag über und entspannten unsere müden Muskeln im herrlich temperierten Wasser. Der Blick ging auf das efeuumwachsende Haupthaus mit den kupfernen Dachtürmen, auf die Steinfiguren im Jugendstil des 1913 eingeweihten Bades, das von György Cziegler und Ede Dvorszak errichtet wurde. Zeit und Raum schienen eins zu werden, um uns herum tummelten sich Familien im Freibad, alte Frauen beaufsichtigten ihre Enkel, Liebespaare küssten sich ungeniert. Das Wasser schien belebende Wirkung auf alles zu haben.
Das Széchenyibad ist nur eines von mehreren dieser Art in der ungarischen Hauptstadt. Es erhält sein Wasser aus einer Quelle, die sich unter dem benachbarten Heldenplatz befindet. 1878 stieg dort zum ersten Mal das 74 Grad Celsius heiße Heilwasser aus einem, in fast 1.000 Meter Tiefe liegenden, Brunnen. Bis heute hat das Bad sich weitgehend seine ursprüngliche Form erhalten. Noch immer gibt es zahlreiche Fenster von Miksá Roth, einem der bedeutendsten Kunsthandwerker der Bleiverglasung des 20. Jahrhunderts. Unvorstellbar, dass hier ein Eventmanager ein so genanntes Spaßbad installieren könnte. Man würde ihm zu Ehren das Wasser vermutlich auf 100 Grad erhitzen.
Der 1982 verstorbene Schriftsteller Franz Fühmann hat in seinem Ungarntagebuch "Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens", das Anfang der 70er-Jahre im Rostocker Hinstorff-Verlag erschien, einen Besuch im Heißwasserbad beschrieben: "Dampf wallt, Schweiß dünstet, Dunst dampft, wellende Wolken, schaukelnde Lichter, vorübergleitende Leiber, Keuchen und Tosen, Säulen erscheinen wie Schemen, Grotten, Höhlen, Stufen hinab und hinan und Becken mit Köpfen und flatternden Händen, der Boden ist glitschig, die Stufen sind schlüpfrig, die Wände sind salbig, du rutschst und faßt an Holz und greifst einen Riegel, und knarrend geht eine Tür auf und du erstarrst: Da sitzen, in kochender trockener Luft, um ihren Fürsten Álmos geschart, die Hetumoger..."
Was Fühmann in die Tiefen der Mythologie um die Helden der ungarischen Landnahme geraten lässt, kann durch die entsprechende Stimmung im Dampfbad leicht geschehen. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt in den Labyrinthen der heißen Quellen. Wer zur Quelle will, muss rückwärts gehen, sagt Gerhart Hauptmann. Wer sich einmal die Mischung aus trägem Dahindämmern und anregenden Kreislaufbelebungen gegönnt hat, wird auch Fühmanns Erinnerung verstehen: "Voriges Jahr hier auf dem Sonnendach tagaus tagein die endlosen Diskussionen über Moral und Literatur, über Homer und die Moderne, über Lukács und Anna Seghers, Thomas Mann, Henry Miller, Camus, die neuen russischen Namen, Semantik und Spieltheorie. József und Freud, Füst, Madách, Ady, Wittgenstein. Mir liegen solche Gespräche im großen Kreis gar nicht, da aber machte ich mit, und man sah beim Debattieren Berge und Wolken, und das Wasser war nah." Das Wasser, in das man bei Bedarf ja auch abtauchen kann, wenn Gespräche allzu wässrig werden.
Fast alle dieser Bäder stammen aus der Türkenzeit. Sie heißen Gellért, Király, Lukács, Rác und Rudas. Viele von ihnen liegen auf der bergigen Budaer Seite der Hauptstadt. Während es für Touristen fast ein Muss ist, sie aufzusuchen, kommen die Einheimischen erst in fortgeschrittenem Alter dorthin, in der Hoffnung auf Heilung manch arthritischer und rheumatischer Beschwerden. Die heißen Quellen, auf deren Heilkraft sie hoffen, sind den sich unter der Stadt hinziehenden geologischen Bruchlinien zu verdanken. Zum größten Teil sind es so genannte Karstquellen, die sich in den Spaltensystemen der Tiefenschichten mit höherer Temperatur bilden. Es dürfte keine weitere Großstadt in der Welt geben, in der so viele Quellen sprudeln. Der Schatz an Thermalwasser schuf auch das ungewöhnliche Höhlensystem für die Hauptstadt, das, so kann man sich vorstellen, in den 60er-Jahren beim Bau der Metro in großer Tiefe eine nicht zu unterschätzende "Risikoquelle" war.
Budapest ist dank dieser günstigen geologischen Begebenheiten, die übrigens das gesamte Karpatenbecken umfassen, weswegen es in ganz Ungarn Thermalbäder gibt, die Hauptstadt der Welt, die über die meisten Thermalbrunnen verfügt. Selbst im Palatinus auf der Margaretheninsel mit seinem quirligen Wellenbad gibt es ein ausgedehntes Becken voll warmem, schwefelhaltigem Wasser, in dem man entspannt dahindämmern kann. Wenn man dem Direktor des Budapester Tourismusamtes trauen darf, und warum sollte man es nicht tun, dann gibt es in seiner Heimatstadt 120 Thermalquellen, zwölf Heilbäder, die täglich von rund 30.000 Kubikmeter Thermalwasser aus der Tiefe gespeist werden. Man muss sie ja nicht alle auf einmal besuchen, zumal die Eintrittspreise nicht gerade gering sind. Aber erschwinglich sind sie allemal
Die frühesten Bäder stammen aus der Römerzeit. Auf dem Gebiet der heutigen Stadt gab es 19 dieser Art. Im Stadtteil Óbuda (Altbuda) wurden besonders gut erhaltene Bäder an jener Stelle gefunden, wo sich ehemals die römische Stadt Aquincum befand. Als die Türken im 15. Jahrhundert die Stadt eroberten, führten sie ihre Badekultur ein, von der sich im Rác, Rudas-, Császár- und Kíraly-Bad viel erhalten hat. In den drei erstgenannten kann der Gast im selben Gebäude und im gleichen Wasser baden wie die einstigen Eroberer. Die so genannten Hamams (auf einer Wärmequelle gebaute Bäder) beziehungsweise Ilidzs (Schwitzbäder) sind die nördlichsten Zeugen der hochentwickelten türkischen Badekultur. Und von einer Kultur muss man in diesem Fall reden.
Angesichts der vielen, auch modernen Anlagen, der zahlreichen, künstlich gebohrten Tiefbrunnen fragt man sich, warum die Stadt eigentlich nicht Bad Budapest heißt. Aber vielleicht hat die Hauptstadt Angst, ihren Metropolencharakter zu verlieren und allzu beschaulich zu werden. Solche Furcht scheint mehr als unbegründet zu sein. Ungeachtet dessen haben die heilenden Wasser der Budapester Bäder zahlreiche Indikationen. Sie helfen bei Abnutzungserscheinungen von Wirbelsäule und Gelenken, bei Gelenkentzündungen, Gicht, Rheuma, Nervenentzündungen, Hüftgelenksversteifung, Wirbelsäulenverkrümmung, Bandscheibenvorfall, Kreislauferkrankungen, Herzbeschwerden, Frauenleiden, Asthma, Zahnschmerzen und Schlaflosigkeit. Haben wir etwas vergessen?
Was die Schlaflosigkeit betrifft, gerieten wir nach dem Halbmarathon im milden Wasser des Széchenyi-Bades in eine entspannte Schläfrigkeit, die wirklich alle Strapazen des Laufes vergessen ließ und uns sogar kräftemäßig in die Lage versetzte, bei einem nachfolgenden abendlichen Programm in einer schönen Csárda mit noch schöneren Zigeunerinnen zu tanzen.
Detlev Lücke ist Leitender Redakteur der Wochenzeitung "Das Parlament".