Das klotzige Gebäude, eine Orgie in Beton, stammt aus der Zeit des Realsozialismus. Im Kontrast dazu stehen am Eingang zwei überdimensionale Campbell's Suppendosen. Sie wirken ein wenig deplaziert, verleihen aber dem einheitlichen Grau in Grau immerhin Farbe. Der Verputz der Plattenbauten nebenan blättert ab, das Einkaufszentrum hat den Charme eines drittklassigen Basars, das Hotel in der Nähe wirkt verwahrlost.
In dem Karpatenort Medzilaborce, im Nordosten der Slowakei, gehören viele der 6.000 Seelen der ruthenischen Minderheit an. Hierher, wo es außer der mild-modellierten Landschaft nichts zu besichtigen gibt, pilgern dennoch jährlich etwa 15.000 Touristen. Denn in dieser hintersten Ecke der Slowakei hat man zwei Fenster zum Rest der Welt. Das eine ist ein Fernsehapparat. Und das andere ist Andy Warhol. In der abgelegenen, ein wenig trostlos anmutenden Region liegen die familiären Wurzeln der Popart-Ikone. Suppendosen weisen den Weg zu seinem Museum.
Dass das Popidol etwas mit ihrer Gegend zu tun hatte, wussten die Slowaken selbst lange nicht. Zwar ist "Andrejko", wie der Künstler von Weltruhm hier liebevoll genannt wird, 1928 im fernen Pittsburgh auf die Welt gekommen. Aber seine Eltern, die nach dem Ersten Weltkrieg, wie so viele ihrer Landsleute, aus der bitterarmen Slowakei in die USA ausgewandert waren, stammten aus dem nur 15 Kilometer entfernten Dörfchen Mikova - einem heute aussterbenden Weiler mit kaum 200 Einwohnern. Dort ist fast jeder dritte Alteingesessene mit der Familie Varchola - dem eigentlichen Namen Warhols - irgendwie verwandt. Auch Ex-Bürgermeister Michal Zavacky. Als Andys Cousin mütterlicherseits nach dem Umbruch 1989 erfuhr, wie berühmt sein Vetter war, wollte er an Ort und Stelle ein Andy-Warhol-Museum errichten. Dafür plante Zavacky sogar den Wiederaufbau des mittlerweile abgerissenen Häuschens von Julia und Ondrej, den Eltern Andy Warhols. Dazu kam es nicht. Heute stehen an dieser Stelle nur noch ein Brunnen und ein alter Birnbaum.
Zum Erinnerungstempel an den berühmten Landsmann wurde statt dessen vor 15 Jahren die in der Ära des Realsozialismus begonnene Neubauruine des Kulturzentrums in nahen Medzilaborce auserkoren. Mit Hilfe der Warhol-Stiftung in fernen Pittsburgh, die von zwei Brüdern des Künstlers verwaltet wird, fanden 42 Originalwerke den weiten Weg in den Osten der Slowakei. Es sind zwar nicht die besten Arbeiten des Factory-Meisters, aber immerhin. Ausgerechnet in der postkommunistischen Slowakei hängen da Siebdrucke wie "Hammer und Sichel", aber auch der "Rote Lenin". Die Einheimischen finden die Blumen und Kühe aus "Andrejkos" Massenproduktion viel schöner.
Was es allerdings nirgendwo sonst auf der Welt zu bestaunen gibt, sind die Reliquien: In den Vitrinen liegen fein säuberlich aufgereiht das Taufkleidchen, Warhols Brille, sein Walkman, ein Sakko und ein paar vergilbte Fotos aus dem Familienalbum. Was zu diesem Heiligenschrein wohl der Oberguru der Werkstatt für Kunst und Chaos sagen würde? Die Sippschaft im nahen Dörfchen Mikova kann allerdings mit diesen persönlichen Utensilien viel mehr anfangen als mit den Werken des Künstlers. Auf "die Städter" in Medzila-borce, die ihnen "ihren" Andrejko gestohlen haben, sind die Bewohner von Mikova dennoch sauer. Nichten fünften Grades sticken im Dörfchen die Motive des prominenten Anverwandten nach. Die in Medzi-laborce können doch nicht wissen, was Michal Zavacky weiß: dass nämlich die Bilder seines exzentrischen Vetters "genauso einfallsreich sind, wie die Varcholas überhaupt - nur ein bisschen fremd".
Ein wenig fremd ist für Außenstehende wohl die gesamte slowakische Kultur. "Ein bisschen rückwärtsgewandt", gehe es in der Kunst schon zu, sagt auch das 25-jährige Popidol Jana Kirschner, die mit ihren Songs mühelos die Hitparaden erstürmt. Die bildhübsche Liedermacherin ist auch hinter den eng gesteckten (Kunst-) Grenzen ein Star: ihre Konzert-Tourneen sind in der Tschechischen Republik regelmäßig ausverkauft - nicht nur der Verwandtschaft der beiden Sprachen wegen. Seit der Unabhängigkeit der Slowakei ist das Volk immer noch auf der Suche nach eigener Identität. Kultur und Kunst ringen um eine eigene Fasson. Der seit 1993 souveräne Staat ist noch zu jung.
Die Zugehörigkeit des Landes zu Groß-Ungarn erlaubte es erst Mitte des 19. Jahrhunderts, auf der Basis eines mittelslowakischen Dialekts eine Schriftsprache zu schaffen. So fristet bis heute auch die Literatur ein Schattendasein. Werke slowakischer Schriftsteller werden kaum in fremde Sprachen übersetzt - bis auf Ausnahmen wie die Bücher des vor zehn Jahren verstorbenen Ladislav Mnacko. Mit seinem 1968 herausgekommenen Roman "Wie die Macht schmeckt" zeichnete der Literat eine bittere Kritik der damaligen Kommunistischen Partei, die ihn dafür aus ihren Reihen ausschloss und ins Exil trieb. Heute bemüht sich immerhin der Kulturverein Matica slovenska um junge Talente. Der etwas nationalistisch angehauchte Verband hat sich bereits seit 1853 der Pflege und Erhaltung slowakischer Kultur und Sprache verschrieben. Jährlich findet ein Wettbewerb für Prosa- und Poesie-Werke junger Menschen zwischen 18 und 35 Jahren statt.
Dabei hat auch das bisherige Staatsoberhaupt Rudolf Schuster literarische Ambitionen. Der deutschstämmige Politiker hat sich vor kurzem das erste Mal nicht als Präsident, sondern als Schriftsteller dem tschechischen Publikum präsentiert. Nur wenige wissen, dass der slowakische Staatsmann zur Kategorie der äußerst fleißigen Autoren gehört. Er hat weit über 30 Bücher, einige Dramen und Hörspiele verfasst. Böse Zungen behaupten, Schuster wähne sich ähnlich talentiert wie der tschechische Dramatiker und Ex-Präsident Vaclav Havel. Als Rudolf Schuster Mitte Februar in Ceske Budejovice (Budweis) die Slowakischen Kulturtage eröffnete, ließ er eine leise Kritik an seinem Land anklingen: "Wer mit meiner Politik nicht einverstanden ist, der lehnt auch meine literarische Arbeit ab. Wer meine Politik gut findet, der lobt mich in den Himmel", milderte der 70-Jährige die zu lang geratene Laudatio ab, die zwei mitgebrachte Wissenschaftler der Universität Nitra vorher dem staunenden Publikum hielten. Zum Schluss bot der slowakische Präsident dem tschechischen Fernsehen eine seiner filmischen Reisedokumentationen umsonst an - mit dem Hinweis, das slowakische Fernsehen lehne die Sendung ab.
Wäre Rudolf Schuster nicht der erste Bürger seines Landes, hätte diese Bitte um mediale Nachbarschaftshilfe auch nichts Außergewöhnliches an sich. Denn bereits während des fast 75-jährigen Zusammenlebens in der Tschechoslowakei haben sich die slowakischen Künstler aller Couleur immer stark auf ihre tschechischen Kollegen bezogen. Die Hauptstadt Prag galt - und gilt heute noch - als das Tor zur Welt. Viele Kulturschaffende aus der Slowakei leben seit der Teilung des gemeinsamen Staates 1993 in der tschechischen Metropole. So wie zum Beispiel der "Fellini des Ostens", Filmregiseur Juraj Jakubisko. Umgekehrt haben nur wenige Tschechen ihren Wohnsitz in die Slowakei verlegt: Das berühmteste Beispiel ist der surrealistische Dichter und Philosoph Egon Bondy, der aus Protest gegen die Teilung der Tschechoslowakei an die Donau zog. Heute macht der Exzentriker zusammen mit dem hervorragenden Orchester "Pozon Sentimental" in Bratislava herrlich schräge Musik.
Der reichen musikalischen Tradition Böhmens mit Namen wie Janacek, Dvorak oder Smetana hat die slowakische Musikgeschichte wenig entgegen zu setzen. Es überwiegen folkloristisch geprägte Weisen, bei denen zum Teil der Einfluss der Zigeunermusik unüberhörbar ist. Dennoch pilgern seit Jahren sogar aus dem 60 Kilometer entfernten Wien busweise Besucher in die Staatsoper nach Bratislava, um Verdi oder Rossini zu hören. Das Arrangement mit Hin- und Rücktransport, Abendessen und Eintritt kostet keine 60 Euro - weniger als der durchschnittliche Preis eines Opernbesuchs in Wien. Die Aufführungen haben durchaus hohes musikalisches Niveau. Stars "made in Slovakia" haben Weltkarrieren gemacht: Die Operndiva Edita Gruberova und der Tenor Peter Dvorsky sind die Bekanntesten. Die beiden haben ihre ersten Erfolge in der Slowakei gefeiert, leben allerdings heute auch nicht mehr in der Heimat. Ihre Gagen könnte sich keine dortige Bühne leisten. Überhaupt scheitert letztlich alles am Geldmangel. Juraj Carny zum Beispiel betreibt in Bratislava die Galerie Priestor (Raum). Als er vor fünf Jahren den Ausstellungsbetrieb nach westlichem Muster einrichten wollte, musste er feststellen, dass es nicht genug zahlungsfähige Kunden gab. Jetzt vermittelt er ausländische Künstler in die slowakische Hauptstadt und umgekehrt Einheimische in die weite Welt - zumindest ein Stück notwendiger Aufklärungsarbeit. Selbst der Kulturminister der Slowakei kann sich wegen des leeren Staatssäckels nicht leisten, wovon er träumt: den Bau einer Kunsthalle für Gegenwartskunst in der Hauptstadt. Um Austausch zwischen den Kunstschaffenden aus den "alten" und den neuen EU-Ländern zu ermöglichen, wurde in Wien die "Plattform Kultur Mitteleuropa" gegründet.
Neben der Kultstätte für Andy Warhol hat die Provinz noch ein Unikum zu bieten. In Kosice gibt es seit 1992 das Theater Romathan, die erste Bühne in Europa, die professionell von Künstlern der Roma-Minderheit betrieben wird. Ihre Aufführungen konnte man in Budapest, Prag, Paris, Wien oder München sehen. Wenn die begeisterten Schauspieler, Sänger, Tänzer und Dramatiker den erwünschten Zuschuss von 3,5 Millionen Kronen (86.300 Euro) bekommen, wollen sie sich eine mobile Bühne bauen - in Eigenarbeit.