Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 21-22 / 17.05.2004
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Klaus Hänsch

Die Völkervertretung erhält neue Rechte und einen neuen Rang

Die Rolle des EP nach der Verfassung

Das Europäische Parlament wird zum Gesetzgeber der Europäischen Union. Bisher ist das nur die Ausnahme, künftig ist es die Regel. "Das Europäische Parlament wird gemeinsam mit dem Ministerrat als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus." Einen vergleichbaren Satz sucht man in den geltenden Verträgen vergeblich. Er markiert einen Quantensprung für die parlamentarische Demokratie auf Unionsebene. Das Verfahren der Mitentscheidung, durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam nur für 35 Fälle vorgesehen, gilt künftig für 84 der 110 Rechtsgrundlagen der EU-Gesetzgebung. Sie umfasst auch die Agrarpolitik, die Asyl- und Einwanderungspolitik und die Gesetzgebung in der Innen- und Rechtspolitik.

Das Europäische Parlament "teilt" sich die Gesetzgebungsrechte mit dem Rat. Das ist kein Defizit, sondern eine notwendige Konsequenz daraus, dass die Gesetzgebung in einer "Union der Bürger und der Staaten" anders legitimiert werden muss als im Nationalstaat - und sei er ein Bundesstaat. In einer solchen Union braucht jedes europäische Gesetz nicht nur eine Mehrheit im Europäischen Parlament, in dem die Bürger direkt vertreten sind, sondern auch eine Mehrheit der Mitgliedstaaten, die durch ihre Regierungen im Rat vertreten werden. Diese doppelte Legitimationsbasis muss unausweichlich Folgen haben sowohl für den Zuschnitt, die Einsetzung und die Befugnisse der EU-Institutionen als auch für ihr Zusammenwirken bei der Erfüllung der legislativen und exekutiven Aufgaben der Union. Die Europäische Union ist kein Staat, also kann parlamentarische Demokratie auf ihrer Ebene auch nicht nach der Blaupause nationaler Demokratien funktionieren. Für die Union und ihr Parlament müssen andere Kriterien gelten. Nur an ihnen lassen sich Defizite erkennen und bemessen.

Für die gemeinsame Gesetzgebungsbefugnis von Parlament und Rat gilt der bekannte Grundsatz "keine Regel ohne Ausnahme". Aber nicht alle Ausnahmen sollten zum parlamentarischen Defizit aufgeblasen werden. Ganz gewiss dann nicht, wenn ein Gesetz allein durch das Parlament beschlossen werden kann, und auch nicht, wenn es gegen die Mehrheit des Parlaments nicht zustande kommen kann. In diese Kategorie lassen sich zehn von den 26 Fällen des "Besonderen Gesetzgebungsverfahrens" in der Verfassung einordnen: das jährliche Haushaltsgesetz, zum Beispiel, bei dem das Europäische Parlament das letzte Wort über den gesamten Haushalt künftig sogar einschließlich der Agrarausgaben hat, auch das Statut der Abgeordneten, das Statut des Bürgerbeauftragten sowie die Modalitäten für das Untersuchungsrecht des Parlaments - alles so genannte "Parlamentsgesetze", über die das Europäische Parlament mit Zustimmung des Rates allein entscheidet. Andererseits gehören auch die drei quasi-konstitutionellen Gesetze in diese Kategorie, wie die Festlegung der Obergrenze für die Eigeneinnahmen, die Rechte der Unionsbürger sowie die Grundsätze des einheitlichen Wahlverfahrens. Sie werden vom Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments beschlossen und die nationalen Parlamente ratifizieren sie. Ein parlamentarisches Defizit entsteht dadurch nicht.

Allerdings bleiben 16 Rechtsgrundlagen, bei denen der Rat ermächtigt ist, Gesetze ohne Zustimmung des Europäischen Parlaments zu beschließen. Zum Teil sind es Gesetze am Rande des Rangs von Verordnungen. Das ist legislativ von geringer Bedeutung. Parallele Fälle gibt es auch in einigen EU-Mitgliedstaaten. Zum anderen Teil handelt es sich um politisch bedeutsame Gesetzgebung. Das kommt daher, dass es schon in den Verfassungsberatungen im Konvent nicht gelang, die Einstimmigkeit im Rat völlig abzuschaffen. Das Vereinigte Königreich und Irland sowie einige Beitrittsländer haben das bei der Steuerharmonisierung verhindert, Deutschland beim Familienrecht und beim Zugang zum nationalen Arbeitsmarkt für Drittstaatler, andere in anderen Bereichen. Da im "normalen" Gesetzgebungsverfahren im Rat mit Mehrheit entschieden wird, sind diese Fälle in den Bereich der "Ratsgesetze" gerutscht, bei denen das Parlament nur konsultiert wird.

Neue Mitentscheidungsrechte

Einerseits sind diese Ausnahmen tatsächlich ein blinder Fleck in der Gesetzgebungsbefugnis des Parlaments. Das Europäische Parlament hat im Konvent dafür gekämpft, dass die Zahl der Ausnahmen nicht nur so gering wie möglich gehalten wird und dass sie in einem vereinfachten Verfahren zur Änderung der Verfassung in die Mehrheitsentscheidung und damit in das normale Gesetzgebungsverfahren überführt werden, und auch dafür, dass sie so kurzlebig wie möglich bleiben. Das ist die zentrale Bedeutung der in Artikel I-24 Absatz 4 vorgesehenen Passerelle aus der Sicht des Parlaments.

Andererseits erhält das Parlament Mitentscheidungsrechte, wo ihm bisher jeder mitgestaltende Einfluss verweigert wurde. An der Gesetzgebung auf der Grundlage von Artikel I-17 (heute Art. 308 EGV), der es der Union erlaubt, tätig zu werden, um eines der Ziele der Verfassung zu verwirklichen, obgleich es eine konkrete Rechtsgrundlage dafür nicht gibt, war das Parlament bisher nur durch Konsultation beteiligt. Künftig ist seine Zustimmung erforderlich. Bisher bestimmte der Rat allein die Art und Weise der Durchführung der EU-Gesetze. Diese Macht muss er künftig mit dem EP teilen. Das Parlament entscheidet gleichberechtigt über die Gesetzgebung zur Festlegung der Modalitäten für die Kontrolle der Durchführungsakte der Union mit. Die EU-Exekutive setzt sich ihre Regeln nicht länger selbst, das gehört zu den großen Durchbrüchen des Verfassungsentwurfs. Damit werden Kontrollbefugnisse des Parlaments gegenüber der EU-Exekutive erheblich gestärkt. Es bestimmt künftig mit, nach welchen Regeln und wieweit die Kommission und wieweit in Sonderfällen der Rat verbindliche Durchführungsakte erlassen können. Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer werden durch Europäisches Gesetz festgelegt. Das Parlament wacht darüber, wie die Kommission die ihr übertragene Rechtsetzungsbefugnis ausübt. Es kann die Übertragung gemeinsam mit dem Rat widerrufen oder allein (wie auch der Rat) das In-Kraft-Treten von delegierten Verordnungen der Kommission durch Einspruch verhindern.

Die Kommission behält das Initiativmonopol in der Gesetzgebung. Nachdem im institutionellen Dreieck das Parlament wie der Rat durch die Verfassung gestärkt werden, gibt es der Kommission das notwendige Gewicht, um das Gleichgewicht zwischen drei Entscheidungsorganen der Union aufrecht zu halten. Daher hat das Europäische Parlament die Erlangung des vollen Initiativrechts nicht zu einem seiner Essentials gemacht. Es hat sich bewusst damit begnügt, dass der Verfassungsentwurf das Recht des Parlaments, die Kommission zu einer Gesetzesinitiative aufzufordern, verbessert und dem Rat gleichstellt. Dass das Parlament kein volles Initiativrecht erhält, ist kein Mangel, sondern Tribut an die Besonderheiten des institutionellen Systems einer Staaten-Union. In diesem System gewinnt das Parlament allerdings bestimmenden Einfluss auf die Einsetzung der europäischen Exekutive. "Das Europäische Parlament wählt den Präsidenten der Europäischen Kommission." Und es setzt die gesamte EU-Kommission durch ein Vertrauensvotum ins Amt. Der Europäische Rat macht seinen Vorschlag für das Amt des Präsidenten der Kommission "unter Berücksichtigung der Wahlen zum EP und im Anschluss an entsprechende Konsultationen" (Artikel I-26). Und er muss, wenn sein Kandidat im Parlament nicht die absolute Mehrheit erhält, binnen einem Monat einen neuen Vorschlag machen. Damit wird die im Vertrag von Nizza vorgesehene "Bestätigung" des vom Europäischen Rat designierten Kommissionspräsidenten durch das Parlament zu einer echten Wahl. Und die Bürgerinnen und Bürger haben die Chance, mit ihrem Stimmzettel unmittelbaren Einfluss auf die Personalentscheidung für eines der Spitzenämter in der Union zu nehmen.

Die Verfassung verschafft dem Europäischen Parlament nicht nur neue Rechte, sondern auch einen neuen Rang. Dem muss es seine Arbeitsweise, seine Arbeitsabläufe und sein Verhalten anpassen. Denn es wird ihn nur beanspruchen können, wenn es zeigt, dass mit seinen Rechten auch seine Verantwortlichkeit gewachsen ist.

Klaus Hänsch MdEP ist Präsident des Europäischen Parlaments a. D.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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