Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 43 / 24.10.2005
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Kai Nitschke

Oft gefordert - nie gewollt

Zur Debatte über ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages

Das Grundgesetz sollte der Bundesrepublik eine größtmögliche politische Stabilität garantieren. Deshalb verzichtete der Parlamentarische Rat auf ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages. Im Ergebnis stärkte dies den Kanzler und schwächte das Parlament. Abgeordnete aller Fraktionen forderten deshalb immer wieder eine Reform. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts und der Konstituierung des neuen Bundestages ist die Debatte wieder entbrannt.

Es erscheint notwendig, die Möglichkeit der vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode vorzusehen, um durch Neuwahlen eine neue Mehrheitsbildung im Parlament herbeizuführen", so der Appell der Abgeordneten. Eine solche Befugnis sollte das alleinige Recht des Parlaments sein und nicht der Regierung oder dem Bundespräsidenten zustehen, forderten parteiübergreifend die Mitglieder der vom Bundestag im Jahr 1972 eingesetzten ersten Kommission zur Reform des Grundgesetzes.

Doch im Plenum fand dieser Antrag keine Mehrheit. Ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages gefährde die politische Stabilität, argumentierten die Reformgegner und verwiesen auf die Weimarer Republik. Damit war der erste parlamentarische Anlauf, ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages im Grundgesetz zu verankern, gescheitert. Zahlreiche weitere Reformversuche sollten folgen, doch ebenfalls ergebnislos bleiben.

Als ein Argument der Gegner dienen stets die negativen Erfahrungen mit der großen politischen Instabilität während der Weimarer Republik. Dabei war der Weimarer Reichsverfassung (WRV) ein parlamentarisches Selbstauflösungsrecht genauso fremd wie dem Grundgesetz. Die Reichsverfassung enthielt jedoch zahlreiche andere Möglichkeiten der vorzeitigen Parlamentsauflösung: So war in Artikel 54 WRV die Möglichkeit eines "destruktiven Misstrauensvotums" verankert: Dies bedeutete, dass das Parlament jedem einzelnen Minister und auch dem Reichskanzler jederzeit das Misstrauen aussprechen konnte, wenn sich dafür eine Mehrheit fand. Die jeweiligen Personen mussten dann zurücktreten, ohne dass gleichzeitig ein neuer Fachminister oder ein neuer Kanzler gewählt wurde.

Im Ergebnis führte dies dazu, dass sich häufig negative Mehrheiten zur Abwahl eines Regierungsmitgliedes fanden, aber keine positiven Mehrheiten für die Wahl eines neuen Kandidaten. Als Konsequenz daraus enthält das Grundgesetz in Artikel 67 das so genannte konstruktive Misstrauensvotum: Nach dieser Regelung ist die Abwahl des Bundeskanzlers nur möglich, wenn sich das Parlament gleichzeitig mehrheitlich auf einen Nachfolger einigen kann. Die Abwahl einzelner Fachminister durch das Parlament ist dem Grundgesetz sogar völlig fremd.

Zudem setzt das Grundgesetz auch dem Auflösungsrecht des Staatsoberhauptes enge Grenzen: Der Bundespräsident kann gemäß Artikel 68 Grundgesetz nur auf Initiative des Kanzlers und nach einem entsprechenden Beschluss des Bundestages das Parlament auflösen. Dies war in der Weimarer Republik noch völlig anders: Zwar konnte der Reichspräsident gemäß Artikel 25 Absatz 1 WRV das Parlament nur einmal aus dem gleichen Anlass auflösen, inhaltlich war er jedoch völlig frei und an keine Initiative eines anderen Verfassungsorgans gebunden.

Im Ergebnis bestanden somit während der Weimarer Republik wesentlich mehr Auflösungsmöglichkeiten als nach der heutigen Verfassungslage. Zudem erlaubte die Reichsverfassung ein Regieren auch ohne parlamentarische Mehrheit durch Rechtsverordnungen. Die Summe dieser Regelungen führte dann dazu, dass zwischen 1920 und 1931 alle sieben gewählten Reichstage vorzeitig aufgelöst wurden. Allein vier Mal machte der Reichspräsident von seinem Auflösungsrecht nach Artikel 25 Absatz 1 WRV Gebrauch.

"Dies waren die entscheidenden Gründe, dass der Parlamentarische Rat bei der Entstehung des Grundgesetzes auf eine größtmögliche Kontinuität des Parlaments setzte", sagt der Staatsrechtler Professor Christian Pestalozza. Er fordert, wie schon die Enquete-Kommission im Jahr 1972, ein Selbstauflösungsrecht in das Grundgesetz zu integrieren.

Bei allen Befürwortern eines Selbstauflösungsrechts herrscht allerdings Einigkeit, dass diese Möglichkeit an hohe Hürden gekoppelt werden soll: So fordert Pestalozza, dass bereits der Antrag auf Selbstauflösung von einer Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Bun-destages gestellt werden muss. Die Selbstauflösung selber will er dann davon abhängig machen, dass zwei Drittel oder sogar drei Viertel der Abgeordneten zustimmen. Die Pläne der Enquete-Kommission sahen vor, dass sich der Bundestag auf Antrag eines Viertel seiner Mitglieder mit einer Mehrheit von zwei Drittel der Abgeordneten selbst auflösen kann.

Trotz dieser hohen Hürden gelang es Anfang der 70er-Jahre nicht, eine Mehrheit der Parlamentarier vom Selbstauflösungsrecht des Bundestages zu überzeugen und die Diskussion begann erst wieder neu, als der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) im Jahr 1983 die Vertrauensfrage stellte, mit dem Ziel, so zu Neuwahlen zu kommen. Kohl wollte so der unter seiner Führung neu gebildeten Koalition von CDU/CSU und FDP die seiner Meinung nach notwendige demokratische Legitimation verschaffen. Ähnlich wie bei der von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) inszenierten Vertrauensfrage gab es bereits im Jahr 1983 heftige Kritik am Verfahren. Auf die Klage mehrerer Bundestagsabgeordneter zweifelten auch drei Karlsruher Verfassungsrichter, darunter der damalige Vizepräsident des Gerichts Wolfgang Zeidler, öffentlich an der Rechtmäßigkeit der fingierten Vertrauensfrage: "Wenn der Mehrheitskanzler die Vertrauensfrage jedoch nach Absprache mit der ihn tragenden Parteienkoalition mit dem Ziel stellt, ihm das Vertrauen zu verweigern, dann missbraucht er die ihm nach Artikel 68 Grundgesetz zustehenden Befugnisse", schrieb der Verfassungsrichter Joachim Rottmann in seinem Votum und bescheinigte der damaligen Bundesregierung ein rechtswidriges Verhalten.

Die knappe Mehrheit der Verfassungsrichter beurteilte die Vertrauensfrage gemäß Artikel 68 Grundgesetz jedoch anders: Der Bundeskanzler habe eine "Einschätzungs- und Beurteilungskompetenz, ob seine Gestaltungsmöglichkeiten bei den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen im Rahmen des parlamentarischen Regierungssystems erschöpft sind", urteilten fünf von acht der Karlsruher Richter. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) erreichte so die von ihm angestrebten Neuwahlen, die er gemeinsam mit der FDP auch gewann. Doch ein fader Beigeschmack blieb, auch wenn die Diskussion um ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages schnell wieder einschlief.

Neue Dynamik kam in die Debatte nach der Wiedervereinigung: Bereits im Vertrag zur Deutschen Einheit hatten die damaligen Vertreter von DDR und Bundesrepublik beschlossen, innerhalb von zwei Jahren nach der Wiedervereinigung eine neue Verfassungskommission einzusetzen. Diese Kommission aus Mitgliedern des Bundestages und der 16 Landesregierungen nahm im Januar 1992 unter dem Vorsitz des Bundestagsabgeordneten und Juraprofessors Rupert Scholz (CDU) sowie des damaligen Hamburger Bürgermeisters und gelernten Notars Henning Voscherau (SPD) seine Arbeit auf. Auch ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages war sehr schnell ein Thema im Ausschuss und die SPD-Mitglieder beantragten, folgende Regelung ins Grundgesetz zu integrieren: "Auf Antrag eines Drittels seiner Mitglieder kann der Bundestag mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder beschließen, die Wahlperiode vorzeitig zu beenden. Zwischen dem Antrag und der Abstimmung müssen 72 Stunden liegen."

Nachdem die PDS-Mitglieder des Ausschusses einen wesentlichen umfangreicheren Antrag zur Änderung des Grundgesetzes zurückgezogen hatten, herrschte in der Verfassungskommission zunächst Einigkeit, den SPD-Vorschlag zu unterstützen. Doch bei der Endabstimmung votierten lediglich 21 Mitglieder dafür, 15 dagegen und drei enthielten sich. Zu wenig, um eine Verfassungsänderung durchzusetzen, denn dafür hatte die Kommission zu Beginn ihrer Beratungen eine Zwei-Drittel-Mehrheit vereinbart.

Ein wesentliches Argument der Gegner des SPD-Vorschlages war, dass danach weder der Kanzler noch der Bundespräsident irgendeinen Einfluss auf das Auflösungsverfahren hätten. Im Ergebnis würde dadurch die starke Stellung des Kanzlers und die Regelung des konstruktiven Misstrauensvotum in Artikel 67 Grundgesetz untergraben, denn durch die Selbstauflösung des Parlaments stürze auch der Regierungschef samt seiner Minister, ohne dass das Parlament sich auf einen Nachfolger verständigt habe.

Im Ergebnis beendete auch die zweite Verfassungsreformkommission ihre Arbeit, ohne dass ein Selbstauflösungsrecht in das Grundgesetz integriert wurde. Die Kommission wirkte aber als Anschub für entsprechende Verfassungsänderungen in den einzigen beiden Bundesländern, in denen es zum damaligen Zeitpunkt noch kein Selbstauflösungsrecht gab. So können sich auch in Bremen und Baden-Württemberg seit 1994 beziehungsweise 1995 die Landtage selbst auflösen. Voraussetzung ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit, wie auch in den meisten anderen Bundesländern.

Auf der Bundesebene lebte die Debatte jedoch erst wieder auf, als Gerhard Schröder (SPD) nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen einen eleganten Weg suchte, um den Bundestag aufzulösen. Wieder gab es - über alle Parteigrenzen hinweg - heftige Kritik am Verfahren und Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht. Dieses bestätigte zwar das Vorgehen des Bundeskanzlers und den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum, äußerte aber auch deutlichen Unmut: "Diese Form der Parlamentsauflösung ist kaum kontrollierbar", sagte der Verfassungsrichter Rudolf Mellinghoff in der mündlichen Verhandlung und der zuständige Berichterstatter Professor Udo di Fabio zeigte sich angesichts des Streits über das angeblich verloren gegangene Vertrauen in die Arbeit des Bundeskanzlers offen ratlos: "Sollen wir etwa in eine Beweisaufnahme eintreten?"

Führende Politiker von SPD und CDU/CSU forderten deshalb direkt nach dem Urteil des Verfassungsgerichts, dass der neue Bundestag jetzt endlich ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments beschließen müsse. Die für eine Grundgesetzänderung notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat ist für die Große Koalition dabei jedenfalls kein Problem.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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