Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 12-13 / 15.03.2004
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Josef-Thomas Göller

200 Jahre Chaos und kein Ende in Sicht auf der Perle der Antillen

Haiti bietet Lehren im Nord-Süd-Konflikt

Wenn die traumhafte Tropen-Sonne blutrot am westlichen Horizont ins violette Meer taucht und sich die warme Nacht über die Antillen senkt, ist es stets eine "Nacht der langen Messer", und die Nachfolger der "Tonton Macoutes" verüben mit ihren Macheten im Blutrausch Morde am eigenen Volk - auf Geheiß des Diktators, welchen Namen er auch immer trägt. Dies ist seit mehr als 200 Jahren die bittere Realität im Karibikstaat Haiti - eigentlich ein einziges Naturparadies mit traumhaften Stränden und bizzaren Bergen.

Die 7,5 Millionen Einwohner, davon fast die Hälfte unter 14 Jahren, zählen seit eh und je zum Armenhaus der westlichen Hemisphäre. Wer kann, verlässt seit auf waghalsigen Flößen diesen Alptraum, treibt über den Golf von Mexico nach Florida, dem "gelobten Land", wo neben den Hispano-Flüchtlingen von der Nachbarinsel Kuba ganze Orte das haitianische Creol-Französisch sprechen.

Das ist der eigentliche Grund der Intervention Washingtons am 29. Februar. Es ging Präsident George W. Bush mit seiner Blitzaktion darum, ein Massenabschlachten in den Straßen der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince zu verhindern, damit nicht eine unkontrollierbare Flüchtlingswelle, vom Fernsehen dramatisiert, im Wahlkampf auf die USA zuschwimmt.

Abgesegnet vom UN-Sicherheitsrat, landeten die USA in Haiti rund 2.000 Marines, unterstützt von der französischen Fremdenlegion und kanadischen Einheiten, um einem drohenden Chaos vorzubeugen. Der bisherige Präsident Jean Bertrand Aristide und seine Familie wurden hastig mit einer amerikanischen Militärmaschine evakuiert und in die Zentralafrikanische Republik geflogen, wenige Stunden, bevor die gegen ihn meuternden Banden - in der Presse fälschlich "Rebellen" genannt - seinen Palast stürmen und ihn umbringen konnten.

Der seit Jahren zunehmend realitätsfern gewordene "Präsident" Aristide spricht heute von einer "Entführung", einem "amerikanischen Komplott". Was er verschweigt, ist, dass die USA nicht unilateral das arme Haiti "überfallen" haben, sondern auf Weisung der UNO und mit Unterstützung Frankreichs und Kanadas dem absehbaren Blutrausch in Haiti vorbeugten. Mehr nicht. Die insgesamt 2.500 Mann starke trinationale Friedenssicherung kann wahrlich nicht als "Okkupations-Armee" hingestellt werden. Das war schon eher 1994 der Fall, als der damalige Präsident Bill Clinton eben genau diesem Aristide mit 20.000 Marines wieder zur Macht verholfen hatte und zwei Jahre lang zur sogenannten "nation building" dort stationierte. Der Ex-Marxist und Ex-Priester Aristide war 1990 in der einzigen je halbwegs demokratisch anmutenden Wahl des Landes zum Präsidenten gewählt worden. Ein Jahr später putschte sein Sicherheitschef gegen ihn, und Aristide floh ins USA-Exil. Vor allem schwarze Bürgerrechtler innerhalb der Demokraten drängten Clinton damals zum Handeln.

Es war nicht die erste Invasion der USA in Haiti, aber, wie schon in der Vergangenheit, im Ergebnis genauso erfolglos. Haiti liegt im westlichen Drittel der einstigen Insel Hispaniola, die von Christoph Columbus auf seiner ersten Fahrt im Jahr 1492 entdeckt wurde. 1697 trat Spanien Haiti an Frankreich ab. Die französischen Kolonialherren nannten ihren neuen Besitz "Perle der Antillen" und holten rund eine halbe Million Sklaven aus Afrika. 1791 begann der Sklavenführer François Dominique Toussaint L'Ouverture den Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich. Der größte Sklavenaufstand der Geschichte besiegte nicht nur die Franzosen, sondern auch ein britisches Heer, das versuchte, aus der Niederlage Frankreichs Kapital zu schlagen. L'Ouverture, der an Demokratie und Gleichheit aller Menschen glaubte, wurde von den Franzosen bei Friedensverhandlungen in eine Falle gelockt und ging in einem Verließ der französischen Alpen zugrunde. Seinem Mitstreiter Jean-Jaques Dessalines gelang es 1804, Haiti endlich in die Unabhängigkeit zu führen, jedoch teilte er L'Ouvertures demokratische Ideen nicht und erklärte sich zum General-Gouverneur auf Lebenszeit. Zwei Jahre später war diese zu Ende. Ein Rivale hatte ihn ermordet. Dieses Muster - Diktator und Attentate - setzt sich bis zur Gegenwart fort. Es gab seither 33 haitianische Diktatoren.

Es wären mehr, hätten die USA dieses blutige Treiben nicht von 1915 bis 1934 unterbrochen. Präsident Woodrow Wilson sandte 1915 die Marines nach Haiti, nachdem sieben Jahre hintereinander gegen sieben haitianische "Präsidenten" geputscht worden war. Die Amerikaner bauten rund 2.000 Kilometer Straßen, 210 Brücken, neun Flugplätze, verlegten Telefonleitungen, zogen Abwässerkanäle, bauten moderne Krankenhäuser und Schulen und rückten 1934 wieder ab, in der Hoffnung, alle Grundlagen für einen stabilen Staat gelegt zu haben. François Duvalier mit dem Beinamen "Papa Doc" riss sich jedoch das Land unter den Nagel, gefolgt von seinem Sohn "Baby Doc", der 1986 unter Druck Reagans außer Landes floh und so den Weg freigab für Wahlen. Papa und Baby Doc regierten das Land mit dem Terror ihrer Todesschwadronen, den Tonton Macoutes, auf Creolisch "Schreckgespenster".

Genau mit dieser Methode, durch angeheuerte Mörderbanden, verschaffte sich Jean Bertrand Aristide nach der Wiedereinsetzung durch die USA im Jahr 1994 Respekt im eigenen Land und trieb es erneut in die Anarchie. Eine im Jahr 2000 durchgeführte Scheinwahl mit einer Wahlbeteiligung von fünf Prozent wurde selbst von der sonst großzügigen Organisation Amerikanischer Staaten als Betrug gebrandmarkt.

Doch als er einen unbequem gewordenen Anführer einer seiner Todesschwadronen ermorden ließ, wandten sie sich gegen den Chef, nannten sich selbst "Rebellen" und marschierten auf die Hauptstadt.

Nach Aristides Flucht - oder wie er jetzt im Exil behauptet "Entführung" - ernannte sich der Bandenchef Guy Philippe zum Regierungschef. Doch zwei Stunden später beendete ein Oberst der Marines diesen Spuk. Diesmal bringen die Amerikaner keine Pioniere zum Brückenbau und Ärzte für Krankenhäuser. Das Geld für Übersee-Einsätze ist in Washington knapp geworden. Auch fragt sich die Bush-Regierung, in welches Loch sie vergeblich Geld schmeißen soll - genauso wie Frankreich und Kanada, von denen die Haitianer keinen Cent erwarten können.

Nur - auf diese Weise schmoren inzwischen schon all zu lange sämtliche Konflikte in der Region: In Kolumbien herrscht der längste Bürgerkrieg der Welt, seit 1957. Mindestens 1.000 so genannte amerikanische Militärberater versuchen seit Bill Clintons "Krieg gegen Drogen" 1993, die kolumbianischen Drogenkartelle zu zerschlagen. Der Autokrat Hugo Chavez in Venezuela zündelt am Öl-Hahn seines Landes und stänkert gegen die USA. Der letzte Kommunist Lateinamerikas, Fidel Castro, produziert - trotz oder wegen des sturen Boykotts der USA - seit mehr als 40 Jahren Tausende von Flüchtlingen jährlich, die Miami in ein Ersatz-Kuba verwandelt haben. Auch in den Andenstaaten brodelt es: In Bolivien stürzten kürzlich Indianer ihren Präsidenten. Dort ist der Anbau von Coca offiziell erlaubt. Peru bleibt nach Fujimoris Sturz im Jahr 2000 ebenfalls anfällig für Drogenanbau und -handel. Ecuador ist bankrott und hat den US-Dollar als Landeswährung übernommen. Der Gigant Brasilien sieht sich außerstande, die durch extreme Armut hervorgerufene Anarchie in den Großstädten zu bekämpfen, geschweige denn unzugängliche Grenzgebiete zu kontrollieren. Frank J. Gaffney, Präsident des Zentrums für Sicherheitspolitik in Washington, wies kürzlich darauf hin, dass sich im Dreieck Brasilien, Paraguay und Argentinien islamische Terroristen mittels Bestechungsgelder Verstecke und Trainingslager erkaufen.

Alle weltwirtschaftlichen Strukturen der Neuzeit - insbesondere die Pseudo-Kredithilfen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds - haben Lateinamerika und die Karibik in eine dramatische Schuldenkrise gestürzt. Schon Anfang der 70er-Jahre sprach der uruguayische Journalist Eduardo Galeano von den "offenen Adern Lateinamerikas". Das jüngste Beispiel Haiti sollte für Washington und Europa ein Weckruf sein: dass "nation building" nicht mit der Entsendung von ein paar Kompanien Fallschirmjäger und ein paar Millonen Dollar Startgeld funktioniert. Weder in Lateinamerika, noch in Afrika oder Asien.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.