Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 12-13 / 15.03.2004
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Jutta Witte

Gift gleich neben der Rollbahn?

Hessen: Neuer Zündstoff wegen Flughafenausbau in Frankfurt

Politisch ist der Ausbau des Frankfurter Flughafens im Nordwesten des jetzigen Areals längst beschlossene Sache. Der Erfolg des ehrgeizigen Projektes, das die Flugbewegungen am größten Flughafen Kontinentaleuropas auf 660.000 im Jahr erhöhen und der Rhein-Main-Region rund 95.000 neue Arbeitsplätze bringen soll, ist in diesen Tagen jedoch alles andere als selbstverständlich. 2007 will die Flughafenbetreiberin Fraport die neue Landebahn in Betrieb nehmen. Der geplanten Piste jedoch steht ein als Störfallbetrieb eingestuftes Chemieunternehmen im Weg. Notfalls will Hessens Ministerpräsident Roland Koch die zur Celanese AG gehörende Ticona enteignen.

Unter den 1.000 Ticona-Mitarbeitern, die im Schnitt bereits 15 Jahre für den Kelsterbacher Chemiebetrieb arbeiten, herrscht Nervosität. Im Falle einer Verlagerung, sagt ihr Betriebsratsvorsitzender Axel Weidner, gingen diese Arbeitsplätze für Westeuropa verloren. Die Ticona ist auf Technische Kunststoffe spezialisiert, wie sie vor allem in der Automobilproduktion verwandt werden. Im Werk lagern unter- und oberirdisch hochgiftige Chemikalien.

Das Gefahrenpotential ist nach Ansicht der Gutachter, die im Auftrag des hessischen Wirtschaftsministeriums das Risiko analysiert haben, enorm. Um eine Katastrophe auf dem Werksgelände mit seinem Borfluoridlager und seiner Ethylenverdichterstation auszulösen würde es ausreichen, wenn eine Flugzeugtragfläche eine Produktionskolonne streifen würde, erklärt Jürgen Farsbotter vom Rheinisch-Westfälischen TÜV in Essen. Wie sein Kollege vom TÜV Pfalz, Helmut Spangenberger, spricht Farsbotter von einem "Dominoeffekt": Sollte es zu einer Explosion in der Hauptproduktionsanlage kommen, rechnen beide Experten mit dem Totalverlust des Werkes.

"Ernste Gefahren" sieht Farsbotter auch für den Umkreis des Werksgeländes. Die ausströmenden Giftgase würden im Radius von einem Kilometer Menschenleben bedrohen. Also entweder Ticona oder Landebahn: für die Störfallkommission, die am 18. Februar ihr Votum abgeben hat, gibt es keinen Zweifel, dass beides unvereinbar ist. Nach Angaben ihres Vorsitzenden Christian Jochum würde die neue Bahn 700 Meter entfernt vom Gelände des Betriebs verlaufen, die Flugzeuge in 60 bis 100 Metern Höhe über die Ticona oder an ihr vorbei fliegen.

Das Risiko eines durch einen Flugzeugabsturz ausgelösten Störfalls läge bei einem Fall in 25.000 Jahren. Weit mehr als 100 Tote allein auf dem Werksgelände wären die Folge. "Nach internationalen Standards ist ein solches Risiko nicht akzeptabel", betont der Chemieprofessor. Dass es in der Bundesrepublik bislang keine gesetzlichen Vorgaben für ein noch hinnehmbares Risiko gibt, macht die Debatte um die Ticona in seinen Augen zu einem "schwerwiegenden Präzedenzfall".

Die letzte Entscheidung über den Bau der Bahn beziehungsweise eine Verlagerung der Ticona liege nun beim Land Hessen, sagt Jochum. Während nach Einschätzung des Fraktionsgeschäftsführers der Grünen, Frank Kaufmann, die Nordwestvariante nach der Entscheidung der Störfallexperten keiner rechtlichen Prüfung Stand halten wird, halten Ministerpräsident Roland Koch und die CDU-Landeregierung am eingeschlagenen Weg fest. "Sollte bei der Realisierung das Ticona-Problem nicht durch geeignete Umbaumaßnahmen zu lösen sein", ließ der Regierungschef unmissverständlich wissen, "dann steht im Planfeststellungsverfahren selbstverständlich auch die Schließung des Werkes als letzte Möglichkeit zur Verfügung."

Für eine Enteignung allerdings liegen die juristischen Hürden zu hoch, schätzt man bei Celanese, weil es zur Nordwestvariante eine Alternative im Nordosten des Flughafens gebe. Das Werk stehe nicht zur Disposition. "Kelsterbach ist der wichtigste europäische Ticona-Standort, unverzichtbar für die Zukunftsfähigkeit des Geschäftes", betont der Celanese-Vorstand. "Es wird Zeit, dass Ticona sich etwas kooperativer zeigt", kontert der wirtschaftpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Clemens Reif. Man müsse sich fragen, ob Ticona von Sicherheit spreche, aber tatsächlich Entschädigung meine.

Einen Schadensersatzanspruch von bis zu 1,3 Millionen Euro soll Ticona beziffert haben. Um viel Geld geht es auch bei der Fraport. 3,3 Milliarden Euro investiert das Unternehmen in den Flughafenausbau. Einen dreistelligen Millionenbetrag koste die Verzögerung des Ausbaus pro Jahr, sollte die neue Landebahn nicht wie geplant 2007 in Betrieb gehen, warnt nun der Fraport-Vorstandsvorsitzende Wilhelm Bender. Dennoch sieht das Unternehmen "für eine öffentliche Variantendiskussion keinen Anlass". Votum und Begründung der Störfallkommission wolle man nun "eingehend wissenschaftlich überprüfen".

Unterdessen werfen die Sozialdemokraten, die, wie auch die Liberalen, den Ausbau des Rhein-Main-Flughafens stets befürwortet haben, der Landesregierung vor, das Thema Ticona verschlafen zu haben. Fraktionschef Jürgen Walter fürchtet wegen des zu erwartenden Rechtsstreits eine "jahrelange Verzögerung" des Ausbaus. "Allein mit Enteignungsdrohungen" sei das Thema nicht in den Griff zu bekommen. Überdies hält die SPD den hessischen Wirtschaftsminister, der gleichzeitig Chef der Planfeststellungsbehörde ist, für "überfordert".

Aloys Rhiel hatte noch während der Anhörung der Gutachter im Landtag das prognostizierte Risiko als "verantwortbar" bezeichnet. In einer späteren juristischen Auseinandersetzung um den Flughafenausbau könne diese "politische Dummheit" noch eine Rolle spielen, glauben nicht nur die Sozialdemokraten. Auch der verkehrspolitische Sprecher der FDP, Michael Denzin, findet, Rhiel habe nicht "die notwendige Zurückhaltung" geübt. Hessen könne es sich nicht leisten, die Genehmigung für den Flughafenausbau aufs Spiel zu setzen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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