In den Augen der Menschen sind Parlamente vor allem der Ort streitbarer Diskussionen zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen, die zur Annahme oder Ablehnung von Gesetzen führen. Unter dieser Fixierung auf die Gesetzgebungskompetenz leidet das Europäische Parlament (EP) seit seinem Entstehen am 10. September 1952, als es unverbindliche Beratungs- und einige Kontrollrechte vorweisen konnte.
Aber diese zählen weniger für die Bürger, weil in westlichen Demokratien Regierungen normalerweise durch ihre Parlamentsmehrheit vor harten Kontrollen geschützt werden. Auch als De Gaulle die Kompetenzen des französischen Parlaments regelrecht amputierte, ihm aber die Gesetzgebungskompetenz beließ, wurden die stärkeren Rechte des EP weiter ignoriert, weil die magische Richtnorm Gesetzgebungskompetenz nicht erfüllt war.
Unbeachtet blieb, dass die Parlamente der EU-Mitgliedstaaten, z.B. der Deutsche Bundestag, ihre Kompetenzen in nationalen Verfassungen als Geschenk des Volkes vorfanden. Das EP musste dagegen seine Kompetenzen Stück für Stück von den Regierungen der Mitgliedstaaten erkämpfen. Besonders mühsam war der Weg bei der Gesetzgebung, aber seit dem Vertrag von Maastricht ist sein Mitentscheidungsrecht parallel zur Zunahme der Mehrheitsentscheidungen im Rat beschleunigt ausgeweitet worden. Mit dem In-Krafttreten der europäischen Verfassung dürfte das EP auf allen EU-Gesetzgebungsfeldern gleichberechtigt zum Rat Gesetzgeber sein.
Wer vorschnell schlussfolgert, Mitentscheidungen bedeuteten eben nicht alleinige Gesetzgebungsgewalt, ignoriert die komplexe Wirklichkeit unserer Demokratien. Kein Parlament ist in der Gesetzgebung omnipotent. Eine 2. Kammer - in Deutschland die Länderkammer Bundesrat - muss immer oder oft ebenfalls zustimmen. Um das vom Parlament beschlossene Gesetz in Kraft zu setzen, bedarf es der Ausfertigung durch das Staatsoberhaupt, was der Präsident der Republik Italien kürzlich ablehnte. Auch können Verfassungsgerichte bereits geltende Gesetze wieder annullieren, wie es dem deutschen Zuwanderungsgesetz 2003 widerfahren ist. Dieser Logik folgend üben das EP und der Rat gemeinsam die Gesetzgebungskompetenz der EU aus und der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) kann EU-Rechtsnormen für ungültig erklären
Auch sind weitere Verfahrensbeteiligte zu beachten. Die meisten Gesetzentwürfe werden Parlamenten von ihren Regierungen vorgelegt, weil Regierungsprogramme umgesetzt werden sollen und weil die Ministerialbürokratie über handwerkliche und wissenschaftliche Erfahrungen sowie Fakten und Statistiken verfügt. Je komplexer unsere Gesellschaften geworden sind, um so seltener werden Gesetzesvorlagen "aus der Mitte des Hauses", etwa von der Opposition, eingebracht. Werden sie von Regierungsfraktionen vorgelegt, entstehen sie regelmäßig in den sachlich zuständigen Ministerien. Der in diesem Zusammenhang oft gehörte Vorwurf, das EP verfüge über kein Recht zur Gesetzesinitiative, übersieht oder verschweigt, dass sowohl dem EP wie dem Rat grundsätzlich kein Initiativrecht zusteht.
Die Völkerkammer Europäisches Parlament und die Staatenkammer Rat sind folglich in gleichem Maße schlechter gestellt als der Bundestag und der Bundesrat. Das EP und der Rat müssen beide die Europäische Kommission auffordern, initiativ zu werden, denn diese verfügt über ein Initiativmonopol. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, kann allein die Europä-ische Kommission Gesetzesvorschläge einbringen, was sich aus dem noch nicht abgeschlossenen Aufbau der EU erklärt. Zwar haben sich deren staatsähnlichen Aufgaben inzwischen vervielfältigt, aber sie ist trotzdem noch kein (Bundes)Staat. Da die Europäische Kommission einerseits Motor der europäischen Integration, aber andererseits Hüterin des erreichten Integrationsstandes zu sein hat, gibt sie oft weder dem Drängen des EP noch des Rates nach, weil sie die Integration weder forcieren noch reduzieren will.
Interessen maximal durchsetzen
Schon als es anfänglich nur über Beratungsrechte verfügte, machte das EP aus seiner Not eine Tugend, in dem es den Gesetzesvorschlägen der Kommission die Qualität und Überzeugungskraft seiner Argumente gegenüberstellte und sie zur Änderung ihrer Vorschläge zwang. So erreichte das EP beispielsweise im Umweltrecht viel, weil die Abgeordneten auf diesem neuen Feld besser informiert und stärker engagiert waren als die von der nationalen Ministerialbürokratie beratenen Minister. Die Kommission hat den verständlichen Ehrgeiz, ihre Vorschläge möglichst ungeschoren durch das Parlament und den Rat zu bringen, in dem sie beiden Organen in Details und in Formulierungen entgegen kommt. Davon lassen sich weder der Rat noch das EP beeindrucken, sondern versuchen, ihre Interessen maximal durchzusetzen, bis dann nach der zweiten Lesung in direkter Konfrontation ein Kompromiss angestrebt wird. Bei diesem Show down gelingt es den Abgeordneten mit ihren Argumenten häufig, Minister einzelner Mitgliedstaaten zu überzeugen, so dass auf der Ratsseite die zur Ablehnung des geänderten Vorschlages erforderliche Einstimmigkeit nicht mehr erreicht werden kann.
Da die Abgeordneten des EP noch keine europäische Regierung zu stützen oder zu bekämpfen haben, sondern mit großer Mehrheit der europäischen Integration verschrieben sind, kommen sie ihrer Aufgabe als Gesetzgeber weniger ideologisch, sondern eher sachbezogener nach. Bei 25 Mitgliedstaaten können die irgendwo immer stattfindenden nationalen Wahlen für sie kein Orientierungspunkt sein. Diese Neutralität gegenüber nationalen oder regionalen Interessen vermindert die ohnehin geringe Unterstützung durch ihre nationalen oder europäischen Parteien. So weitgehend auf sich allein gestellt, streben sie nachhaltige Fortschritte im Interesse aller EU-Bürger an. Da die Entscheidungen Veränderungen bedeuten, lösen sie nicht nur Zustimmung, sondern auch Widerstände in Wirtschaft und Gesellschaft aus, was ihnen sehr viel geduldige Überzeugungsarbeit abverlangt.
Um das EP für seine Mehrfronten-Kämpfe entscheidungsfähig zu halten, musste eine strikte Diskussions- und Abstimmungsdisziplin durchgesetzt werden, und deshalb bilden die beiden größten EP-Fraktionen seit Jahrzehnten eine stillschweigende große Koalition, die oft von kleineren Fraktionen oder einzelnen Abgeordneten unterstützt wird.
Ohnehin erfordert ihr Arbeitsumfeld ein aufwändigeres Vorgehen als im nationalen Rahmen, denn die Kollegen kommen nunmehr aus 25 verschiedenen Nationalstaaten mit eigener Geschichte, Kultur, Sprache, Identität und oft zersplitterter Parteienlandschaft. Einige möchten die europäische Integration lieber heute als morgen beenden oder wenigstens auf eine Freihandelszone begrenzen. Auch versuchen sowohl eine umfassende national wie europäisch organisierte Lobby auf die Abgeordneten einzuwirken, um einigen Wirtschaftszweigen sachlich nicht gerechtfertigte Privilegien zu erhalten. Deshalb müssen sich die Berichterstatter des EP für die einzelnen Vorlagen in enger Zusammenarbeit mit Fachbeamten des EP um die objektiv beste Lösung der gesetzgeberischen Probleme für die gesamte EU bemühen. Nunmehr scheint übrigens das EP auch an fachliche Beratung von außerhalb des Parlaments zu denken.
Die Aufgabe der europäischen Parlamentarier ist konstruktiver als die der nationalen Parlamentarier, welche einen möglichst großen nationalen Handlungsspielraum bewahren wollen und immer wieder frus-triert erleben müssen, wie dieser durch höherrangiges europäisches Recht eingeengt wird. Während das EP am Entstehen europäischen Rechts unmittelbar beteiligt ist, verbleibt nationalen Parlamenten immer häufiger die Aufgabe, EU-Richtlinien in nationales Recht zu transponieren. Da das Gesetzesziel detailliert vorgegeben ist und lediglich in die unterschiedlichen nationalen Rechtssysteme eingefügt werden muss, unterziehen sich die nationalen Parlamente dieser Aufgabe vielfach widerwillig, weshalb beim EuGH ständig Verfahren wegen verspäteter oder nicht korrekter Umsetzung europäischer Rechtsnormen anhängig sind. So wird das Ansehen nationaler Parlamente beschädigt, und dennoch gibt immer wieder Forderungen, die Parlamente der Mitgliedstaaten zum aktiven Mitgestalter auf der EU-Ebene zu befördern.
Der Autor ist Direktor a. D. und ehemaliger Beamter des Europäischen Parlaments