2004 ist ein ganz besonderes Jahr für Europa: Es ist ein Jahr der Erneuerung. Zehn neue Staaten sind soeben beigetreten und sorgen für frischen Wind. Die Debatte über eine europäische Verfassung, welche Europa mit neuem Leben erfüllen wird, soll in absehbarer Zukunft abgeschlossen sein. Und auch die Wahlen zum Europäischen Parlament sind ein Ereignis wahrhaft kontinentaler Größenordnung, wie Europa es bis dato noch nicht erlebt hat.
Von der Atlantikküste meines Wahlkreises Munster in Irland bis zu den östlichen Grenzen der baltischen Staaten werden die Bürger Europas die Mitglieder des Europäischen Parlaments für dieses neue Europa bestimmen.
Wir müssen im Vorfeld der Europawahlen die Gelegenheit nutzen und eine echte europäische Debatte führen. An Themen herrscht kein Mangel: Die Menschen wollen wissen, wie sich der Wachstums- und Stabilitätspakt auf ihr Leben auswirken wird. Die Debatten über Sicherheitsfragen im Zusammenhang mit grenzübergreifenden Kriminalität beschäftigt sie genauso wie der Handel mit Drogen, Waffen und Menschen; Fragen des Asyls und der Einwanderungspolitik im Allgemeinen oder auch die ständige Abwägung zwischen Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit. Und nicht zuletzt haben sie Sorgen, wie sich das Verhältnis der EU zu den Vereinigten Staaten nach der beunruhigenden Irak-Krise weiterentwickelt.
Am Ende gehen aus diesen Wahlen 732 Abgeordnete hervor, die die Rechtsetzung der EU mitbestimmen, die in vielen Bereichen der Politik den Willen aller 25 Mitgliedstaaten zusammenführen und bündeln wird. Das ist ein mächtiger Einfluss. Ich will eine Debatte führen, die den Menschen sagt, welche Auswirkungen die EU auf ihr Leben hat und die Europa so zu einer Realität macht.
Einige meiner Kollegen befürchten eine niedrigere Wahlbeteiligung bei diesen Europawahlen. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass man die meisten Bürgerinnen und Bürger an die Wahlurnen bekommt, wenn man sie in einer deutlichen Sprache anspricht. Ich will mit den normalen Bürger über Dinge reden, die ihnen wichtig sind. Die meisten Menschen sind zwar keine Euro-Spezialisten. Aber sie stehen dem, was Europa leisten kann, prinzipiell positiv gegenüber. Daher müssen wir deutlich machen: In einer Welt, die mit so vielen Bedrohungen in Bezug auf die Sicherheit konfrontiert ist, liegt ein klarer Vorteil in der Koordination unserer Anstrengungen. Für viele Menschen erscheint die internationale Kriminalität das einzige wirklich grenzenlose Europa - in der Tat eine grenzenfreie Welt. Daher müssen auch wir in Europa in der Lage sein, grenzenlos Verbrechen zu bekämpfen. Statt allein zu handeln ist Europa hier von klarem Vorteil.
Wir haben ebenfalls eine Generation von jungen Menschen, die an Fragen wie Umwelt und Nachhaltigkeit in einem Maß interessiert sind, wie ihre Mütter und Väter das nicht waren. Die grenzüberschreitende Verschmutzung kann nicht dadurch gelöst werden, dass einzelne Länder alleine handeln. Europa kommt in diesem Bereich eine Schrittmacherfunktion zu.
Zu oft und zu leicht lassen die Menschen sich verleiten, zu denken, dass Europa lediglich ein großer Markt für mächtige Unternehmen ist, und dass Europa mit ihnen nichts zu tun hat. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Die Rechtsetzung in unserem Parlament hat viel mehr mit dem Verbraucher zu tun als mit großen Unternehmen. Viele dieser Rechtsvorschriften handeln von Nachhaltigkeit und Umwelt. Bei vielen Gesetzen geht es darum: wie können wir gewährleisten, dass wir in unseren Volkswirtschaften sichere Arbeitsplätze und ein stabiles Wachstum erreichen. Das sind nicht die Anliegen des "big business": das sind die Fragen des alltäglichen Lebens.
Es geht bei der Gesetzgebung im Europäischen Parlament um eine bessere Umwelt und bessere Gesundheitsstandards, einen besseren Verbraucherschutz, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, um Vorteile für die Menschen im grenzenlosen Europa. Lassen Sie mich dies kurz anhand von drei Beispielen anschaulich machen:
Die Geschichte der Telefonzelle in meinem Wahlkreis im Weiler Kilcorney zeigt: Die Europäische Union ist für das Leben der Menschen vor Ort in den ländlichen Gemeinden wichtig. Die Irische Telefongesellschaft Eircom hatte die öffentliche Telefonzelle mit der Begründung entfernt, sie werde nicht benutzt, wogegen sich die lokale Bevölkerung zur Wehr setzte. Die Angelegenheit nahm eine unerwartete Wendung, als sich herausstellte, dass Eircom nach EU-Recht ein universaler Dienstleister ist. Nach einer EU-Richtlinie sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, Sorge dafür zu tragen, dass öffentliche Telefonzellen von den Telefongesellschaften flächendeckend einzurichten sind, um den Bedarf der Benutzer, sowohl mit Blick auf die Zahl als auch die geografische Abdeckung, angemessen zu befriedigen.
Dank dieser Bestimmungen, die auf Druck des Europäischen Parlament in die Richtlinie aufgenommen wurden, konnten hier die Rechte derer geschützt werden, die sich wirtschaftlich oder geografisch im Nachteil befinden. Der öffentliche Fernsprecher wurde wieder aufgestellt.
Auch hohe Umweltstandards liegen den Europaabgeordneten am Herzen. Nach den Europawahlen startet wieder die Urlaubssaison. Viele Deutsche werden die schönste Zeit des Jahres an den Stränden Europas verbringen. Es ist sicher: Die Verbesserung der Qualität unserer Strände ist eine europäische Erfolgsgeschichte. In Irland haben wir 73 Strände mit einer "Blauen Flagge", in Deutschland sind es 225 Strände und Sportboothäfen. Die meisten Auszeichnungen haben wir in den Urlaubshochburgen Spanien, Griechenland und Frankreich. Das bedeutet, dass die Europäischen Urlauber mit ihren Kinder an Stränden wie Es Trenc, Saint Tropez, Cleethorps oder Zinnowitz sicher schwimmen können, in dem Wissen, dass höchste Bade-
gewässerqualität gewährleistet ist.
In den meisten Ländern der EU ist die Zahl der neu verliehenen Blauen Flaggen ständig gestiegen, und in einigen dieser Länder, etwa in Großbritannien, gibt es heute doppelt so viele Strände mit "Blauen Flaggen" wie noch im Jahr 2000 - das bedeutet, dass das Bewusstsein der Menschen in ganz Europa für die Notwendigkeit hoher Umweltstandards gestiegen ist.
2002 führte die Havarie von Öltankern vor den Küsten der EU zu riesigen Katastrophengebieten mit verseuchten Stränden. Tausende Tiere starben qualvoll. Das Europäische Parlament und die Regierungen reagierte sofort: Seit dem Sommer 2003 dürfen einwandige Öltanker, die umweltschädliches Schweröl geladen haben, die Häfen der Europäischen Union nicht mehr anlaufen. Wir haben neue Rechtsvorschriften eingeführt, um möglichst zügig Einhüllentanker aus dem Verkehr zu ziehen und diese durch Tanker mit Doppelhüllen zu ersetzen. Mit dieser Verordnung schaffen wir ein erhebliches Maß an zusätzlicher Sicherheit auf See und in europäischen Gewässern.
Europa bietet den Menschen mehr als freie Märkte oder die Feinheiten der Gemeinsamen Agrarpolitik. Die wahre Bedeutung erhält Europa durch seine gemeinsamen Werte. Sie heißen Solidarität, Zusammenhalt und Demokratie. Auch wenn wir noch mehr tun könnten, so sind die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten doch der größte Geldgeber zur Unterstützung der ärmsten Länder auf der Welt. Wir geben jedes Jahr zweieinhalbmal soviel an Entwicklungshilfe aus wie die Vereinigten Staaten.
Vor allem unsere Werte der pluralistischen Demokratie verleihen Europa eine reale Bedeutung. Sie bilden das Fundament der Europäischen Union. Es war kein Zufall, dass Spanien nach Franco, Portugal nach Salazar, Griechenland nach den Obristen und jetzt die mittel- und osteuropäischen Staaten nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches beigetreten sind. Eine pluralistische Demokratie ist wichtig, sonst kann man der Union der europäischen Staaten und Bürger nicht beitreten.
Ich bin davon überzeugt, dass man die Wahlbeteiligung steigern kann, wenn man klar und deutlich mit den Menschen spricht, wenn man über ein Europa der Werte spricht und über ein Europa, das sich direkt auf ihr Leben auswirkt, und wenn man mit Überzeugung und Leidenschaft spricht. Das ist die Herausforderung bei den Wahlen am 13. Juni!
Der Ire Pat Cox ist Präsident des Europäischen Parlaments.